Predigt zu Galater 4,4-7 von Wolfgang Vögele
4,4-7

"Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan,  damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott."

Liebe Gemeinde,

ermüdet sind die Menschen vom Rummel des Geschenkekaufens. Wenn die Feiertage angebrochen sind, sehnen sie sich nach Ruhe und Stille. Im Kreis der Familie zünden sie Kerzen an, singen die alten Weihnachtslieder und riechen den Duft des frisch geschlagenen Tannenbaums. In Wahrheit aber feiern die Christen in der ganzen Ökumene das Fest einer Veränderung, die die menschliche Anschauung übersteigt: Der allmächtige Gott nimmt in einem schreienden Baby Gestalt an. Allmacht wird Ohnmacht.

Und die zweite Veränderung: Vertrauen und Glaube verwandeln die erwachsenen Menschen in Kinder der Freiheit. Wie geschieht das? Schnelle und überraschende Veränderungen der Lebensumstände setzen Menschen, die schon unruhig sind, unter Streß. Sie antworten auf alles Neue, das Handeln und Antworten erfordert, mit Nervosität und Hektik. Paulus dagegen schreibt von den kaum merklichen Veränderungen im Verhältnis zwischen Gott und Menschen. Sie entgehen oft der Aufmerksamkeit der Glaubenden, weil sie so langsam geschehen.

Was ich meine? Neulich, in der Fußgängerzone, traf ich eine Kollegin wieder, die ich seit meinen Studentenjahren nicht mehr gesehen hatte. Das heißt: Eher traf sie mich, denn ich erkannte sie erst nicht wieder. Trotz ihres Grußes, den ich höflich erwidert hatte, ging ich weiter und freute mich über den Gruß einer unbekannten Passantin. Erst als sie meinen Vornamen hinter mir herrief, wurde ich stutzig, hielt an und drehte mich um. Das freundliche Gesicht, das mir entgegen lächelte, löste kein Wiederkennen aus. Sie nannte ihren Vornamen. Ich blieb weiter begriffsstutzig. Sie nannte das theologische Seminar, in dem wir uns kennengelernt hatten. Erst damit kehrte meine Erinnerung zurück. Ich konnte nun Namen, Gesicht und Erinnerung wieder zusammenkleben. Die gemeinsame Geschichte der Freundschaft, die vor Jahren abgebrochen war, stand mir gegenwärtig vor Augen.

Aber die freundliche Frau, die mir nun gegenüber stand, hatte, jedenfalls nach meiner Erinnerung, wenig mit der Studentin gemein. Vor zwanzig Jahren hatte sie sich in der kleinen Universitätsstadt mit mir zusammen auf das Examen vorbereitet. Ich war sprachlos, und ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte gerade noch verhindern, daß mir herausrutschte: Du hast dich aber sehr verändert.

Freunden und Bekannten, die sich nur alle paar Jahre bei einer Geburtstagsfeier sehen, fallen Veränderungen sehr viel schneller auf. Wer täglich mit seinen Kindern frühstückt, Vokabeln paukt und mit ihnen fernsieht, dem fallen die Entwicklungssprünge der eigenen Kinder gar nicht so sehr auf. Eltern fehlt einfach der Abstand, um das körperliche und intellektuelle Wachstum ihrer Kinder wahrzunehmen.

Alltag und stets gleicher Trott der Routine höhlen die Wahrnehmung von Veränderungen aus. Im Alltagsleben fallen die vielen kleinen Tippelschritte des stetigen und unaufhaltsamen Wandels gar nicht auf. Sie verstecken sich unter der Oberfläche der Routine. Menschen verändern sich, in ihrem Aussehen, in ihrem Denken und in ihren Vorlieben. Umso sichtbarer werden diese Veränderungen, wenn ich einen Freund oder eine Bekannte nur alle paar Jahre einmal sehe: Du hast dich aber sehr verändert. Du bist aber alt geworden. Am schlimmsten: Du bist aber gut beieinander. Du bist aber dick geworden.

Und die äußeren Veränderungen lösen leise Befürchtungen aus. Wenn du anders aussiehst, hat sich dann auch dein Denken und Fühlen geändert? Können wir das Vertrauen wieder herstellen, das einmal zwischen uns ganz selbstverständlich geherrscht hat? Oder sollen wir sagen: Wir trinken jetzt einen Milchkaffee, tauschen Erinnerungen an alte gemeinsame Zeiten aus, vielleicht noch die Mailadresse. Und dann lassen wir's. War schön, dich wieder getroffen zu haben. Hinter Freundlichkeit und Höflichkeit verstecken sich gelegentlich Gleichgültigkeit und Enttäuschung. Gemeinsame Wege sind auseinander gelaufen, haben sich voneinander entfernt. Wenn sie dann trotzdem plötzlich wieder zusammen kommen, haben sich frühere Freunde voneinander entfremdet. Enttäuschung macht sich breit: Der ist auch nicht mehr so nett, wie er einmal war.

