Predigt zu Amos 5, 21-24 von Matthias Wolfes
5,21
„Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und ob ihr mir gleich Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran; so mag ich auch eure feisten Dankopfer nicht ansehen. Tue nur weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Psalterspiel nicht hören! Es soll aber das Recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.“
Liebe Gemeinde,
in der Version der Lutherübersetzung von 1912 haben die Redakteure unserem Text eine schöne Überschrift vorangestellt: „Der äußerliche Gottesdienst tut’s nicht.“ Hieran schließe ich zunächst meine Gedanken an. Man sollte allerdings im Auge behalten, daß diese Überschriften nicht selbst zum Text gehören, sondern Zugabe der jeweiligen Bearbeiter sind. Die Zwischentitel, wie auch die Gliederung der Absätze und die vielen Verweisstellen, sind nur dazu da, dem Leser zu helfen, sich in der Heiligen Schrift zurechtzufinden.
Im vorliegenden Fall habe ich die Überschrift „schön“ genannt, weil sie mir treffend und sinnvoll und lebensfroh zu sein scheint: „Der äußerliche Gottesdienst tut’s nicht.“ Man könnte auch ein Ausrufezeichen dahintersetzen. Ist es denn aber wirklich eine so einfache Wahrheit? Nun ist uns die biblische Rede vom „inwendigen“ Gottesdienst an sich wohl vertraut. Dennoch läßt sich das Bild präzisieren. Zum Beispiel denke ich daran, daß der Apostel Paulus von einem „vernünftigen Gottesdienst“ spricht, womit er die vollständige Hingabe unserer selbst meint, so daß am Ende das ganze Leben Gott „wohlgefällig“ sei (Röm 12,1; vgl. Jak 1, 27).
Genau diese Forderung erhebt nun auch der Prophet Amos. Zwar ist bei ihm der Rahmen viel weiter. Er greift mit einer sehr umfassenden Geste auf die gesamte religiöse und soziale Ordnung aus. Bei ihm geht es die Gesamtheit der kultischen Einrichtungen, um die Art und Weise, wie die Gemeinde sich zum Gottesdienst versammelt, um die religiösen Inszenierungen im großen Stil. Alles dies lehnt Amos in seiner gegenwärtigen Form schlechterdings ab. Und dann als positives Gegenmodell: Recht und Gerechtigkeit! Das heißt: Die ganze Ordnung Eures Zusammenlebens, auch und vor allem jenseits der gottesdienstlichen Zusammenkünfte, die gesellschaftliche Wirklichkeit, die politische Verfassung, das Staatswesen, die Rechtssprechung, die Sozialordnung: Alles soll nach dem Richtmaß „Recht und Gerechtigkeit“ eingerichtet sein.
Das sind nun in der Tat zentrale prophetische Forderungen. Bei Jesaja heißt es, gleich zu Beginn, ganz ähnlich: „Was soll mir die Menge Eurer Opfer? spricht der HERR. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fetten von den Gemästeten und habe keine Lust zum Blut der Farren, der Lämmer und Böcke. [...] Waschet, reiniget Euch, tut Euer böses Wesen von meinen Augen, laßt ab vom Bösen; lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helfet dem Unterdrückten, schaffet dem Waisen Recht, führet der Witwe Sache“ (Jes 1, 11-17).
Weitere Aussagen dieser Art finden wir bei den Propheten Joel und Jeremia und auch an anderen Stellen. Als zum Beispiel Samuel, der Prophet und Richter aus der israelitischen Frühzeit, dem bald darauf verworfenen König Saul ins Gewissen redet, spricht er: „Meinst Du, daß der HERR Lust habe am Opfer und Brandopfer gleich wie am Gehorsam gegen die Stimme des HERRN? Siehe, Gehorsam ist besser denn Opfer, und Aufmerken besser denn das Fett von Widdern“ (1. Sam 15, 22).
Das alles berechtigt uns, an dieser Stelle, da es um den Bedeutungsraum der Formel „Recht und Gerechtigkeit“ geht, gleichfalls weit auszugreifen: Hier handelt es um eine kosmopolitische Ethik der Gerechtigkeit und der Mitverantwortung für die Menschheit. Der Anspruch ist universal und er behauptet, letztgültig für das Zusammenleben der Menschen untereinander zu sein.
