Predigt zu Apostelgeschichte 10,21-35 von Christiane Borchers
10,21-35

Liebe Gemeinde!

Haben Sie das schon einmal erlebt, dass Sie Ihre festen Überzeugungen hinter sich lassen und sich Ihren neuen Einsichten stellen mussten? Haben Sie das schon einmal erlebt, dass Sie aufgrund des­sen einen völlig neuen Weg beschritten und dass sich Ihre Einstellungen radikal geändert haben?

Petrus hat das erlebt. Er ist zu Gast bei einem Gerber namens Simon in der Stadt Joppe. Zu der fest­gesetzten Zeit am Mittag möchte er sein Gebet halten und steigt dazu auf das flache Dach seines Gastgebers. Ein Flachdach hat fast jedes Haus im alten und heutigen Orient. Das ist die übliche praktische Bauweise. Ein flaches Dach ist zu vielerlei Zwecken geeignet und ist eben auch ein guter Ort für ein Gebet. Als Petrus hungrig wird, möchte er etwas essen. Plötzlich gerät er in Verzückung, er erlebt eine Vision. Der Himmel tut sich auf und etwas wie ein großes leinenes Tuch mit vier Zip­feln wird heruntergelassen. Darin sind Tiere der Erde und des Himmels. Eine Stimme, die Petrus als Gottes Stimme deutet, spricht: „Schlachte und iss!“ Petrus, von Hause aus ein Jude, durch die Beru­fung am See ein Jünger Jesu geworden, vertraut mit den jüdischen Speisegeboten, traut seinen Oh­ren nicht. Er soll die heiligen jüdischen Speisegebote missachten und unreines Fleisch essen? Er wehrt sich und beteuert, dass er noch nie etwas Verbotenes getan und Unreines gegessen habe. Die Stimme spricht abermals zu ihm: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten (Apg 10,15).“

Petrus kommt wieder zu sich, das Tuch und die Verzückung entschwinden. Noch benommen und ratlos von dem Gesehenen und Gehörten, fragen zur gleichen Zeit Soldaten nach, ob es im Hause des Simon einen gewissen Petrus gebe, der hier zu Gast sein solle. Sie haben den Auftrag, ihn nach Cäsarea zu ihrem Hauptmann Kornelius zu bringen. Soldaten fragen nach Petrus, das könnte ihm Angst einjagen. Wenn Soldaten in der damaligen Zeit nach einem Menschen fragen, bedeutet das oft nichts Gutes. Wollen sie ihn verhaften, werfen sie ihm etwas vor, bedrohen sie ihn gar mit dem Tode? Alles ist möglich. Petrus braucht keine Angst zu haben, sie wird ihm von einem himmlischen Stimme genommen: „Geh mit ihnen, zweifle nicht, denn ich habe sie gesandt (Apg 10,20).“

Petrus darf aufatmen. Gott führt ihn. Er nimmt einige Brüder aus der judenchristlichen Gemeinde in Joppe mit, so reist er nicht allein mit den Soldaten. Gleichzeitig kann Petrus auf Zeugen verweisen, falls er welche braucht. Er wird sie benötigen; von den eigenen Leuten wird er für sein späteres Ver­halten von einigen frommen judenchristlichen Gläubigen in Jerusalem zur Verantwortung gezogen. Die Reisegruppe macht sich auf den Weg, erreicht die Hafen- und Garnisonsstadt Cäsarea am Mit­telmeer, betritt das Haus des römischen Hauptmanns Kornelius. Dieser ist kein Jude, gehört aus jü­discher Sicht zu den Heiden, aber weil er ein gottesfürchtiger Mann ist, der betet und den Armen Almosen gibt, hat er beim jüdischen Volk einen guten Ruf.

Der Hauptmann hält schon Ausschau nach der Reisegruppe. Er kann es kaum erwarten, den Apostel zu treffen. Es ist für ihn ein wichtiges Ereignis, Petrus persönlich zu begegnen. Kornelius hat sich vorbereitet, möchte, dass seine Freunde und Verwandten mit dabei sind, wenn Petrus zu ihnen spricht. Auch er hat während des Gebets eine Vision gehabt. Ein Engel in leuchtendem Gewand ist ihm erschienen und hat ihm gesagt, dass er seine Männer nach Joppe schicken soll, damit sie einen Mann im Hause des Gerbers Simon aufsuchen und ihn nach Cäsarea führen sollen. Der Mann habe eine Botschaft für ihn. Kornelius hat der Vision getraut, hat nach Petrus schicken lassen. Wissbegie­rig möchte er hören, was Petrus zu sagen hat. Als dieser  sein Haus betritt, fällt der Hauptmann ehr­fürchtig vor dem Apostel auf die Knie und betet ihn an. Der Kniefall ist eine ehrfürchtige Geste, die einem Höhergestellten, vor allem einer Gottheit geschuldet war. Es wird berichtet, dass Philippus von Mazedonien sich jeden Morgen zurufen ließ: „Philippus, du bist ein Mensch!" Kornelius hatte von Petrus in einer Vision durch einen Engel erfahren. Er will in Petrus Gott ehren. Petrus aber möchte das nicht, er ist ein Mensch und kein Gott. „Steh auf", spricht er zu dem Hauptmann, „ich bin auch nur ein Mensch.“

