Predigt zu Apostelgeschichte 17,22-28a von Thomas Bautz
17,22-28

Predigt zu Apostelgeschichte 17,22-28a von Thomas Bautz

Liebe Gemeinde!

Es mag harmlos erscheinen, wenn Paulus im antiken Athen vor dem Areopag die Gelegenheit gegeben wird, sich zu seiner, offenbar neuen Religion zu äußern, die für die meisten Athener, die er seit seinem Eintreffen während seiner Stadtbesichtigung getroffen hat, sehr befremdlich ist. Befremden (und Neugier?) weckt er bereits vorher - auf der Agora (Marktplatz), die früher zu Heeres-, Gerichts- und Volksversammlungen diente: Dort verkündet er nämlich „Jesus“ und „Anastasis“ („Auferstehung“), was die Athener - und nicht nur die Philosophen - prompt an zwei neue Götter denken lässt. Verständlich, dass sie darüber gern mehr erfahren möchten!

Nun führen sie ihn aber vor den Areopag, vor die wichtigste Behörde im Athen der Kaiserzeit. Sie wacht über Angelegenheiten der Verwaltung, der Regierung, der Gerichtsbarkeit und auch über sakrale, religiöse Belange. Dabei müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass weder die Griechen noch die Römer die strikte Trennung von Religion und Staat kennen. Die Regierung entscheidet über die angemessene Verehrung der Götter - auch welcher Götter.

Wer von der offiziellen Religion, auch wenn diese polytheistisch geprägt ist, abweicht und auch sonst als Philosoph neue und fremde Anschauungen verbreitet, wird vor Gericht gestellt. Er erhält die Gelegenheit, sich zu verteidigen, riskiert aber die Todesstrafe, wenn es ihm nicht gelingt, das Gericht zu überzeugen. Manch ein Angeklagter, meist Philosoph oder Literat, entgeht der Todesstrafe durch Flucht oder Verbannung. Andere trifft es hart und endgültig.

Erinnert sei an Sokrates, der demütig, aber souverän seine philosophischen und religiösen Ansichten vorgetragen und sie auch nicht unter Androhung einer Verurteilung widerrufen hat. Wichtigster Anklagepunkt: Sokrates halte nicht am Kult der in Athen traditionell verehrten Götter fest. Ihm wird vorgeworfen, er wolle die herkömmliche Religion durch einen neuen Kult von „Daimonischem“ ersetzen. Dies zielt auf das „Daimonion“, eine innere, „göttliche“ Stimme, von der sich Sokrates tatsächlich beraten lässt.

Einer der Hauptgegner (Meletos) verstrickt sich, wie Sokrates zeigt, in einen Widerspruch. Er bezichtigt den Angeklagten, gottlos zu sein, also keine übermenschliche Wesen zu verehren und Sonne und Mond für Steine statt für Gottheiten zu halten, andererseits stellt er ihn als Anhänger einer „daimonischen“, übermenschlichen und somit göttlichen Macht dar.

Wenn die Bedingung für einen Freispruch lautete, er müsse seine philosophische Betätigung aufgeben, würde er diese Auflage missachten und weiterhin öffentlich diskutieren. Dies gebiete ihm der Gott. Damit erweise er der Stadt die größte Wohltat, denn er fördere die Tugend, welche die Grundlage aller anderen Güter bilde. Den Tod zu fürchten, sei unweise, auch wenn man nicht wisse, was danach folge. Er hat sich im Kreis seiner Kinder und engsten Freunde bewusst aus dieser Dimension verabschiedet. Das Urteil wird 399 v.d.Z. vollstreckt.

Vor diesem Hintergrund mögen das Auftreten des Paulus und seine Rede vor dem Areopag nicht mehr ganz so harmlos erscheinen. Vermutlich hat sie nie stattgefunden, zumal ein Altar mit der Inschrift: Einem unbekannten Gott (geweiht) weder archäologisch noch literarisch belegt ist. Diese Rede des Paulus, gewissermaßen eine Predigt, ist in der Apostelgeschichte und im NT insgesamt beispiellos. Dass der Verfasser sie dennoch eingefügt hat, wird seine besondere Bewandtnis haben.