Leben läßt sich als eine Art Wegenetz verstehen: Freundschaften bilden sich und verlieren sich wieder. Partnerschaften bilden sich und führen hoffentlich auf einen langen gemeinsamen Weg. Kinder erweitern diesen gemeinsamen Weg um eine neue Spur. Und Kinder, wenn sie erwachsen geworden sind, gehen auch wieder eigene Wege. Wem das bewußt geworden ist, der lernt langsam, aber sicher, daß auch die Trennungen, so schmerzlich sie sein mögen, zum Lebensweg gehören.

Wer diese vielen, unmerklichen Veränderungsprozesse des eigenen Lebens erkannt hat, der nimmt manches gelassener, der denkt aber auch nicht nur in  der Gegenwart des Alltags. Der denkt auch an das Ende des Lebensweges. Was ist so wertvoll und wichtig, daß ich es weitergeben will? Was taugt nur noch zum Entrümpeln und Abwracken? Was kann ich mitnehmen, wenn ich die letzten Tage meines Lebens im kühlen, weiß gestrichenen Zimmer eines Pflegeheims verbringe? Was kann ich vererben? Es kann weiterhelfen, die Frage in umgekehrter Richtung zu stellen. Was habe ich von meinen Eltern und Großeltern geerbt? Was habe ich mitgenommen? Was war mir gleichgültig?

Liebe Gemeinde, ich will Ihnen nicht Lebensweisheiten ohne Weihnachtsfreude predigen, sondern vielmehr Weihnachtsfreude, angereichert mit Lebensweisheit. Paulus redet in schwergewichtigen, beinahe trägen Worten von denselben Veränderungen des Lebens, mit denen sich Menschen beschäftigen, die älter werden. Er spurt sich ein auf die Lebensbahn von Kindern, Knechten und Erben. Das führt ihn nicht zu einer Lebenskunst des Altwerdens, sondern in eine Glaubenslehre der Veränderungen. Im Leben werden Menschen alt, im Glauben werden sie zu Kindern. Die Weisheit des Alters ist Demut und Einsicht in die schwindenden Kräfte. Der Glaube des Alters ist neue jugendliche Hoffnung.

Wir hören, daß Paulus von Kindern redet, und ahnen die Veränderungen, die darin für einen Menschen stecken. Denn jeder Mensch war einmal ein unwissendes, sprachloses, nur schreiendes Kind, das auf die Hilfe seiner fürsorgenden Eltern angewiesen war. Und alle Kinder haben sich aus diesem frühen Stadium herausentwickelt, wurden älter, erwachsener, reifer, konnten lernen und Lebenserfahrungen sammeln.  Wer diesen Veränderungsprozeß nicht wahrhaben will, macht erwachsene Menschen klein. Nichts ist schlimmer als Großmütter und Mütter, die lebenslang in ihren Töchtern und Enkeln nur die immer kleinen Babys sehen, die diesen süßen rosa getupften Strampelanzug tragen. Sie wollen ihre Söhne, Töchter und Enkel nicht als erwachsene, veränderte Menschen annehmen. Der Grund dafür ist ganz einfach: Mit erwachsenen Kindern kann man leichter Machtspielchen treiben, wenn man sie klein und bedürftig hält.

Auch das Wort "Knecht" ist so ein starrer Begriff, in dem große Veränderungen stecken. Knechte sind auf ihre Herren angewiesen und umgekehrt die Herren auf ihre Knechte. Und das Spiel der erstarrten Machtverhältnisse besteht in seinem Kern darin, diese gegenseitige Abhängigkeit nicht an- und auszusprechen und vor allem nicht anzutasten. Aber darüber steht viel Klügeres bei Marx und Hegel.

Zuletzt ist das Wort "Erbe" ist ein Wort der großen Veränderung, welche in diesem Fall über die Grenze des Todes hinausreicht. Was gebe ich denen weiter, die nach mir kommen? Wie werden Kinder und Enkel mit der Entscheidung umgehen, die der Erblasser in seinem Testament bestimmt hat? Zum Erben wird man durch ein Testament, das ein Notar den begünstigten Familienmitgliedern vorliest. Ein Testament ist ein Vertrag für die Zukunft, über den Tod hinaus. Der, der sein Testament aufsetzt, denkt an seine eigenen Dinge. Er gibt sie denen, die noch leben, wenn er selbst nicht mehr leben wird. Die Erben stehen nach der Vollstreckung des Testaments in einer Beziehung zu einem Menschen, den sie gekannt haben, der aber gar nicht mehr lebt.

Kinder, Knechte, Erben: Paulus bezieht sich auf die selbstverständlichen Veränderungen des Lebens, wenn er von den Veränderungen des Glaubens redet. Das unscheinbare Kind in der Krippe macht die erwachsenen Menschen, die glauben, wieder zu neuen Kindern. Das Kind in der Krippe stiftet Veränderungsprozesse des Glaubens. Glauben heißt: wieder zum Kind werden. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ein kurzer Einschub für Konfirmanden: Glauben heißt nicht: kindisch werden. Zwischen Kind-Werden und Kindisch-Werden besteht ein Unterschied, der ist so groß wie der Unterschied zwischen Markenklamotten und kopiertem Billigschund vom Trödelmarkt.

