Eine Büttenrede am Faschingssonntag vom närrischen Propheten Amos – Predigt zu 5,21-24 von Axel Denecke
1. Das klingt fast wie eine Büttenrede am Faschingssonntag, was der als Prophet verkleidete Narr Amos da vor fast 2800 Jahren seiner Gemeinde damals und uns heute um die Ohren haut.. Wirklich wie geeignet für diesen Sonntag, auch wenn die schlauen liturgischen Perikopenbastler der Kirche dies so wohl nicht im Sinn hatten.
Ich muss am Anfang –damit es für alle, die den Amos nicht so genau kennen, verständlich wird – kurz auf das merkwürdige Leben des verrückten „Propheten“ Amos selbst blicken. Er ist der älteste der sog. „Schriftpropheten“ des AT, hat so um 750 v. Chr. gelebt. Viel wissen wir von ihm nicht, doch so viel –und da ist sehr wichtig – wissen wir: Er war ein einfacher Mann vom Lande., Maulbeerbaumzüchter, der eigentlich mit Gott und Kirche (also Synagoge damals) wenig im Sinn – salopp gesagt: am Hut – hatte. Kein studierter Gelehrter. Er wollte eigentlich nur in Ruhe seine Maulbeerbäume pflanzen und die Früchte ernten. Doch dann kam auf einmal der Ruf Gottes an ihn, er sollte in der damaligen Metropole Bethel, wo das Zentralheilgtum war und der strenge König Jerobeam sein Wesen trieb, gegen das Treiben im Tempel. Gegen das flotte und verschwenderische Leben des König und sämtlicher Priesterschaft weissagen, ihnen allen also die Leviten lesen. Er sträubte sich natürlich zunächst: „Kann ich gar nicht. Bin doch nur ein einfacher Viehhirt und ziehe Maulbeerfeigen, damit hab ich genug zu tun. Bin ein Mann vom lande, ganz ungebildet. Was soll ich in Bethel, wie soll ich dem König und dem Oberpriester Amazja, da standhalten?“ Also im Grunde war der gute Amos ein No-Men, ein Nichts, ein dahergelaufener Narr, der auf einmal in die große Arena treten und allen die Leviten lesen soll. Wie auch andere Propheten (z. B. der Jeremia) sträubt er sich zunächst dagegen und will nicht. Und doch soll er dann, muss er dann, kann nicht anders. denn Gott ist für ihn so bedrängend, dass er sich dem nicht mehr entziehen kann.
Und so tritt er auf, dieser Narr, dieser Prophet, dieser närrische Prophet, dieser prophetische Narr und hält seine Reden, immer darauf vertrauend, der Geist Gottes spricht aus ihm. „Ihr fetten Basanskühe“, so nennt er z.B. die edlen Damen bei Hofe. Und weiter: „Wehe den Sorglosen in Zion…, den Vornehmen…, den Herren des Hauses Israel…, die ihr auf Elfenbeinbetten liegt, ausgestreckt auf euren Lagern…, die da trinken den feinsten Wein…, aber sich nicht kümmern um den Schaden Josephs. Darum schwört nun der Herr bei sich selbst: Sie alle sollen voran in die Verbannung wandern, und es vergeht der Jubel derer, die auf den Lagern sich strecken“. Ha, wenn das keine närrische Büttenrede ist. Ich könnte fast das ganze Amos-Buch vorlesen, ist ist voll von diesen Narreteien. Amos, kann, will, darf nicht anders.
2. Und so ist auch unser heutige Predigttext zu verstehen. Im Namen Gottes sagt er. „Ich; euer Gott, hasse eure Feste und mag nicht riechen Feiertage. Hinweg von mir mit dem Geplärr deiner Lieder. Das Spiel deiner Harfen mag ich nicht hören“. Also, das ist stark. Da feiern die frommen Israeliten im zentralen Heiligtum in Bethel (also vergleichbar etwa mit dem Kölner Dom oder dem Hamburger Michel) einer feierlichen Gottesdienst, liturgisch einwandfrei, pompös in allen Lagen, große Prozessionen, große Brandopfer /von Tieren und Feldfrüchten), alles korrekt, wie es der liturgische Anstand empfiehlt, der Oberpriester Amazja gibt auch noch seinen Segen dazu – und dann das. Gott wendet sich ab, nein nicht nur das, er spuckt es aus „Ich mag das nicht riechen – es stinkt gen Himmel“. All das sagt der närrische Amos im Auftrag Gottes.
