I. Jesus aus Nazareth: Zimmermann. Wanderprediger. Seelsorger. Heilkundiger. Religionsgelehrter. Menschenfreund. Sektenführer. Gottessohn. Justizopfer. Erlöser.
Liebe Gottesdienstbesucherinnen, liebe Gottesdienstbesucher: Welche Seite von Jesus spricht Sie am stärksten an? Was prägt Ihr Bild von diesem Mann? Gibt es vielleicht eine Geschichte von ihm, die Sie besonders berührt?
Ich werde kurz einige Szenen aus seinem Leben schildern. Und es wäre schön, wenn Sie beim Zuhören auch in sich hineinhorchen. Darauf achten, ob Sie etwas besonders angespricht.
Einmal wollten sie Jesus provozieren. Aber er malte gelassen mit dem Finger in der sandigen Erde. Sie hatten eine Frau zu ihm gebracht, die beim Ehebruch erwischt worden war. Hatten ihn erinnert, dass das Gesetz ihre Steinigung vorschrieb. Jesus sagte zu ihnen: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Als alle gegangen waren, sagte er zu der Frau: „Dann verdamme ich dich auch nicht. Geh, aber sündige in Zukunft nicht mehr!“
Ein andernmal traf er Fischer, die die ganze Nacht lang auf dem See gewesen waren, ohne Erfolg. Er ermutigte sie, es erneut zu versuchen. Da rissen fast die Netze, so groß war der Fang. Jesus forderte die Fischer auf, mit ihm zu gehen und in Zukunft Menschen zu gewinnen.
Als viele Menschen zu ihm kamen, erzählte er ihnen von seiner Hoffnung: Selig sind die Leidenden, die Sanften, die mit reinem Herzen und Durst nach Gerechtigkeit. Und er riet ihnen, lieber selbst Unrecht zu erleiden, als anderen Gewalt anzutun.
In Jericho entdeckte er einen kleinen Mann auf einem Baum, der ihn unbedingt sehen wollte. Ein korrupter Zolleinnehmer. Jesus forderte ihn auf, sein Gastgeber zu sein. Daraufhin versprach der Zöllner, all seine Opfer zu entschädigen.
Dieser Jesus war in einem Stall zur Welt gekommen. Gottes Sohn zwischen Ochs und Esel. Der Himmelskönig an Marias Brust. Gelehrte und Hirten kamen gemeinsam zur Krippe. So brachte er von Anfang an unsere Vorstellungen von arm und reich durcheinander.
Er starb wie ein Verbrecher. Gefoltert am Kreuz. Und trotzdem betete er: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Der Verbrecher am Nachbarkreuz nutzte seine letzte Chance zur Umkehr und vertraute sich ihm an. Da versprach Jesus ihm: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Und den Frauen, die zwei Tage später an sein Grab kamen, ließ er ihnen sagen: „Fürchtet Euch nicht. Was sucht Ihr den Lebenden bei den Toten?“
War Ihr persönlicher Jesus dabei? Oder sind für Sie noch andere Geschichten wichtig? Während die Posaunen spielen, haben Sie Zeit, darüber ein wenig nachzudenken.
Musik
II. Und, ist für Sie eine Szene besonders lebendig geworden? Vielleicht kommen Sie ja beim Kaffee nach dem Gottesdienst darüber ins Gespräch. An dieser Stelle möchte ich Ihnen gerne sagen, was mir an den Geschichten wichtig ist.
Ein Wesenszug von Jesus wird ja in den unterschiedlichsten Erzählungen sichtbar: Jesus eröffnet den Leuten neue Möglichkeiten. Menschen, die scheinbar feststecken, können durch ihn neu anfangen. Nach Fehlern bekommen sie eine unerwartete Chance.
Das erreicht Jesus nicht durch Druck. Er tritt nicht autoritär auf. Sondern gewaltfrei. Liebevoll. Manchmal sogar schwächer, als man erwartet hätte. Weniger imposant. Weniger herrschaftlich. Aber dennoch erreicht er sein Ziel.
Er stellt sich nicht auf die Seite des strafenden Gottes. Gerade so bewegt er die Ehebrecherin zu einem anderen Verhalten. Die Fischer ermutigt er zu einem neuen Versuch, und sie haben Erfolg. Den Zöllner ermahnt er nicht, sondern belohnt ihn. Und gerade deshalb verändert der sein Leben.
All das gipfelt am Kreuz: Der Gottessohn leidet. Er steigt nicht vom Kreuz und vernichtet mit himmlischen Heeren seine Feinde. Sondern er bleibt wehrlos. Er stirbt. Und so gelingt es ihm, nicht die todbringenden Soldaten zu besiegen, sondern den Tod selbst.