„Recht und Gerechtigkeit“: Das ist eine Formel von unbezweifelbarer Aktualität. Unsere Grundwerte, die elementaren und unverzichtbaren Überzeugungen der modernen westlichen Welt – wir können sie in diesen beiden Begriffen zusammenfassen. Sie bezeichnen, und zwar gerade auch in der Spannung, in der sie zueinander stehen, den zentralen Orientierungspunkt aller Verfassungen und Manifeste der freiheitlichen Welt. Und wenn in der Präambel der allerdings leider vorerst gescheiterten Verfassung der Europäischen Union auf das „geistig-religiöse und sittliche Erbe“ Bezug genommen wird, dann handelt es sich eben auch hier um genau diesen Grundanspruch. Das ganze Zusammenleben der Menschen soll in allen politischen, sozialen, kulturellen und naturhaften Bezügen nach dem Kriterium „Recht und Gerechtigkeit“ ausgerichtet sein. –
Liebe Gemeinde, „tue nur weg von mir das Geplärre deiner Lieder“. Lassen Sie uns die Aufmerksamkeit nun aber auch darauf richten, daß die Worte des Propheten ja uns selbst gelten. Ich möchte es nicht dabei belassen, daß ich allein von der weltumspannenden prophetischen Vision einer universalen Rechtsordnung und Gerechtigkeit spreche. Man kann ja der konkreten Seite einer Aufgabe, einer Forderung oder eines Problems leicht dadurch auszuweichen, daß man es in seinen Betrachtungen möglichst groß macht. Und das soll uns nicht geschehen. Was bedeutet es also für uns selbst, wenn wir die Mahnung ernst nehmen? Angesichts dieser Frage ist der Schritt vom Ganzen zu uns selbst vielleicht doch nicht so schwer. Wir selbst sind ja ein Teil des Ganzen, und mit dem, was wir tun und lassen, nehmen wir Anteil und Einfluß auf das, was geschieht.
Das Wissen um diesen Zusammenhang ist schon selbst eine beherzigenswerte Folgerung aus den prophetischen Worten. Amos macht klar, daß es eben nicht gleichgültig ist, nach welchen Grundsätze wir unser Handeln richten. Es ist immer gut, Beratungen über bestimmte Entscheidungen, die anstehen, in der Weise zu führen, daß man sich überlegt: Wie soll die Welt beschaffen sein, in der wir leben wollen? „In was für einer Welt wollen wir leben?“
Was ich nicht möchte, ist, von der prophetischen Mahnung nach „Recht und Gerechtigkeit“ aus einen christlichen Tugendkatalog zu entwerfen, der sie in das individuelle Handeln umsetzt. Den Schritt dazu muß jeder für sich selbst tun. Das ist die Aufgabe des christlichen Gewissens und Ausdruck der sittlichen Mündigkeit eines jeden von uns. Mir kommt es hier vielmehr darauf an, zu zeigen, daß gerade die Einsicht in die, wenn Sie so wollen, größere Verantwortung meines Handelns durch des Propheten Worte noch einmal neu geweckt werden kann. Es ist objektiv bedeutsam, wie wir leben.
Amos ist eine jener Stimmen, die es klar aussprechen: „Du bist mit Deinem Handeln mitverantwortlich dafür, wie es zugeht. Du, der einzelne Mensch, der sich hineingeworfen sieht in das unermeßliche Getriebe der Welt, hast hier und heute Deine Aufgabe. Nimm Dich ihrer an! Sorge dafür, daß Deine Kräfte nicht nutzlos zerfließen, sondern konzentriere Dich. Übernimm Verantwortung für Dein Leben!“
Für viele ist es dabei eine Hilfe, wenn sie sich vorstellen, daß Gott sie bei ihrem Tun beobachtet, und zwar mit kritischen Blick. Und in der Tat gibt es ja immer wieder Situationen, in denen es sich sehr empfiehlt, Gottes Blick gleichsam auf sich zu ziehen. Wie viel Vergeudung, wie viel sinnloser Aufwand, aber auch wie viel Streit, Mißhelligkeit und Enttäuschung bliebe uns dann erspart. Und wie sehr würden uns im Gegenzug die Kräfte zuwachsen, die wir doch so dringend brauchen. Wir wollen doch auf dem Weg vorankommen. Dessen Ziel aber steht uns bei aller Kläglichkeit unseres Bestrebens klar und unverrückt vor Augen: „Es soll das Recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.“
Amen.
