Predigt zu Galater 4,4-7 von Eberhard Busch
4,4-7

Ein vielbeschäftigter Christ hat offenbar auch für sich selbst folgende beherzigenswerte Sätze geschrieben: „Zeithaben für einander (bezeichnet) den Inbegriff aller Wohltaten, die ein Mensch dem anderen erweisen kann. Wenn ich jemandem meine Zeit wirklich schenke, dann schenke ich ihm eben damit das Eigentlichste, was ich zu verschenken habe, nämlich mich selber. Schenke ich ihm meine Zeit nicht, so bleibe ich ihm gewiss alles schuldig, und wenn ich ihm im übrigen noch so viel schenkte.“

Nicht wahr, wir fühlen uns bei diesen Sätzen ertappt. Wie manches Mal weisen wir Leute ab: „Tut mir leid, keine Zeit!“, obwohl wir wohl Zeit hätten. Aber um vor allem das eigene Gewissen zu beruhigen, drücken wir ihnen eine kleine Abfindung in die Hand und tun es, um uns damit davon freizukaufen, für sie Zeit zu haben. Doch kommt mir die Geschichte der Schweizer “Mutter“ Gertrud Kurz in den Sinn, die sich in dunklen Jahren in arbeitsreichen Mühen der Bedrängten annahm. Überraschend suchte ein Flüchtling sie auf und fragte: „Haben Sie Zeit für mich?“ Sie bejahte, leichtsinniger Weise, wie sie berichtete. Denn der Fremde wünschte, dass sie sich 6 Stunden für ihn Zeit nähme. Sie nahm sie sich: Zeit zum stillen Zuhören, was der Andere von seinen schweren Lebensschicksalen loswerden wollte. Sie schrieb später dazu: „Immer wieder begegnen einem Menschen, die über die Last ihrer Vergangenheit bisher nur Selbstgespräche führten und sie deshalb nicht auf die Seite legen konnten, bis einer kam, der sich Zeit ließ zum Zuhören.“

Gewiss, dergleichen kann man nur ein paar Mal tun, nicht alle Tage. Aber wie schwer ist es, auch nur für einen Mitmenschen gesammelt Zeit zu haben. Wie leicht ist man dabei nur körperlich anwesend, während unser Geist abschweift. Und nehmen wir uns für den einen Zeit, so können wir für so viel andere keine Zeit haben. Zeithaben für einen Bedürftigen ist der „Inbegriff aller Wohltaten“? Wir spüren wie problematisch unser Zeithaben für einander ist. Immerhin, wo das stattfindet, da ist es ein kleines Gleichnis des einzigartigen Wunders, von dem unser Bibeltext redet, das Wunder, das sich uns an der Weihnacht erschlossen hat. Es ist das Wunder, das so lautet: Gott nimmt sich Zeit für uns.

Wer kann das fassen? Der große Gott, von dem die Bibel sagt: „Ehe die Berge wurden, bist du Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Ps. 90,2). Doch nun das Wunderbare: Der Ewige hat Zeit – Zeit für uns. „Da die Zeit erfüllt wurde“, sagt unser Bibelwort. Indem er sich für uns Zeit nahm, wurde die Zeit erfüllt und gab es reich gefüllte Zeit. Hier ist es ganz wahr: Sich Zeitnehmen ist der Inbegriff aller Wohltaten. Weil er der Ewige ist, der sich jetzt Zeit nimmt, darum geschieht in Vollkommenheit, was es bei uns nur in elender Dürftigkeit gibt. Nimmt sich Gott für uns Zeit, dann hat er wirklich Zeit, ganz gesammelt und beteiligt Zeit für uns.

Für uns. Nimmt er sich sogar Zeit für mich, so schließt das nicht aus, dass er zugleich auch Zeit hat für Andere, für viele Andere. Er kommt nicht ins Gehetze, wenn bei ihm viele zur selben Zeit viel Zeit nötig haben. Eben das ist der Inbegriff aller Wohltaten. Indem er sich Zeit für uns nimmt, trifft es jedenfalls hier voll zu: Damit schenkt er uns nicht nur etwas. Damit schenkt er das Eigentlichste, was er zu geben hat – sich selbst. Als die Zeit erfüllt wurde, „da sandte Gott seinen Sohn“, sagt unser Text. Da hat er uns nicht abgespeist mit einer Schleckerei und dann weggeschickt. Da hat er sich selbst gegeben. Der „Sohn“ ist ja nichts anderes und nichts weniger als Gott, Gott in seiner Hingabe für uns.