Wer glaubt, wird zum Kind. Wer wieder zum Kind wird, knüpft an neue, alte Bindungen an. Das Herz findet einen anderen, den göttlichen Vater. Darin liegt die weihnachtliche Revolution von Familie und Frömmigkeit. Im Glauben wird der Mensch zum Kind, und der allmächtige Gott wird zum gnädigen, liebenden Vater. Paulus schreibt den Glaubenden eine gänzliche neue Familienaufstellung ins Herz. Familiäre Bindungen werden völlig neu justiert. Das Testament wird neu geschrieben, das Erbe wird neu verteilt. Macht wird neu zugeordnet, die politischen und sozialen Verhältnisse kommen ins Tanzen. Aus Knechten werden Herren und umgekehrt. Eine angenehme Aussicht nach dem Streit um die Geschenke, der unter dem Tannenbaum den alljährlichen Ärger am Heiligen Abend verursacht hat.

Ich stelle mir den Glauben wie einen Jungbrunnen vor, denn er macht die Menschen zu Kindern. Niemand würde es für eine verlockende Aussicht halten, wenn Kindheit hier meinen würde: Ich bin abhängig von Vater und Mutter, ich muß früh ins Bett und stets das machen, was mir gesagt wird. Die geistliche Kindheit, von der Paulus spricht, zielt nicht auf die Zwänge, sondern auf die vielfältigen Chancen des Kinderlebens.

Kinder können über Kleinigkeiten staunen. Erwachsene haben um sich herum eine Mauer aus Achtlosigkeit gebaut. Kinder besitzen eine besondere Unmittelbarkeit und Direktheit, welche alle distanzierenden Mauern von Schüchternheit und Höflichkeit durchbricht. Kinder lassen sich nicht scheu machen durch Konventionen und überflüssige Moralregeln.

An Weihnachten wird Gott Mensch. Und diese Menschen werden zu Kindern und später zu Erben. Die geistliche Kindheit richtet sich auf Staunen, Unschuld, Freiheit und Hoffnung.

Das erwachsene Kind des Glaubens durchbricht die spröden Mauern der Selbstverständlichkeit, der Routine und der Langeweile. Es lernt neu, Menschen und Dinge zum ersten Mal zu sehen. Wer etwas zum ersten Mal sieht, ist fasziniert und ergriffen, im Herzen bezaubert von einer wunderbaren Welt der Anfänge, Chancen und Möglichkeiten. Gott hat für die Menschen die staunenswerte Vielfalt der Schöpfung geschaffen. Die Kindheit des Glaubens lebt ohne Quengelei und Querulantentum.

Erwachsensein ist charakterisiert durch Fehler, durch falsche Entscheidungen, durch den Bruch all der Regeln, die zum Schutz der Würde anderer aufgestellt wurden. Erwachsensein ist Leben am Gesetz vorbei. In der Sprache des Glaubens heißt das: Sünde. Wer sich beschenken läßt durch die Kindschaft des Glaubens, den spricht Gott von der Sünde frei. Die Kindheit des Glaubens ist ein neuer Zustand der Unschuld, der Annahme durch den gerechten Gott. Sie ist die Gnade des neuen Anfangs, welche die schweren Ketten schuldhafter Verstrickungen in der Vergangenheit zurückläßt. Die Kinder des Glaubens sind frei gesprochen.

Die Kindheit des Glaubens, die durch das Wunder von Weihnachten entsteht, stiftet eine neue Freiheit. Diese Freiheit ermöglicht neue Wege, das Verlassen der alten gewohnten Lebensbahnen, Schritte in die Zukunft hinein, entlang der Wegmarken des Vertrauens, welche Gott setzt. Diese Freiheit macht die erwachsenen Kinder des Glaubens fähig, alte Fehler nicht mehr zu wiederholen. Diese Freiheit wird nicht beschränkt durch die Grenzen eines autoritären Gottes, der Blitze schleudert, wo die Menschen Grenzen überschreiten. Dieses Gottesbild gehört nach Weihnachten der Vergangenheit an. Die Freiheit, die aus dem Glauben entsteht, lebt von einem Gott, der sich Vater nennen läßt und sich auch wie ein gnädiger und barmherziger Vater verhält.

Weihnachten macht Gott zu einem schutzbedürftigen kleinen Menschen. Weihnachten macht uns alle zu Kindern des Glaubens. Wir werden zu Kindern, um neue Lebensmöglichkeiten und Zukunft zu gewinnen. Alte Menschen resignieren oft. Sie sind der Überzeugung, daß sie das Leben hinter sich haben. Wer glaubt und neu zum Kind geworden ist, hat das Leben vor sich. Ihm öffnet sich die Hoffnung, daß Gott Zukunft schafft. Das ist der Kern der Weihnachtsfreude. Sie ist zugleich erwachsen und kindlich. Amen.

Perikope
25.12.2013
4,4-7