Ich will jetzt nicht allzu sehr spekulieren, wie das damals vor 2800 Jahren auf die Leute wirkte, obwohl es da durchaus Hinweise gibt, 2 Kapitel später. Amos soll aus Bethel verbannt werden. „In Bethel darfst du nicht mehr prophezeien. Denn das ist ein Königsheiligtum und eine Reichstempel“. Jawoll, musste mal gesagt werden, damit die Ordnung wieder stimmt. Damals!
Doch für uns heute? Ich stelle mir vor, da kommt ein unbekannter kleiner Mann aus der Lüneburger Heide daher gelaufen, sieht dreckig aus, weil er gerade sein Schafherde noch geweidet hat und vom schmutzigen, lehmverkrusteten Felde kommt, stellt sich einfach so hin und verunglimpft in einem Atemzug sämtliche ehrfürchtige Gottesdienste in Domen, Kathedralen, Kirchen und Kapellen – und das auch noch im Namen Gottes. Alles nur Heuchelei, was ihr da treibt. Das ist schon starker Tobak, nicht einmal als Büttenrede am Faschingssonntag zu ertragen. Die seriösen Karnevalswächter würden Ihr Veto einlegen. Das geht zu weit, ist gegen die guten Sitten und blasphemisch noch dazu. --- Doch so hat‘s aber der Amos nun mal gemacht, steht auch so in der Bibel da wird nichts zurück genommen. Es steht da und die biblischen Väter fanden es wohl sogar gut, dass es da so steht, sonst hätte sie es ja durch die Zensur weg retuschieren lassen.
3. Wie sollen wir heute bloß damit umgehen?
a.
Wir können natürlich sagen: Ach, ist ja nur eine verrückte Büttenrede am Faschingssonntag. Da ist vieles erlaubt. Bisschen verunglückt zwar. Aber wir sind tolerant, soll er doch seine wilden Ergüsse auf uns loslassen. Wir lachen einfach darüber und lassen es abtropfen von uns. So können wir reagieren und der normale Alltag kommt wieder. Aschermittwoch ist ja alles vorbei.
b.
Wir können natürlich auch sagen: Das darf er nicht, das geht dann doch zu weit. Was bildet der Kerl sich denn ein? Ja, wer ist der eigentlich? So was gehört sich nicht, muss verboten werden, auch wenn es in d er Bibel steht. Da steht ja sowieso auch viel Gestrüpp in der Bibel (hat schon der große Karl Barth gesagt, auch Luther, wenn er von strohernen Episteln spricht) , muss man nicht alles glauben und ernst nehmen. Weg also damit, in den Müll – und wir haben wieder Ruhe und können unsere Gottesdienste liturgische korrekt feiern in unseren schönen Kirchen. Nun ja.
c.
Wir können aber auch sagen; Ja, natürlich, der Amos übertreibt hier, muss er vielleicht auch, damit er gehört wird. Aber vielleicht hat er doch nicht so ganz unrecht,. Vielleicht sollten wir uns fragen, wo unser Gottesdienste und und unser ganzer christlichen Glaube insgesamt wirklich dem Willen Gottes entspricht, wo wir zwar fromme Gottesdienst feiern, aber im Grunde nur uns selbst feiern, wo wir „Gott; Gott“ sagen, aber im Grunde nur uns selbst meinen, nur unsere eigene Frömmigkeit und Wohlanständigkeit. Also b wir nicht mehr Gott diesen, sondern nur unserem eigenen Selbst, uns nur noch um uns selbst drehen, wo unsere Kirche nur sich selbst feiert wird ( das Reformationsjubiläum im vergangenen Jahr ist ein gutes, oder besser: schlechtes Beispiel dafür)und nicht mehr „für andere“ da ist, wie es einst Dietrich Bonhoeffer sagte. „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist … Eine Kirche, die nur um ihre Selbsterhaltung kämpft, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen zu sein“. Oh ja, Bonhoeffer, wohl auch so ein närrischer Prophet, prophetischer Narr. Ich denke da auch an seine ganz späte Büttenrede aus dem Gefängnis kurz vor seinem Tode. „Um meinen Anfang mit der „Kirche für andere“ zu machen, muss die Kirche alles Eigentum den Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinde leben, eventuell einen weltliche Beruf ausüben“. Also, wenn das keine verrückte Narrenrede ist, sehe ich mich um, was aus der Kirche nach dem 2. Weltkrieg bis heute geworden ist, sehe ich mich selbst an, ich gehöre ja auch zum priesterliche Establishment der Kirche, der Volkskirche, der – nun ja – immer kleiner werden Halb-Volkskirche..