Gesetzt der Fall, Paulus habe tatsächlich diese „Predigt“ gehalten: Der athenische Rat hätte ihn ebenso gut zum Tode verurteilen, zumindest aber in die Verbannung schicken können. Der Verfasser der literarischen, fiktiven Rede hat das freilich im Blick; deshalb verwendet er Anspielungen und Zitate aus der antiken Philosophie und Literatur (Poesie), vornehmlich aus der Stoa. Dabei kann es sich um ein rhetorisches Mittel handeln, um die Aufmerksamkeit auf sich und den Inhalt der Ansprache zu lenken. Es mag aber auch die Funktion haben, die Hörer gnädig zu stimmen.

Das hat Paulus auch nötig, wenn man bedenkt, wie er auf der Agora (vermutlich) über die vielen „Götzenbilder“ herzieht, die den Athenern lieb und teuer sind - über die er jedenfalls zuvor überaus ergrimmte. Vor dem Areopag schlägt er einen diplomatischen Ton an, redet ganz geschickt von „Heiligtümern“, die er in der Stadt wahrgenommen hat und die auch in seinen Augen von tiefer Religiosität zeugen. Besonders lobt „Paulus“ an dieser literarischen Stelle die Aufschrift des Altars: Einem ungekannten Gott. - Bekannt waren und sind lediglich Inschriften im Plural: Den unbekannten Göttern.

Die Anknüpfung bei der Verehrung „eines unbekannten Gottes“ ist nicht nur Fiktion, sondern auch reine Rhetorik; sie findet keinen fruchtbaren Boden; es sei denn, Paulus wollte einen neuen, zusätzlichen, tatsächlich noch unbekannten „Gott“ verkünden - aber dies hat er nun gerade überhaupt nicht im Sinn. Ganz im Gegenteil: Die Athener, Paganismus („Heidentum“) überhaupt, sind für Paulus „Unwissende“; er verkündet nun den ihnen (!) unbekannten „Gott“: In ihm (durch ihn) leben, weben, sind wir; („in ihm leben wir, bewegen wir uns, sind wir“; „in ihm ist Leben, Bewegung, Sein“) – „seines (Gottes) Geschlechts sind wir ja.“

Die bruchstückhafte Heranziehung stoischer Anschauungen, mit Hilfe derer er die Zuhörer gewinnen möchte - darf er doch einen Konsens, eine Übereinkunft mit ihnen voraussetzen -, dieses rhetorische Mittel wird bald durchschaut.

Schlicht überflüssig ist, wenn er mahnend darauf hinweist, das Göttliche sei nicht mit Gold, Silber und Stein identisch, sei kein Gebilde der Kunstfertigkeit und Erfindung von Menschen; damit trägt er sprichwörtlich „Eulen nach Athen“. Das weiß man dort! Apropos Glaube an die „Götter“ oder Götzendienst: Der Historiker Paul Veyne hat einmal die Frage aufgeworfen, ob die Griechen in der Antike überhaupt an ihre „Götter“ (als solche) glauben, und ob sie sich nicht vielmehr genau bewusst sind, dass sie nur Anthropomorphismen darstellen: menschliche Eigenschaften, Tugenden, Handlungen werden auf eine höhere, für Menschen selten oder gar nicht zu erreichende Ebene übertragen.

Zwei Anschauungen aus der stoischen Philosophie, auf die in der Areopagrede angespielt wird, finde ich nicht akzeptabel: der Gedanke der Verwandtschaft des Menschen mit „Gott“, einer „Gottheit“ oder mit „Göttlichem“ und die Bedürfnislosigkeit „(eines) Gottes“.

„Gottesverwandtschaft“ ist philosophisch und poetisch bei Griechen als Vorstellung bekannt; Paulus interpretiert „schöpfungstheologisch“, wobei die Erzählung(en) von der Erschaffung des Menschen in der hebräischen Bibel für stoische Philosophen vermutlich komplizierter zu verstehen wären als ihre eigenen Traditionen.

