Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23-34 von Christian-Erdmann Schott
16,23

Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23-34 von Christian-Erdmann Schott

Hören Sie den heutigen Predigtabschnitt aus Apg. 16:
23 Nachdem man sie (sc. Paulus und Silas) hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie gut zu bewachen.
  24 Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block.
  25 Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie.
  26 Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so dass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab.
  27 Als aber der Aufseher aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offen stehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen.
  28 Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier!
  29 Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen.
  30 Und er führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde?
  31 Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!
  32 Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren.
  33 Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen
  34 und führte sie in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war. Amen  
Liebe Gemeinde,
ich vermute, dass dieser Predigttext für den Gottesdienst am Sonntag Kantate  ausgesucht worden ist, weil hier vom Singen des Paulus und des Silas im Gefängnis erzählt  wird.  Dabei benutzt Lukas das griechische Wort „hymnoun“. Es erinnert an das uns geläufige Wort Hymne, bei dem wir an eine besonders feierliche Melodie, etwa die Nationalhymne oder  auch an ein Kirchenlied denken. Dass diese beiden Gefangenen im Gefängnis Hymnen singen, ist schon etwas  Besonderes und darum auch besonders zu erwähnen.  In der Regel sind Gefangene, wenn sie erst einmal eingesperrt sind, bemüht, sich  möglichst  unauffällig zu verhalten und keinen Anlass für Zurechtweisungen der Bewacher zu bieten. Aber so verhalten sich diese beiden gerade nicht, statt Ruhe zu geben, singen sie  Loblieder.  
Bevor wir weiter davon sprechen, ist es gut, wenn wir uns kurz die Situation  vergegenwärtigen: Diese Geschichte spielt in Philippi, einer Stadt in der römischen Provinz Makedonien. Hier hat Paulus, unterstützt von seinem Schüler Silas,  in den Jahren 49/50 nach Christus seine erste Gemeinde auf europäischem Boden gegründet. Als Lukas darüber berichtete, waren die Schwierigkeiten, mit denen  Paulus und Silas zu kämpfen hatten,  bereits Geschichte. Das Leben hatte sich normalisiert. Die Gemeinde war etabliert. Lukas aber, der Evangelist und Chronist, greift diese Ereignisse aus der Frühzeit der Gemeindegründung in  Philippi auf und fügt sie in seine Apostelgeschichte ein. Die Frage stellt sich: Welche Interessen  leiten ihn dabei?
Zum einen will Lukas die guten Erfahrungen weitergeben, die die Christen mit dem Singen gemacht haben. In den damals praktizierten Religionen kannte man das gar nicht. Noch heute gibt es weder im Judentum noch im Islam den Gesang der Gemeinde. Bei den Juden singt in der Regel der Kantor, im Islam der Vorsänger. Nur im Christentum hat das gemeinsame Singen einen so hohen Stellenwert, wird das Singen so vielseitig gebraucht, geübt, geliebt. Das heißt: Das gemeinsame Singen ist ein Alleinstellungsmerkmal des Christentums. Das sicher auch, weil die Urkirche in den Zeiten der Christenverfolgungen das gemeinsame Singen als Überlebenshilfe kennen gelernt hatte.
So wird erzählt, dass die Römer zum Tode verurteilte Christen zur Volksbelustigung gern in die Arenen warfen und sich daran erfreuten, mit anzusehen, wie sie von den wilden Tieren zerfleischt wurden. In dieser Lage reagierten die Christen zuerst wie die meisten Menschen: Sie zitterten vor Angst, versuchten wegzulaufen, schrieen,  tobten. Das reizte die Tiere erst richtig. Sie fielen die Christen an. Es gab kein Entrinnen, es gab keine Rettung – bis die Christen ihr Verhalten radikal änderten: Sie rannten nicht mehr weg, sondern blieben stehen, stellten sich als Gruppe zusammen und sangen ihre Lieder, die sie aus den Gottesdiensten kannten Sie sangen leise, nicht aggressiv. Das beruhigte die Tiere. Sie umkreisten die Christen,  taten ihnen aber nichts, während sich das Publikum langweilte.
Auch wenn es sich hier höchstwahrscheinlich um eine Legende handelt, so steckt doch eine Erfahrung in ihr, die den frühen Christen wichtig war: Singen gibt Kraft. Das haben auch Paulus und Silas im Gefängnis erlebt. Durch das Singen konnten sie ihre Angst überwinden. Es stärkte sie in ihrem Durchhaltewillen. Auch die anderen Gefangenen hörten es und wurden dadurch innerlich aufgebaut. Aber nicht nur sie, auch Gott hat den Lobpreis gehört. Er antwortete mit der Sendung eines Erdbebens. Die Türen des Gefängnisses öffneten sich. Die Gefangenen könnten ausbrechen.  Das tun sie aber nicht, weil sie sich nicht als Verbrecher fühlen, die vor der Strafe weglaufen müssten. Nein, sie sind zu Unrecht eingekerkert und wollen die volle Rehabilitierung durchsetzen. Das geschieht dann auch. Wie Lukas im Folgenden (Kap. 16, 35-40) zeigt, kommen Vertreter der Behörden zu ihnen, um sich für den Justizirrtum zu entschuldigen und ihnen beim Auszug aus der Stadt  ehrenvoll das Geleit zu geben.
