Liebe Gemeinde,
„Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland – danach lasst uns alle streben“. So beschwor schon Hoffmann von Fallersleben seine Zeitgenossen. Wir hören es noch heute. Wir wollen uns davon nicht abbringen lassen. Wir wollen es auch nicht auf das deutsche Vaterland beschränken. Wir sehen heute weiter als der Dichter unserer Nationalhymne. Wir wünschen uns ein einiges Europa, das nach Einigkeit und Recht und Freiheit strebt.
Aber die Bilder verfolgen uns. Wir Älteren erinnern uns durchaus an die Propagandabilder der Einigkeit auf Reichsparteitagen und Aufmärschen, mit Fahnen und Fackeln, gleichzeitig aber auch mit den Anzeichen brutaler Machtausübung gegen alle, die eine andere Überzeugung, einen anderen Glauben, eine andere Heimat hatten. Wir haben es erfahren, welche Katastrophen ein ungezügelter Wille zur Einigkeit auslösen kann. Wir meinten nach diesen Katastrophen, solche falschen manipulierenden Beschwörungen überwunden zu haben. Wir wollten zumindest nach der Einigkeit einer christlichen Ökumene in einem neuen Europa streben. Was haben wir erreicht?
Wieder verfolgen uns Bilder, die uns erschrecken. So habe ich vor kurzem im politischen Teil unserer Tageszeitung ein Bild uniformierter, schwer bewaffneter Kämpfer gesehen. Nur einer von ihnen trug keine Waffe. Er trug ein großes silbernes Heiligenbild vor sich her. In der Bildunterschrift las ich seinen Schlachtruf, mit dem er die Ikone der heiligen Magdalena in die Kämpfe um die Städte in der Ostukraine trug: „Möge Gott uns beistehen“.
Das Bekenntnis zu Gott, die Verehrung einer Heiligen als Waffe gegen die anderen, die Feinde, die aus der beschworenen Einheit ausgegrenzt, vielleicht auch ausgemerzt werden sollen!
Ja, so einfach ist es in unserer immer noch und schon wieder von Grenzen durchzogenen Welt offenbar nicht, wie der Apostelschüler es im Epheserbrief meint, die Einigkeit zu wahren „ im Geist durch das Band des Friedens“. Zu viele Grenzen, zu viele Zäune, die Menschen einengen und ausgrenzen, christliche Gemeinden und Gemeinschaften spalten. Zu oft wird das Bekenntnis zu dem einen „Gott und Vater aller“ pervertiert und als Waffe missbraucht, die verfemt, verurteilt und Leben beschädigt, auch zerstört.
„Möge Gott uns beistehen“ schreien alle selbsternannten Gotteskrieger. „Gott mit uns“ beten die Verteidiger des rechten Glaubens und der reinen Lehre. Dass Gott auf unserer Seite ist, glauben die, die in unserer Welt Grenzen ziehen und Zäune aufrichten, die alle Menschen einteilen in die Guten und die Bösen. Die Bösen sind immer die anderen. Möge Gott uns beistehen.
Nein, das tut er nicht. Er hilft nicht mit, Grenzen zu errichten und Menschen auszugrenzen. Er will nicht, dass Glaubensbekenntnisse und Gebete als Waffen missbraucht werden. Er will sich nicht von den Guten gegen die Bösen, von den Gläubigen gegen die Ungläubigen vereinnahmen lassen. Er ist, wie der Predigttext uns einschärft, „ein Gott und Vater aller, der da ist über allen, und durch alle, und in allen“.
Von ihm sind wir berufen, und dieser Berufung sollen wir uns würdig erweisen. So lesen wir es im Epheserbrief. Ja, berufen fühlen wir uns auch alle. Viele allerdings fügen da schnell hinzu: Aber doch nur wir, die anderen eben nicht. Sie bleiben zum Unglauben, zum Irrglauben verdammt.
Und schon sind wieder Grenzen errichtet. Warum lässt Gott das zu, wenn er den „Gefangenen im Herrn“, der an die Gemeinde in Ephesus schreibt, doch beauftragt hat, für die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens auch aus dem Gefängnis heraus eindringlich zu werben?