Ich finde es ziemlich hochmütig - ob stoisch, jüdisch oder christlich -, den Menschen so nah an „Gott“, eine „Gottheit“, „Götter“ zu rücken: „Gottesverwandtschaft“, „Ebenbildlichkeit“,  Mensch als „Abbild Gottes“ (imago Dei). Ein realistisches Menschenbild muss dann auch die negativen menschlichen Eigenschaften im Blick haben: Destruktivität, Habgier, Egozentrik, Hybris, Größenwahn, Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit, Verlogenheit. Wenn das dazugehörige „Gottesbild“ jeweils das positive Gegenstück beinhaltet, ist der Anthropomorphismus perfekt. Wenn ich auf eine (ehrliche) Antwort hoffen dürfte, würde mich interessieren, wer heute in christlichen Gemeinden „Gott“ negative Eigenschaften zuschreibt.

Im Übrigen erledigt sich mit der Idee der „Gottesverwandtschaft“ jegliche Unterstellung mangelnder Gotteserkenntnis: Wer mit „Gott“ verwandt ist, wer ihm ähnlich ist, wird ihn auch erkennen; die Athener mögen hinzufügen: Auch ohne „Schwätzer“ wie dieser Paulus!

Schwierig finde ich auch den Gedanken der „Bedürfnislosigkeit Gottes“: Der Schöpfer „wohnt nicht in handgemachten Tempelhäusern noch läßt er sich von Menschenhänden bedienen, als ob er etwas brauchte, da er doch selbst allem Leben und Odem und alles gibt.“

Auch hierin vermögen mich weder antike griechische Philosophie (z.B. Platon) noch biblische Traditionen zu überzeugen. Eine Gottheit, die völlig bedürfnislos ist, braucht auch keinerlei Berührung mit ihren Geschöpfen; sie bräuchte noch nicht einmal Blickkontakt zu dem, was sie so wunderschön, originell, vollkommen, vielfältig und doch jeweils einzigartig geschaffen oder zumindest ins Leben gerufen, ermöglicht hat. Ein solcher Gott bräuchte keine Verehrung durch Menschen; er wäre nicht nur nicht darauf angewiesen, er oder sie könnte gar nichts damit anfangen, weil ihm jedes Bedürfnis danach fehlt. Ein solcher Gott ist weder der Liebe noch des Leidens fähig, weil er kein Bedürfnis nach Liebe und erst recht keines nach Leiden empfindet; er fühlt rein gar nichts. Ein solcher - hoffentlich fiktiver - „Gott“ ist gefühllos und lieblos.

Angesichts zum Himmel schreienden Unrechts, aber millionenfach gequälter, gefolterter und sinnlos abgeschlachteter Kreaturen, Tiere wie Menschen, eröffnet sich gar ein düsteres Bild eines solchen „Gottes“ - das Kaleidoskop (schon der griech. Antike bekannt) bunter, vieler Gottesbilder verfinstert sich, man trifft mit seinen schlimmsten Befürchtungen ins Schwarze!

Wenn wir zugäben, dass unsere „Gottesbilder“ Projektionen unserer ureigensten Wünsche, Befürchtungen und sogar Eigenschaften sind, wären „Gott“ und Mensch zumindest in der Vorstellung, in der Phantasie untrennbar: Wir könnten nichts über „Gott“ sagen, was sich nicht auch schon vom Menschen aussagen ließe. Menschen streben oder verlangen aber seit Menschengedenken nach „Gotteserkenntnis“, vermutlich auch noch heutzutage; jedenfalls wenn man gerade nicht zufrieden ist mit vorgegebenen „Gottesvorstellungen“ in Gestalt sog. Glaubenssätze, Bekenntnisse oder Dogmen. Man sucht nach alternativen Möglichkeiten der „Gotteserkenntnis“, findet sie z.B. in stoischem Denken - mit pantheistischen Anklängen. Ein namhafter zeitgenössischer Theologe (Wilhelm Gräb) meint:

„Gott existiert nicht, wie all das existiert, was es in der Welt gibt. Er ist der, der uns und alle Welt trägt, der uns die Kraft gibt, uns Ziele für unser Leben zu setzen und auf einen guten Ausgang aller Dinge zu hoffen. Deshalb verfehlen wir ihn, wenn wir zu direkt Bekanntschaft mit ihm machen wollen. Gott lässt sich nicht erkennen. Aber wir alle fühlen seine lebendige Gegenwart, denn er ist in uns und um uns, ist wie die Luft, die wir atmen. In ihm leben und weben und sind wir, wie Paulus treffend sagt. Er erfüllt uns mit unerschöpflichem Lebensmut, mit dem Glauben an den Sinn, den unser Leben hat und mit einer unvergänglichen Hoffnung. Gott ist ein einziger Grund zur Freude.“

Das Ringen um „Gotteserkenntnis“ wird immer zwiespältig, widersprüchlich, fragwürdig bleiben; aber solange dieser innere Kampf - manchmal auch öffentlich angesprochen - aufrichtig ausgefochten wird, verstehe ich dieses Ringen (ähnlich dem Ringen um Wahrheit) als etwas zutiefst Menschliches. Dazu gehören auch Ungereimtheiten, die im Idealfall in einem offenen, ehrlichen Gespräch ausgetauscht werden sollten, damit dieses Fragen, dieses Suchen nach „Gott“ nicht in der Einsamkeit mancher Menschenherzen verhallt.

Religiosität, wenn ich sie als bescheidene, ehrliche, offene Sehnsucht und Suche nach „Gott“ begreifen will, hat mit „Kirchenglauben“ zunächst wenig zu tun. Ein tief religiöser Mensch kann sich nur dem anvertrauen, das er wenigstens annähernd versteht; das ihn oder sie nicht nur im Verstand, sondern wesentlich im Herzen anspricht, anrührt und Kraft spendet für das zumeist schwierige, ungerechte, widersprüchliche, aber auch wunderschöne Leben. Der junge Nietzsche hat mit ca. 20 Jahren (1864) ein wunderbares Gedicht verfasst, das ich aufgrund der ausgedrückten Sehnsucht, Authentizität und Ausstrahlungskraft gelegentlich genieße:

„Noch einmal, eh ich weiterziehe
und meine Blicke vorwärts sende,
heb ich vereinsamt meine Hände
zu dir empor, zu dem ich fliehe,
dem ich in tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht,
daß allezeit
mich deine Stimme wieder riefe.

Darauf erglüht tiefeingeschrieben
das Wort: Dem unbekannten Gotte.
Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte
auch bis zur Stunde bin geblieben:
sein bin ich – und ich fühl die Schlingen,
die mich im Kampf darniederziehn
und, mag ich fliehn,
mich doch zu seinem Dienste zwingen.

Ich will dich kennen, Unbekannter,
du tief in meine Seele Greifender,
mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender,
du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will dich kennen, selbst dir dienen.“
Amen.

 

Literatur

Eduard Norden: Agnostos Theos (Vierte, unveränderte Auflage 1956).

Martin Dibelius: Paulus auf dem Areopag, SHAW.PH 1938/39 (1939), S. 3-56.

Rudolf Pesch: Die Apostelgeschichte (Apg 13-28), EKK V/2 (1986), 127-144.

Pieter W. van der Horst: Hellenism - Judaism - Christianity (1994): The Altar of the ‚Unknown God‘ in Athens (Acts 17:23) and the Cults of ‚Unknown Gods‘ in the Graeco-Roman World (1989), 165-200.

Alfons Reckermann: Den Anfang denken. III: Vom Hellenismus zum Christentum (2011).

Friedrich Nietzsche: Gedichte (Insel-Bücherei Nr. 361, o.J.), S. 5.

Predigtstudien 2013/ 2014. Perikopenreihe VI. Zweiter Halbband (2014), 28-35.