Kornelius hat Petrus in sein Haus geholt, und der ist gekommen, obwohl er als Judenchrist gehalten ist, die jüdischen Reinheits- und Speisegebote zu beachten. In den frühen christlichen Versammlun­gen hielten sich die Gläubigen selbstverständlich an die jüdischen Gebote. Es hat gedauert, bis das Christentum sich zu einer eigenständigen Religion mit eigenen Regeln entwickelte. Die ersten Christinnen und Christen verstanden sich als eine Gruppe innerhalb des Judentums. Für Petrus ist es eine überwältigende Erfahrung, als er durch die Vision erkennt, dass er die jüdischen Gebote nicht mehr einzuhalten braucht. Das soll nicht heißen, dass sie überholt und nutzlos sind, sondern Petrus soll durch das strenge Einhalten der Reinheits- und Speisegebote nicht behindert werden, das Evan­gelium zu verkünden.

Zunächst kann er offenbar mit der Vision nichts anfangen. Erst als er mit Kornelius spricht und dessen Haus betritt, wird ihm plötzlich die Bedeutung der Vision klar, die er auf dem Dach des Gerbers Simon in Joppe gehabt hat. „Gott hat mir gezeigt, dass ich keinen Menschen meiden oder unrein nennen soll.“ Für ihn ist das ein bedeutender Schritt. Wir können das kaum nachvollziehen, was dieser Traditionsbruch für Petrus bedeutet hat. Er soll das Haus eines römischen Hauptmanns, also eines Heiden betreten und das Evangelium verkünden. Das bedeutet automatisch, dass er mit ihm essen und trinken wird. Der Gastgeber wird es sich nicht nehmen lassen, ihn zu bewirten. Jeder Jude kommt dabei in Bedrängnis, allein das Betreten des Hauses eines aus jüdischer Sicht Unreinen ist ein Problem. Petrus betritt dieses Haus im Widerspruch zu allem, was  ihm bisher sehr am Herzen lag und er verinnerlicht hat. Wenn er den Fuß über die Schwelle setzt,  überschreitet er eine Grenze und begibt sich auf verbotenes Terrain. Dass wir als Christinnen und Christen in eine vergleichbare Situation geraten könnten, erscheint mir unvorstellbar.

Petrus hat der Vision vertraut und ist bereit, den Soldaten zu folgen. Das Betreten eines heidnischen Hauses birgt riskante Gefahren in sich. Trotzdem geht Petrus los. Vor sich selber wird er möglicher­weise sein Handeln noch vertreten können, aber vor der Gemeindeleitung in Jerusalem kann das zu Problemen führen. Er wird sich rechtfertigen müssen. Tatsächlich wird er, als er nach Jerusalem zu­rückkehrt, von den Leitenden in der Gemeinde deswegen angeklagt werden. Mit seinem grenz-über­schreitenden Schritt in das Haus des Kornelius macht er sich Feinde. Die stärksten Kritiker kommen aus den eigenen Reihen. Die ganze Tradition steht gegen ihn. Und trotzdem betritt Petrus das Haus.

Was dann geschieht, ist schnell erzählt. Petrus verkündet Kornelius und allen, die vom Hauptmann zusammengerufen worden sind, die Botschaft von Jesus Christus. Die Versammlung hat gottes­dienstlichen Charakter. „Nun sind wir alle hier vor Gott zugegen … .“  Vor Gott haben sie sich ver­sammelt, um das Evangelium zu hören. Unser Predigttext gipfelt in der Erkenntnis des Petrus: „Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht, sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.“ 

Mit dieser Geschichte wird die Heidenmission begründet. Einem Apostel ist es erlaubt, die jüdi­schen Traditionen zu vernachlässigen, um den Heiden, die einen völlig anderen Hintergrund haben, das Evangelium zu verkünden. Nicht die Volkszugehörigkeit zum auserwählten Volk Israel und das Einhalten der Reinheits- und Speisevorschriften sind entscheidend, sondern jedes Volk ist Gott recht, das Gerechtigkeit übt. Die Gelegenheit zur Mission ist von einem Heiden selbst bereitet. Der Glaube verlässt die Grenzen eines Volkes und geht in die Welt. Die alte Verheißung bricht sich Bahn. Der Bund, den Gott mit Abraham und seinen Nachkommen geschlossen hat, weitet sich auf andere Völker aus. Hatte Jesus sich noch meistens an seine jüdischen Landsleute gewandt, so er­reicht die Botschaft jetzt die Heidenwelt. 