In der jungen Christenheit, zu der die Gemeinde in Ephesus gehört, hat es von Anfang an nicht nur Einigkeit, sondern auch Unterschiede gegeben. Das ist so geblieben bis heute. Wir unterscheiden uns durchaus von anderen Christengemeinschaften und Kirchen im Verständnis unseres Bekenntnisses zu Gott und der eigenen Glaubensüberzeugung. Wir unterscheiden uns in der Beschäftigung mit biblischen Texten und in der Aneignung der Heiligen Schrift als Gottes Wort. Das ist ja keineswegs nur „Theologengezänk“, wie es oft verächtlich genannt wird. Es geht schon um den verantwortungsvollen Umgang mit unserer „Gründungsurkunde“ und mit der Kirchengeschichte. Es geht um unseren Glauben und unser Gewissen.
Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum schreibt in ihrem jetzt in Deutschland erschienenen Buch „Die neue religiöse Intoleranz“: „Die eigene Auslegung der Religion ist ein Teil der Menschenwürde“. Diese Menschenwürde zu wahren, fordert die Achtung von Glaubensunterschieden und den gegenseitigen Respekt vor der „Abweichung von der eigenen ethischen Norm“. Toleranz eröffnet aber gleichzeitig auch den Dialog mit anderen Überzeugungen und anderen gläubigen Menschen.
Für diesen Dialog nennt der Epheserbrief Kriterien: Demut, Sanftmut und Geduld, den anderen in Liebe ertragen und sich dabei um Einigkeit bemühen, damit die Grenzen ihre trennende Schärfe verlieren und für eine mitmenschliche Gemeinschaft, in der wir Glaubensunterschiede achten lernen, durchlässig werden.
Wer sich auf diese Kriterien einlässt, wird Freiheit erfahren. Ich meine die Freiheit von dem Zwang, sich und anderen den eigenen Wert beweisen und ihnen gleichzeitig ihren Wert absprechen zu müssen. Ich meine die Freiheit von dem Zwang zur Selbstgerechtigkeit und von dem Zwang, über den Glauben und die Überzeugung anderer richten zu müssen. Um uns in Gottes Namen von diesem Zwang zu befreien, eröffnet der Epheserbrief einen Freiraum, der unserer Berufung entspricht. Da erscheinen die Menschen anderer Glaubensüberzeugung nicht mehr als Gegner und Feinde, die es auszugrenzen gilt, sondern als Menschen, die wie wir zu der einen Gemeinschaft der Kirche Jesu Christi gehören und wie wir von der einen Hoffnung auf ein menschenwürdiges, friedliches Miteinander beseelt sind.
„Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens“. Hoffnung auf Bewährung im Freiraum, den der eine Herr eröffnet. Ein Glaube, eine Taufe, ein Gott, der unser aller Vater ist. Da scheinen Hoffnungsbilder von Einigkeit und Recht und Freiheit auf, die alle angstmachenden Bilder in den Hintergrund drängen.
Darum wollen wir in unseren Gemeinden, wo immer es möglich ist, die Gestaltungsformen unseres Glaubens vor Selbstgerechtigkeit, vor Intoleranz und vor falschen Grenzziehungen bewahren helfen. Unterschiede wollen wir achten und beachten, aber trennende Grenzen und Zäune wollen wir überwinden, wo immer wir können. „Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens“ – das wäre eine Ökumene aller Kirchen als Friedensstifter in einer gewalttätigen Welt.
Im Geist der Liebe, die Christus gelebt hat, auf andere zuzugehen und so manchen keineswegs gottgegebenen Grenzen ihre trennende Schärfe zu nehmen, soll unsere Aufgabe in unseren Gemeinden und unserer Kirche bleiben. Den Willen, mit unseren Kräften an menschenwürdiger Gemeinschaft in unserer Gesellschaft mitzuarbeiten, wollen wir uns erhalten. Das wäre eine Art Testament des „Gefangenen in dem Herrn“, der in aller Bedrängnis an seiner Berufung festhält und uns auf den Gott hinweist, den“ Vater aller , der da ist über allen und durch alle und in allen“.
Amen