Das Wort „Hingabe“ müssen wir dick unterstreichen. Denn dass Gott sich selbst für uns gegeben hat, das bedeutet für ihn etwas sehr Hartes. Dass er sich Zeit nahm für uns und seinen Sohn zu uns sandte, das bedeutet für ihn, dass er damit Anteil nimmt an unserem Leben. Und seine Anteilnahme bringt ihm Leid ein. Unser Bibelwort weist dafür auf ein Doppeltes hin.

Zunächst: „geboren von einer Frau“. Das deutet an, dass unser Dasein sich in einer befristeten Zeit vollzieht. Sie beginnt so, dass man „geboren wird von einer Frau“, unter Schmerzen. Aber von der Geburt an läuft sie unentrinnbar ihrem Abbruch entgegen. Und wenn sie einmal zerronnen ist, dann wird man auf unserem Grabstein, außer dem Namen, nur noch dies lesen: das Datum des Anfangs und das des Endes und dazwischen – ein einziger Strich. Man bedenke, was das für den Sohn Gottes bedeutet, daran teilzunehmen. Er hat nicht so Anteil genommen, wie ein Besucher an einem Krankenbett, der bei allem Bedauern gesund daneben sitzt. Er ist gleichsam selber ins Krankenbett gekommen, hat unser Leben in einem befristeten Dasein selber durchgemacht. So sehr hat Gott in seinem Sohn an unserem Dasein Anteil genommen.

Aber das ist nicht alles. Er nahm auch daran Anteil, dass er „unter das Gesetz getan wurde“. Das erinnert daran, dass unser Dasein auch belastet ist, belastet durch das, was der Mensch auf seiner kurzen Wegstrecke aus seinem Leben macht. Er leistet sich da allerhand: Arbeit und Ruhe, Vergnügen und Langeweile, Liebe und Hass, Geistesflug und Gedankenlosigkeit, Aufbauen und Zerstören, Rührseligkeit und Herzenskälte, Schönes und Hässliches. Paulus bringt alles, was von diesem Leben zu sagen ist, auf den einen Nenner: es ist „unter dem Gesetz“. Das heißt hier: es ist verkehrtes Leben. All das Mancherlei ist wie die Zahlen in einer Klammer. Es gibt darin Plus und Minus. Wenn aber das Vorzeichen vor der Klammer negativ ist, wird alles negativ, was in der Klammer steht.

Das Vorzeichen ist negativ; denn der Mensch richtet sich nicht nach Gottes Willen und nach seiner Gnade. Entweder ist er ein Übertreter der Gebote Gottes. Oder, was nach Paulus noch schlimmer ist, er hält sie zwar, aber er hält sich dabei nicht an Gottes Gnade, sondern blickt selbstzufrieden auf sich selbst. So oder so hält sich der Mensch nicht an Gott. So oder so ist dies das verkehrte Vorzeichen, unter dem alles steht. Dasselbe heilsame Gesetz, das Gott ihm gegeben hat, damit er sich an Gott und seine Gnade halte, dasselbe muss ihm nun auf Schritt und Tritt sagen: So einer bist du, einer, der sich nicht an Gott hält und nicht an seine Gnade. Du bist verkehrt. Du hast es nicht verdient, sein Kind zu heißen.

Und genau dorthin ist der Sohn Gottes geraten, indem er Anteil nahm an unserem Dasein. Er ist da an die Seite von uns getreten, die wir das eine oder das andere sind und oft genug beides miteinander. Er ist uns so zur Seite getreten, dass der anklagende Finger des Gesetzes nun genau auf ihn zeigt, wie er auf uns alle zeigen muss: er ganz unschuldig und jetzt doch ganz schuldig. „O Lamm Gottes unschuldig ... All Sünd hast du getragen.“ Manche Weihnachts-Lieder sprechen davon. Paul Gerhardt lässt da singen: „Du hast dich bei uns eingestellt, an unserer Statt zu leiden ...“  Oder Jochen Klepper: „Die Welt liegt heut im Freudenlicht. Dein aber harret das Gericht. Dein Elend wendet keiner ab. Vor deiner Krippe gähnt das Grab. Kyrieeleison.“ Das heißt: Herr erbarme dich.