Verwendete Literatur:
Karl Otto Apel: Der Wahrheitsbegriff und die Realität der menschlichen Kultur (2006), in: Ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Band 1985), Berlin 2011, 350-366.
Liebe Gemeinde,
in der Version der Lutherübersetzung von 1912 haben die Redakteure unserem Text eine schöne Überschrift vorangestellt: „Der äußerliche Gottesdienst tut’s nicht.“ Hieran schließe ich zunächst meine Gedanken an. Man sollte allerdings im Auge behalten, daß diese Überschriften nicht selbst zum Text gehören, sondern Zugabe der jeweiligen Bearbeiter sind. Die Zwischentitel, wie auch die Gliederung der Absätze und die vielen Verweisstellen, sind nur dazu da, dem Leser zu helfen, sich in der Heiligen Schrift zurechtzufinden.
Im vorliegenden Fall habe ich die Überschrift „schön“ genannt, weil sie mir treffend und sinnvoll und lebensfroh zu sein scheint: „Der äußerliche Gottesdienst tut’s nicht.“ Man könnte auch ein Ausrufezeichen dahintersetzen. Ist es denn aber wirklich eine so einfache Wahrheit? Nun ist uns die biblische Rede vom „inwendigen“ Gottesdienst an sich wohl vertraut. Dennoch läßt sich das Bild präzisieren. Zum Beispiel denke ich daran, daß der Apostel Paulus von einem „vernünftigen Gottesdienst“ spricht, womit er die vollständige Hingabe unserer selbst meint, so daß am Ende das ganze Leben Gott „wohlgefällig“ sei (Röm 12,1; vgl. Jak 1, 27).
Genau diese Forderung erhebt nun auch der Prophet Amos. Zwar ist bei ihm der Rahmen viel weiter. Er greift mit einer sehr umfassenden Geste auf die gesamte religiöse und soziale Ordnung aus. Bei ihm geht es die Gesamtheit der kultischen Einrichtungen, um die Art und Weise, wie die Gemeinde sich zum Gottesdienst versammelt, um die religiösen Inszenierungen im großen Stil. Alles dies lehnt Amos in seiner gegenwärtigen Form schlechterdings ab. Und dann als positives Gegenmodell: Recht und Gerechtigkeit! Das heißt: Die ganze Ordnung Eures Zusammenlebens, auch und vor allem jenseits der gottesdienstlichen Zusammenkünfte, die gesellschaftliche Wirklichkeit, die politische Verfassung, das Staatswesen, die Rechtssprechung, die Sozialordnung: Alles soll nach dem Richtmaß „Recht und Gerechtigkeit“ eingerichtet sein.
Das sind nun in der Tat zentrale prophetische Forderungen. Bei Jesaja heißt es, gleich zu Beginn, ganz ähnlich: „Was soll mir die Menge Eurer Opfer? spricht der HERR. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fetten von den Gemästeten und habe keine Lust zum Blut der Farren, der Lämmer und Böcke. [...] Waschet, reiniget Euch, tut Euer böses Wesen von meinen Augen, laßt ab vom Bösen; lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helfet dem Unterdrückten, schaffet dem Waisen Recht, führet der Witwe Sache“ (Jes 1, 11-17).
Weitere Aussagen dieser Art finden wir bei den Propheten Joel und Jeremia und auch an anderen Stellen. Als zum Beispiel Samuel, der Prophet und Richter aus der israelitischen Frühzeit, dem bald darauf verworfenen König Saul ins Gewissen redet, spricht er: „Meinst Du, daß der HERR Lust habe am Opfer und Brandopfer gleich wie am Gehorsam gegen die Stimme des HERRN? Siehe, Gehorsam ist besser denn Opfer, und Aufmerken besser denn das Fett von Widdern“ (1. Sam 15, 22).
Das alles berechtigt uns, an dieser Stelle, da es um den Bedeutungsraum der Formel „Recht und Gerechtigkeit“ geht, gleichfalls weit auszugreifen: Hier handelt es um eine kosmopolitische Ethik der Gerechtigkeit und der Mitverantwortung für die Menschheit. Der Anspruch ist universal und er behauptet, letztgültig für das Zusammenleben der Menschen untereinander zu sein.