Ich höre auf, es weiter zu beschrieben. Ich selbst neige schon dazu, mit Bonhoeffer und Amos, den beiden Obernarren, die dritte Variante zu bevorzugen, auch wenn ich mich dabei für manche selbst zum Narren mache.
4. Doch am Ende nun. Doch was bietet Amos (und im Übrigen auch Bonhoeffer) nach diesem geharnischten Rundumschlag in der „Bütt“ schließlich nun an Positiven und Konstruktiven an?
„Es ströme aber wie Wasser das Recht und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“. Das klingt etwas gestelzt und ist es auf dem ersten Blick auch: Denn „Recht und Gerechtigkeit“ (im Hebräischen ‚mischpat we zedaka‘) sind ethische Schlagworte einer intakten Beziehung des Menschen zu Gott und zu den Mitmenschen. „Recht und Gerechtigkeit“ garantiert zunächst Gott selbst, seine Bundestreue zu den Menschen, die nicht zuschanden wird, auch wenn wir Menschen Unrecht tun und ungerecht handeln. Gott bleibt gerecht zu uns, d.h. richtet uns immer wieder auf und hält seine Bundestreue. Das ist das besondere Recht Gottes.
Daran haben wir uns also zunächst zu halten, dass er es zunächst tut, ganz ohne uns, aber ganz für uns. Und dann haben wir als Zweites die Möglichkeit, dem versuchsweise nachzueifern – also nachzufolgen, nachzulaufen, meinetwegen auch nachzuhinken und nachzustolpern. Werden wir also im leben nie ganz hinkriegen „Recht und Gerechtigkeit“ gegen jedermann zu üben, werden immer wieder scheitern und uns in den Domen und Kathedralen und selbstgemachten Heiligtümern selbst feiern. So sind wir nun mal.
Aber: Wir können uns daran erinnern, wo wir herkommen, was der Ausgangspunkt unseres Glaubens war und ist. Gottes Recht und Gerechtigkeit, mit denen er uns für sich gewonnen hat. Und wir können uns auch nach vorn strecken „nicht dass wir es schon ergriffen hätten, wir jagen ihm aber nach“ (Phil 3,12), dass „Gottes Recht und Gerechtigkeit“ wirklich unter uns zu wirken beginnen, dass sie „strömen wie ein nie versiegender Bach.“ Ja, ich gebe zu, es ist vorerst nur ein Bach, noch kein großer Fluss, noch kein Ozean. Aber dass der kleine Bach von Recht und Gerechtigkeit weiter fließt, nicht versiegt, das ist schon sehr viel Und vielleicht mündet er dereinst doch in einen großen Fluss, im Weltenmeer. Vielleicht.
Halte ich jetzt selbst eine Narrenrede? Bin ich im verrückten Karnevalsmodus, wenn ich das glaube? Ich weiß nicht. Es kann ja sein, dass das Ende dieser verrückten Büttenrede des Amos, also seine positive moralische Forderung am Ende, der Höhepunkt seiner ganzen Narretei ist, dass also die Vision von „Recht und Gerechtigkeit“ unter uns allen der verrückten Büttenrede die Krone aufsetzt. Helmut Schmidt hat ja als nüchterner Hanseat und Realist einmal unmissverständlich gesagt: „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen“. Ja, Amos müsste ob seiner Vision zum Arzt gehen, Bonhoeffer sicher auch. Und dazwischen, vor ca. 2000 Jahren gab es ja noch einen, der solche Visionen hatte, sie weiter sagte und als dummer Narr in den Augen der priesterlichen Oberhirten scheiterte. Wir wären also in bester Gesellschaft
Es bleibt also an diesem Karnevalssonntag dabei: „Gottes Gottes und Gottes Gerechtigkeit“ gelten zunächst für uns alle, ganz bestimmt, darauf steht unser Glaube. Es ist der „Grund, auf den wir uns gründen“. Das gilt zunächst, es gilt unverrückbar. Und nun sind wir dran. In der Kirche, in den Domen, Kathedralen, Kapellen, all überall, in der Lüneburger Heide bei den Schafherden, im bayrischen Hochgebirge, wo die Gemsen springen, noch springen sie, all überall. Mit unserer kleiner Kraft angetrieben von Gottes großer Kraft, daran zu arbeiten, dass „Recht und Gerechtigkeit“ für alle Menschen, auf der ganzen Erde, zunächst aber ganz konkret für den Mann und die Frau neben uns, sich ausbreiten, wie ein „nie versiegender Bach“ ja dass der kleine Bach einst gar zum großen Fluss wird. Vom Weltenmeer will ich ja gar nicht sprechen, so verrückt bin ich auch wieder nicht: Ich Narr im Namen Christi. Hoffentlich bin ich einer und bleib auch einer bis zu meinem Ende.