Doch seine Anteilnahme greift noch weiter. Paulus schreibt: „Da sandte Gott seinen Sohn, damit er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste.“ Er nimmt ganz Anteil an unserem Dasein, geht hinein in den dunklen Stall von Bethlehem und stellt sich unter unsere Vergänglichkeit und Verkehrtheit. Aber seine Anteilnahme an unserem Dasein ist nicht schwach, sondern stark. Sie überlässt uns nicht unserem Schicksal. Sie entreißt uns unserem Schicksal. Sie heilt. Sie macht gesund. Sie befreit. Sie „erlöst“. Sie erlöst uns von der Traurigkeit, die unsere Vergänglichkeit für uns bedeutet. Sie erlöst uns von der schweren Last unserer Verkehrtheit. Auch wenn wir immer noch sterben müssen, er hat uns erlöst. Darum können wir auch im Sterben nicht haltlos werden. Und wenn wir gleichwohl immer noch schuldig werden, so darf das uns nicht mehr irre machen im Vertrauen auf Gottes Vergebung aller Schuld.

So wahr er an der Weihnacht geboren und in unser dunkles Leben gekommen ist, so sehr ist er auch von den Toten auferstanden in ein neues Leben im Licht. So wahr er Anteil genommen hat an unserem Dasein, so wahr gibt er uns als der Auferstandene Anteil an seinem Leben. So wahr er im Stall von Bethlehem der Unsrige geworden ist, so wahr hat er uns an Ostern erklärt, dass wir die Seinigen sind – Brüder und Schwestern des Krippenkindes und darum Gottes Kinder. Dazu hat er uns erlöst, „dass wir die Kindschaft empfingen“, wie Paulus sagt. Seine Kinder, die in allem und trotz allem den einen Trost haben im Leben und im Sterben, wie es im Heidelberger Katechismus heißt, „dass ich nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre, der mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Bösen erlöst hat“. Das hat seine große Liebe getan, als die Zeit erfüllt wurde und Gott seinen Sohn sandte und sich Zeit nahm für uns.

„Ihr seid alle Gottes Kinder durch den Glauben an Jesus Christus“, so hat Paulus kurz vor unserem Predigttext erklärt. Kinder Gottes, das ist ja wohl nicht einfach das, was die Leute „bessere Menschen“ nennen. Sie sind zuweilen ziemlich tollpatschig, werfen Tassen kaputt oder kommen störend dahergepoltert. Wiederum ändert das nichts daran, dass sie Gottes Kinder sind, dass sie zu ihm gehören und von ihm geliebt sind. Auch wenn sie nicht solche „besseren Leute“ sind, so sind sie doch Menschen wie sonst Kinder, die noch sehr unterwegs sind und vieles noch nicht begreifen. Graf Zinzendorf hat gedichtet: „Solche Leute will der König lehren, die ein jedes Kind mit Nutzen hören, und die fröhlich wissen, dass sie Schüler sind und lernen müssen.“

Es gibt bestimmte Merkmale, die anzeigen, dass sie Gottes Kinder sind. Eines der Merkmale ist dies, dass sie Zeit haben. In der Dankbarkeit dafür, dass Gott sich für uns Zeit nimmt, lernen sie auch ihrerseits, sich Zeit zu nehmen. Sie haben ja Zeit zu verschenken, befristete Zeit, aber immerhin doch Zeit, geschenkte Zeit, Zeit, die verdorben ist durch jenes negative Vorzeichen. Aber indem sie sich der Vergebung freuen dürfen, wird ihre Zeit Gnadenfrist. Kinder Gottes sind Menschen, die sich Zeit nehmen für Gott. Die Widerstände dagegen sind groß. Aber man kann sie überwinden und Zeit haben zum Beten, zum Hören auf Gottes Wort, Zeit zum Gottesdienst. So wie man den Josef der Weihnachtsgeschichte auf alten Bilder sehen kann, der einfach da sitzt und schaut in großer Ruhe: „Sehet, was hat Gott gegeben.“                  

Kinder Gottes sind Menschen, die sich daraufhin auch Zeit nehmen füreinander. Sind wir durch Jesus Christus zu Kindern Gottes gemacht, so sind wir damit untereinander Brüder und Schwestern. Also benehmt euch jetzt auch geschwisterlich und habt Zeit füreinander! Denkt in nächster Zeit an die Worte, die wir zu Anfang der Predigt hörten: „Zeithaben für einander bezeichnet den Inbegriff aller Wohltaten, die ein Mensch dem anderen erweisen kann. Wenn ich jemandem meine Zeit wirklich schenke, dann schenke ich ihm eben damit das Eigentlichste, was ich zu verschenken habe, nämlich mich selber.“ 

 

Perikope
25.12.2013
4,4-7