III. Oft wird behauptet: Mit dieser Haltung ist kein Staat zu machen. Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren. Ein Polizist oder ein Soldat darf seinem Gegner nicht die andere Wange hinhalten, wenn er geschlagen wird.
Liebe Gottesdienstbesucher: Durch unseren heutigen Predigttext wird diese Frage auf die Spitze getrieben. Er behauptet etwas Sensationelles: Gott habe seine Weltherrschaft in Jesu Hände gelegt. Ich lese aus dem Brief an die Epheser:
Gott hat Christus von den Toten auferweckt und ihn im Himmel an seine rechte Seite gesetzt: über alle Mächte und Gewalten, über jede Kraft und Herrschaft und über alles, was sonst einen Namen hat. Nicht nur in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen. Alles hat er unter seine Füße getan. Und er hat ihn der Gemeinde zum Haupt über alles gesetzt. Sie ist sein Leib, nämlich die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt.
Was in der Welt geschieht, liegt nicht mehr in Gottes Hand. Genauer: Nicht mehr in der Hand Gottes, des Vaters. Die verborgene, rätselhafte Lenkung der Welt. Dieses oft so unergründliche Rätsel, das uns immer wieder zu der Frage führt: Wie kann Gott das eigentlich zulassen? Wie kann Gott all das Leid in der Welt zulassen?
Von diesem Text her müssen wir sagen: Es ist gar nicht Gott-Vater, der alles zulässt oder sogar steuert und bewirkt. Er hat die Herrschaft Jesus überlassen. Dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Dem, der nach dem Tod in ein neues Leben durchgedrungen ist. Und der nun in der Sphäre Gottes ist. „Zum Himmel gefahren.“
IV. Denken Sie an die Frage zur Bergpredigt: Kann man mit deren Regeln eigentlich das öffentliche Leben organisieren? Ist mit Gewaltlosigkeit ein Staat zu machen? Dieselbe Frage verschärft sich jetzt noch radikal: Kann ein sanfter Seelsorger wie Jesus zum Weltenherrscher werden? Der den Menschen mit liebevoller Offenheit begegnete – trauen wir dem zu, dass er die gottwidrigen Kräfte unserer Welt in den Griff bekommt?
Im Grunde gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder ist der Auferstandene ein Anderer geworden. Oder Jesus ist sich auch im neuen Leben treu geblieben. Und dann stellt sich eben die Frage, wie dieser anscheinend so schwache Menschenfreund die Welt in den Griff bekommen soll!
In der Vergangenheit hat man sich scheinbar für die erste Möglichkeit entschieden. In alten Kirchen finden Sie manchmal die Darstellung von Christus als Weltenherrscher. Über dem Altar, ein großes Mosaik in der offenen Halbkuppel.
Meistens sehen wir Jesus in einem Brustbild. Manchmal sitzt er auch auf einem Thron. Den Blick fest und streng nach vorn gerichtet. In der einen Hand meistens eine Bibel. In der anderen die Weltkugel. Oder er erhebt die Hand zu einer segnenden Geste. Diesem strengen, übergroßen Gottessohn traut man sofort zu, mit allen Gewalten fertig zu werden.
V. Er hält jedoch nicht zufällig die Bibel in der Hand. Sie gibt den entscheidenden Hinweis: Der da auf dem Thron sitzt, das ist derselbe, von dem die Evangelien berichten. Derjenige, der die Sünderin gerade nicht steinigte. Der die Fischer ermutigte und bei den Zöllnern zu Gast war. Der Sanftmut und Friedfertigkeit predigte. Der als Kind im Stall lag und als Erwachsener am Kreuz hing.
Der Auferstandene ist derselbe. Er hat sich nicht verändert. Das hat eine sensationelle Konsequenz: Jesus wird die widergöttlichen Mächte genau so erobern, wie er die Sünder gewonnen hat. Wie er denen einen Neuanfang, eine Veränderung ermöglicht hat. Nicht indem er sie mit Gewalt vernichtete, sondern indem er sie aufsuchte und liebevoll gewann.
Kann das gelingen? Ist das nicht naiv? Nun, es erklärt vielleicht, warum es immer noch soviel Widergöttliches gibt in der Welt. Christus zerschlägt und zermalmt es nicht. Genauso wenig, wie er damals vom Kreuz gestiegen ist und die Römer mit Feuer geschlagen hat.
Aber mit Gottes Kraft hat er leidend den Tod besiegt. Genau so wird er mit der Zeit alles gewinnen, was Gott jetzt noch entgegensteht. Das ist die Botschaft am Himmelfahrtstag. So gewiss Gott ihn zum Haupt aller Glaubenden gemacht und ihm die Welt zu Füßen gelegt hat – so gewiss wird er die Welt durch seine Liebe erneuern. Amen.
Predigt zu Epheser 1,20b-23 von Sven Keppler
1,20-32
Perikope