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Gottes Menschendienstkritik – Predigt zu Amos 5,21-24 von Dörte Gebhard
Gnade sei mit euch, von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde
„Amazing Grace“ ... ist das nicht ein echter Ohrwurm?! Am liebsten möchte ich mich zurücklehnen, weitersummen ... Ausserdem ist es Musikweltkulturerbe! Es gefällt nicht nur mir. Ob es überhaupt Lieder gibt, die noch bekannter sind? Aber. Aber, wenn ich ganz ehrlich bin, etwas süsslich ist es schon – gleich am Anfang! Zum Glück ist es auf englisch und nicht auf deutsch. Wobei englisch singen auch nicht jedermanns Sache ist, nicht wahr?!
Manche hätten lieber alles auf deutsch.Einige bevorzugen sogar Mundart, ganz entschieden.Andere probieren gerne etwas auch, singen spanisch oder etwas, das ihnen so vorkommt, auch wenn die Aussprache Spaniern ganz sicher gar nicht spanisch vorkäme.Wieder andere singen immer gern alle Strophen, von allen Liedern. Aber manche finden dafür die Kirche etwas zu kühl ... um noch länger zu sitzen. Wieder andere finden die Sitzkissen zu dünn, die Bänke zu hart und die Heizung darunter etwas zu heiss. Sie lässt unsere Gesangbücher nicht selten aus dem Leim gehen.
Wieder andere finden „eigentlich“ und sagen es nur nicht laut, dass sie am liebsten und ohnehin bei jedem Lied stehen würden. Man singt auch gleich viel besser! Wieder andere können gar nicht aufstehen, obwohl sie es von ganzem Herzen wünschen, nichts lieber hätten, als den Rollstuhl davonrollen lassen zu können.
Wieder andere sängen gern viel mehr viel neuere Lieder, denn die früheren kennen sie kaum. Wieder andere sängen am liebsten gerade diese sehr alten Lieder, eben weil sie sie so gut kennen, weil sie so vertraut sind, weil herrliche Erinnerungen an die Junge Kirche aufkommen.
Wieder andere lernen gern ein völlig neues Lied, einige am liebsten mit Noten, andere lieber ohne, nur durch Zuhören.Wieder andere finden die Musik manchmal zu laut oder die Orgel zu leise oder zu langsam oder zu schnell oder zu schrill oder zu dumpf oder überhaupt Orgelmusik zu sonderbar ...
Wir sind mittendrin – nein, nicht in der Gottesdienstkritik, wie es meist genannt wird, wir üben uns bis jetzt „nur“ in Menschendienstkritik!
Und die Musik ist nicht alles! Mit ihr geht es nur sonntags in der Kirche meistens los.
Auch sonst kann es in der Kirche auf viele Arten unangenehm sein: zu düster oder die Sonne blendet zu stark von der Seite. Manch einem ist der Beginn der Feier viel zu früh am einzigen Tag der Woche, an dem man wirklich ausschlafen könnte. Anderen dünkt es viel zu spät, sie wollen ja noch wandern gehen, bei dem Wetter.
Hier breche ich ab, jede und jeder hier weiss, was es noch alles zu sagen gäbe über Kanzel und Pult, Kunstwerke in Kirchen, Predigtlänge und Art und Weise der Gebete und ... und ... und ...Bei mir selbst gehört es zum Auftrag, Predigten und Liturgien kritisch anzuschauen, bei Vikaren und Vikarinnen zu prüfen und zu examinieren.