Die Evangelien überliefern bereits einzelne Erzählungen, in denen Jesus mit Menschen außerhalb des Judentums in Berührung kommt. Da ist die syro-phönizische Frau, die um Heilung für ihre kranke Tochter bittet und Jesus überzeugt, dass er nicht nur zu dem Haus Israel gesandt ist, wie er selbst glaubt, sondern auch zu den Menschen über Israels Grenzen hinaus. Da ist die Begegnung mit der Samariterin am Brunnen, die Jesus als Christus bezeugt. Ferner macht Jesus den Knecht eines römischen Hauptmanns gesund. Diese Menschen wissen um die Erwählung Israels, obwohl sie nicht jüdischen Glaubens sind. Die  syro-phönizische Frau weiß, dass Israel - im Bild gesprochen - das Brot zusteht und ihr nur die Krumen. Aber das reicht aus: Ihre Tochter wird gesund. Der Hauptmann, dessen Knecht von Jesus geheilt wird, liebt das jüdische Volk und baut ihm eine Synagoge (Lk 7,5). Kornelius, der römische Hauptmann in unserm Predigttext, genießt beim jüdischen Volk einen guten Ruf und gibt Almosen. Diese Menschen sind dem auserwählten Volk zugeneigt. Die Botschaft von Jesus Christus weitet sich über die Grenzen Israels aus; Petrus wagt den grenzüberschreitenden Schritt; der Hauptmann Kornelius in Cäsarea ist der erste, der sie außerhalb Israels annimmt.

Petrus ist überwältigt von der Vision, die dazu führt, dass er einen Teil seiner bisherigen religiösen Vorstellungen, die ihm lebenswichtig waren, hinter sich lässt. Auf religiöser Ebene kann ich mir et­was Vergleichbares für uns Christinnen und Christen nicht vorstellen. Aber auf anderer existentieller Ebene kann es geschehen, dass besondere Ereignisse mein Leben völlig aus der Bahn werfen und in eine neue Richtung lenken. 

Es gibt Momente, da müssen wir unsere Vorstellungen, die so etwas wie ein Treppengeländer für uns waren, an dem wir uns festhalten konnten, aufgeben. Sie taugen nicht mehr als Lebenskonzept. Das bringt zunächst Verunsicherung mit sich, auch Enttäuschung, kann aber letztlich in die Freiheit führen. Neue Möglichkeiten tun sich auf, Erstarrungen lösen sich auf, aus Stillstand entsteht Bewegung. Worauf wir bis vor kurzem noch nicht zu hoffen gewagt haben, wird wahr. Andere Menschen treten in unser Leben, verändern uns, bereichern, bringen weiter. Es gibt Dinge, die sind zunächst befremdlich, sie sind unbekannt und flößen uns Angst ein.

Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass es gut war, dass wir den Schritt gewagt haben. Natürlich gibt es auch das andere, dass sich herausstellte, dass dieser Schritt, den wir gewagt haben, sich nicht als hilfreich für uns erwies. Es tauchten Probleme auf, die nicht in die Freiheit führten, sondern in neue Abhängigkeiten. Wenn wir uns neu auf dem Weg machen, bleibt immer ein Risiko. Petrus nimmt das Risiko auf sich, überwindet Grenzen und trägt reichen Lohn davon. Er kann das Evangelium verkünden, Menschen lassen sich taufen. Kornelius hört, was ein Fremder ihm zu sagen hat, vertraut ihm, lässt sich auf ihn und seine Botschaft ein. Beider Mut und Vertrauen sind nicht enttäuscht worden. Ihr Leben hat sich verändert. Kornelius ist Christ geworden, Petrus missioniert fortan bei den Heiden.

Haben Sie das schon einmal erlebt, dass sich Ihre Einstellungen radikal verändert haben und dass das Konsequenzen für ihr Leben hatte? Was ist nötig, damit dieser Weg gelingt? Vertrauen in Gott und seine Botschaft. Er findet einen Weg und zeigt uns die Quelle zum Leben.   

Perikope