Das andere Ziel, das Lukas mit der Aufnahme dieser Geschichte verfolgt, ist die Vergewisserung der Gemeinden. Natürlich waren die Glaubenden auch damals  angefochten, wenn sie sahen, wie zäh sich die alten Religionen, Denk- und Verhaltensmuster  behaupteten, wie entschlossen sie sich gegen das Evangelium wehrten, die Missionare ablehnten und verfolgten. Demgegenüber ging es Lukas  um die unmissverständliche Botschaft an die christlichen Gemeinden: Der Siegeszug des Evangeliums geht weiter. Er lässt sich nicht aufhalten  -  allen  Widerständen, aller Ablehnung, aller Überlegenheit der feindlichen Mächte zum Trotz. Denn – Gott ist auf unserer Seite. Es ist ja doch sein Werk, das wir vorantreiben. Darum macht Gott uns durch sein Eingreifen Mut. Er gibt uns Schutz und Ausdauer durch seinen Geist, holt uns auch aus dem Dunkeln der Gefängnisse heraus und öffnet uns die Türen und die Herzen. 
Auch das Herz  des Gefängnisaufsehers in Philippi. In der  Regel  ist das Personal in einem Gefängnis dafür verantwortlich, dass die Gefangenen die Anstalt nicht verlassen und  ausbrechen.  Hier ist es umgekehrt. Nach dem Erdbeben übernehmen die Gefangenen  die Verantwortung für den Wärter. Sie bewahren ihn davor,  durch Selbstmord aus dem Leben zu scheiden. Letztlich hat er es den Gefangenen zu verdanken, dass er am Leben  bleibt. Seine Freude, seine Dankbarkeit, seine Begeisterung kann man sich gut vorstellen. Er lässt sich taufen,  lädt die Apostel  zu sich ins Haus ein,  bereitet ein Festessen vor, die Stimmung ist freudig - bewegt.
Darin  erinnert  diese Szene an die Feier, die der Vater im Evangelium dem verlorenen Sohn bei seiner Heimkehr bereitete (Lk. 15, 11-32)– oder auch an die Geschichte vom Besuch Jesu im Haus des Zachäus. Dort sagt Jesus: “Heute ist diesem Haus das Heil widerfahren“ (Lk. 19,9). Es ist sicher kein Zufall, dass diese beiden Geschichten im Lukas-Evangelium stehen.  Auch diese Geschichte von dem Fest im Hause des Gefängniswärters trägt die Handschrift des Lukas. Sie zeigt:  Mit dem Besuch der Apostel, mit der Taufe des Gastgebers und seiner Familie hat der Friede Gottes in diesem Haus Einzug gehalten. Oder in der Sprache des Lukas: „Er (der Gefängniswärter) freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war“.
Dabei kann hier eine Vermutung geäußert werden, die sich aus dem Wortlaut des Textes nicht zwingend ergibt, die sich aber trotzdem nahe legt: Es ist nämlich durchaus damit zu rechnen, dass das Fest im Hause des Kerkermeisters nicht stumm und schweigend gefeiert worden ist. Vielmehr liegt es nahe zu vermuten, dass dabei auch  gesungen wurde, fröhlich, dankbar, glücklich über diese freundliche Fügung, Gott zum Lob und den Menschen zur Freude.
Damit wären wir wieder beim Thema Kantate. Mit der Thematisierung des Singens hat Lukas den Christen bis heute nachwirkend  ein Vermächtnis hinterlassen: Vergesst das Singen nicht. Es ist eine Gabe Gottes. Es gehört zu unserer Religion. Lasst  diese schöne Möglichkeit der gemeinsamen Gottesverehrung unter uns  nicht verkommen, pflegt sie, übt sie, bewahrt sie.
Diese Aufforderung gilt heute umso mehr als das Singen in  vielen  Familien, auch in christlichen Familien, fast ganz erstorben ist. So lange die Menschen noch ohne elektrisches Licht leben mussten  und sich abends beim Schein einer Kerze oder beim Licht einer Petroleumlampe zusammenfanden, haben sie regelmäßig und viel, auch auswendig, gesungen. Mit dem Auslaufen dieser Form des gemeinsamen Lebens ist auch das Singen in den Familien immer mehr zurückgegangen und heute fast verschwunden. Das ist ein Prozess, der sich über zwei, drei Generationen hingezogen hat und über die Familien hinaus auch Schulen, Vereine, Gruppen vielfältiger Art erfasst hat. Demgegenüber ist es umso wichtiger, dass in den Kirchen und Gemeinden Angebote entwickelt werden, die diesem Trend entgegenwirken und dazu beitragen, dass das gemeinsame Singen seinen Platz auch in Zukunft  behaupten kann. Amen.