Mehr oder weniger harsche Kritik gibt es schon so lange wie Menschen Gottesdienst feiern.
Sofort stechen wesentliche Erkenntnisse ins Auge:
1. Auch nach 2000 Jahren gibt es noch jede Menge Verbesserungsmöglichkeiten, für jede Generation Christen neu.
2. Es gibt Dinge, die niemand, auch nicht mit bestem Willen, ändern kann.
3. Es ist unmöglich, es allen recht zu machen, auch wenn man 1. und 2. präzise voneinander unterscheidet.
3a. Es ist ein grosser Trost, dass noch nie auf der Welt und durch die Zeiten hindurch ein Sonntagmorgen dem anderen auf’s Haar glich. Immer wieder ist es anders. So kann man richtig viel falsch machen, aber auch positiv überrascht werden und alles besser als erwartet antreffen.
Aber auch die Kritik geht mit der Zeit, ändert sich, wandelt sich.
Im Norden gibt es an Kanzeln manchmal noch alte Sanduhren. Die dienten u.a. (!) dazu, dass der Prediger nicht zu kurz sprach. Schliesslich wurde er für’s Predigen bezahlt. Predigten unter einer Stunde konnten zum verheerenden Urteil „schlecht vorbereitet“ führen. Noch viel interessanter ist jedoch die älteste „Würdigung“ eines Gottesdienstes, die uns bekannt ist. Es ist Gottes eigene Dienstkritik. Sie findet sich beim Propheten Amos. Hören wir aus dem 5. Kapitel beim Propheten Amos, wie Gott selbst über sogenannte Gottesdienste spricht:
Ich hasse und verachte eure Feste und mag eure Versammlungen nicht riechen – es sei denn, ihr bringt mir rechte Brandopfer dar –, und an euren Speisopfern habe ich kein Gefallen, und euer fettes Schlachtopfer sehe ich nicht an. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!
Liebe Gemeinde
Im ersten Augenblick macht sich Erleichterung breit. Unser Zusammensein heute morgen ist für meine Nase recht geruchsneutral. Zu fette Schlachtopfer sind wirklich nicht unser Problem und Harfenspiel ist in Schöftland so selten, dass man nicht viel verpasst, wenn man es aus persönlichen oder aus geschmacklichen Gründen lieber auslassen möchte.
Aber auf den zweiten Blick ändert sich die Perspektive radikal und eine Bekehrung wird fällig. Luxussorgen haben wir!Wahrscheinlich sind wir nicht ganz „bei Trost“. Wahrscheinlich wissen wir gar nicht, wie gut es uns geht.
Die Wahrheit beginnt durchzuscheinen. Wahr scheinlich, so sagt es dieses Wörtchen ganz bestimmt.
Nicht in irgendeinem Entwicklungsland, sondern im Vereinigen Königreich, vor den Toren Londons, in der Diözese Rochester, haben sie z. B. nicht solche Probleme bei der Auswahl passender Musik. Gespielt wird, was auf auf einem nicht gerade neuen Keyboard geht, denn Geld, um die alte Orgel zu renovieren, ist nicht einmal von Ferne in Sicht. Zuerst würde man ohnehin jeden Penny ins Dach stecken, damit es endlich nicht mehr durchregnet, damit Sister Penny, die Gemeindeschwester, keine Eimer mehr zwischen den Kirchenbänken hin- und herschieben muss, immer dorthin, wo es gerade tropft. Sie kommen dort aber auch bei Regen fröhlich in grosser oder kleiner Runde zusammen.
Im sog. „calvinistischen Rom“, in Debrecen, steht die grösste reformierte Kirche Ungarns. Ein imposanter, grossartiger, innen schlichter Bau, der leuchtend gelb mit der Sonne um die Wette strahlt. Man tritt ein und fühlt sich sofort erfrischt. Sobald das erste Lied beginnt, stellt man fest: Man kann das Gesangbuch auch mit Handschuhen festhalten – und Handschuhe empfehlen sich in der ungeheizten Kirche auch noch im April, wenn man draussen längst im Strassencafe sitzen kann. Die Predigt bei 8 Grad muss dann auch von innen heraus wärmen.
Ahnen wir, wie beneidenswert manche unserer Sorgen hierzulande sind?In Kent und Ostungarn, ganz zu schweigen von anderen Weltgegenden, in denen manche von Euch schon waren, hätten sie vielleicht gern unsere Probleme.