„Recht und Gerechtigkeit“: Das ist eine Formel von unbezweifelbarer Aktualität. Unsere Grundwerte, die elementaren und unverzichtbaren Überzeugungen der modernen westlichen Welt – wir können sie in diesen beiden Begriffen zusammenfassen. Sie bezeichnen, und zwar gerade auch in der Spannung, in der sie zueinander stehen, den zentralen Orientierungspunkt aller Verfassungen und Manifeste der freiheitlichen Welt. Und wenn in der Präambel der allerdings leider vorerst gescheiterten Verfassung der Europäischen Union auf das „geistig-religiöse und sittliche Erbe“ Bezug genommen wird, dann handelt es sich eben auch hier um genau diesen Grundanspruch. Das ganze Zusammenleben der Menschen soll in allen politischen, sozialen, kulturellen und naturhaften Bezügen nach dem Kriterium „Recht und Gerechtigkeit“ ausgerichtet sein. –
Liebe Gemeinde, „tue nur weg von mir das Geplärre deiner Lieder“. Lassen Sie uns die Aufmerksamkeit nun aber auch darauf richten, daß die Worte des Propheten ja uns selbst gelten. Ich möchte es nicht dabei belassen, daß ich allein von der weltumspannenden prophetischen Vision einer universalen Rechtsordnung und Gerechtigkeit spreche. Man kann ja der konkreten Seite einer Aufgabe, einer Forderung oder eines Problems leicht dadurch auszuweichen, daß man es in seinen Betrachtungen möglichst groß macht. Und das soll uns nicht geschehen. Was bedeutet es also für uns selbst, wenn wir die Mahnung ernst nehmen? Angesichts dieser Frage ist der Schritt vom Ganzen zu uns selbst vielleicht doch nicht so schwer. Wir selbst sind ja ein Teil des Ganzen, und mit dem, was wir tun und lassen, nehmen wir Anteil und Einfluß auf das, was geschieht.
Das Wissen um diesen Zusammenhang ist schon selbst eine beherzigenswerte Folgerung aus den prophetischen Worten. Amos macht klar, daß es eben nicht gleichgültig ist, nach welchen Grundsätze wir unser Handeln richten. Es ist immer gut, Beratungen über bestimmte Entscheidungen, die anstehen, in der Weise zu führen, daß man sich überlegt: Wie soll die Welt beschaffen sein, in der wir leben wollen? „In was für einer Welt wollen wir leben?“
Was ich nicht möchte, ist, von der prophetischen Mahnung nach „Recht und Gerechtigkeit“ aus einen christlichen Tugendkatalog zu entwerfen, der sie in das individuelle Handeln umsetzt. Den Schritt dazu muß jeder für sich selbst tun. Das ist die Aufgabe des christlichen Gewissens und Ausdruck der sittlichen Mündigkeit eines jeden von uns. Mir kommt es hier vielmehr darauf an, zu zeigen, daß gerade die Einsicht in die, wenn Sie so wollen, größere Verantwortung meines Handelns durch des Propheten Worte noch einmal neu geweckt werden kann. Es ist objektiv bedeutsam, wie wir leben.
Amos ist eine jener Stimmen, die es klar aussprechen: „Du bist mit Deinem Handeln mitverantwortlich dafür, wie es zugeht. Du, der einzelne Mensch, der sich hineingeworfen sieht in das unermeßliche Getriebe der Welt, hast hier und heute Deine Aufgabe. Nimm Dich ihrer an! Sorge dafür, daß Deine Kräfte nicht nutzlos zerfließen, sondern konzentriere Dich. Übernimm Verantwortung für Dein Leben!“
Für viele ist es dabei eine Hilfe, wenn sie sich vorstellen, daß Gott sie bei ihrem Tun beobachtet, und zwar mit kritischen Blick. Und in der Tat gibt es ja immer wieder Situationen, in denen es sich sehr empfiehlt, Gottes Blick gleichsam auf sich zu ziehen. Wie viel Vergeudung, wie viel sinnloser Aufwand, aber auch wie viel Streit, Mißhelligkeit und Enttäuschung bliebe uns dann erspart. Und wie sehr würden uns im Gegenzug die Kräfte zuwachsen, die wir doch so dringend brauchen. Wir wollen doch auf dem Weg vorankommen. Dessen Ziel aber steht uns bei aller Kläglichkeit unseres Bestrebens klar und unverrückt vor Augen: „Es soll das Recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.“
Amen.
Verwendete Literatur:
Karl Otto Apel: Der Wahrheitsbegriff und die Realität der menschlichen Kultur (2006), in: Ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Band 1985), Berlin 2011, 350-366.
Perikope