Aber ...
... doch nur für einen allerersten, kleinen Moment.
Denn Gottes Menschendienstkritik trifft uns mit voller Wucht, nicht nur ‚wahrscheinlich’. Manche sind schon auf die Frage gekommen, ob es uns in Westeuropa insgesamt zu gut geht für den christlichen Glauben. Haben manche von allem zu viel, dass sie nicht mehr sehen, was sie wirklich bräuchten?
Der christliche Glaube breitete sich damals und breitet sich gegenwärtig unter den Ärmeren und Ärmsten der Welt aus.
Trieft hierzulande das Fett zu sehr? Opfert die Mehrheit wohlmöglich falsch vor sich hin? Denn Opfer bringe ich alle Tage reichlich: an Zeit, an Aufmerksamkeit, an Kraft und Nerven, an Energie – und nicht in jedem Fall für wirklich notwendige Sachen, sondern z. B. für die Kinkerlitzchen des Alltags, für die Skandälchen, die die Medien mir vor Augen spülen, für Reklame und Unfug im weltweiten Netz ...
Sind unsere Kirchen zu gemütlich warm? Die Sitze zu gepolstert? Die Musik zu harmonisch? Und bin ich ein Kamel, dass vor lauter Hab und Gut und Geschlepp zwischen den Höckern gar nicht das Nadelöhr sieht, durch das ich mit allem noch viel weniger passen werde als sowieso schon nicht? Denn ein Reicher, der nicht teilt, ist bekanntlich wie ein Kamel vor dem Nadelöhr.
Amos richtet Gottes Wort genau an die reichen, mit Besitz beladenen Kamele aus, die sonntags scheinbar Gottesdienst feiern, dass es bis zum Himmel stinkt und in der Woche keinen Gedanken an irgendeinen Dienst verschwenden. Die Menschendienstkritik Gottes hat noch einen entscheidenden Nachsatz, den Amos niemandem vorenthält:
Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.
Dieses Gebot gilt immer, nicht nur sonntags zwischen halb zehn und halb elf. Ja, Gottes Menschendienst findet vorwiegend werktags statt, sonntags kommen wir als Gemeinde – verhältnismässig kurz – zusammen, um uns für den Rest der Woche stärken zu lassen: von Gott zu unserem Dienst in der Welt.
Novalis, eigentlich Georg Philipp Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg, deutscher Dichter, hat es auf den Punkt gebracht:
„Unser ganzes Leben ist Gottesdienst.“ Man kann auch sagen: Unser ganzes Leben sei gottwohlgefälliger Menschendienst.
Gottwohlgefälliger Menschendienst beginnt schon am Samstagabend, wenn wir alle noch nicht zusammen singen, sondern jede und jeder Fürbitte für die anderen hält. Gottwohlgefälliger Menschendienst zeigt sich möglicherweise dienstags (!) in jenem Moment, in dem jemand den zehnten Teil seiner Einkünfte spendet, wie es manche in unserer Gemeinde tun. Gottwohlgefälliger Menschendienst wird auch nachher noch beim Kirchenkaffee zu spüren sein, wenn wir einander zuhören und unsere kleinen und grossen Sorgen miteinander teilen. Gottwohlgefälliger Menschendienst kann sehr unauffällig im Bundeshaus/Bundestag, sogar gleichzeitig zu einer Plenarsitzung stattfinden, wenn sich christliche Abgeordnete für mehr Gerechtigkeit in Recht und Gesetz einsetzen.
Gottwohlgefälliger Menschendienst findet überall statt, wo Menschen verstehen und glauben, dass alles Tun und Lassen, das menschenfreundlich und menschendienlich ist, Gott gefällt.
Und dann ist es übrigens nicht besonders schrecklich, wenn es sonntags in der Kirche mal komisch riecht oder ich selbst irgendwen in der Gemeinde nicht recht riechen kann, wenn die Musik mal zu laut oder zu leise durchs Kirchenschiff schallt, wenn manche Lieder zu alt oder zu neu sind, wenn die Heizung einmal ausfallen sollte oder ich mich insgesamt wie ein Kamel anstelle, wenn ich mich eigentlich für mehr Gerechtigkeit einsetzen sollte. In diesen Momenten bin ich besonders dankbar für „Amazing Grace“, Gottes wunderbare Gnade.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, Amen.