Predigt zu Genesis 50, 15-21 von Hans Theodor Goebel
50,15
15. Als nun die Brüder Josephs sahen, dass ihr Vater gestorben war, sprachen sie: Wie? Wenn nun Joseph feindlich gegen uns vorgeht und uns all das Böse heimzahlt, das wir ihm angetan haben?
16. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tod:
17. So sollt ihr zu Joseph sprechen: Ach, vergib doch die Missetat deiner Brüder und ihre Sünde, dass sie so Böses an dir getan haben! Nun vergib doch angesichts der Missetat der Knechte des Gottes deines Vaters! Aber Joseph weinte, als sie so zu ihm sprachen.
18. Dann gingen auch seine Brüder selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.
19. Joseph aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Stelle?
20. Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.
21. So fürchtet euch nun nicht. Ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete ihnen zu Herzen.
Mit diesen Worten kommt die biblische Josephsgeschichte auf ihren Höhepunkt und an ihr Ende. Die Geschichte von einem Geschwisterkonflikt, in dem Schlimmes geschah. Das wird unter den Beteiligten auch deutlich ausgesprochen: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen.“
Doch die Geschichte endet nicht böse. Schuld, die zwischen den Geschwistern steht, wird überwunden.
Wenn das doch öfter geschähe! Wenn Konflikte doch öfter gelöst werden könnten und Schuld und Vorwürfe nicht auf Dauer trennten!
Wie war es zugegangen zwischen Joseph und seinen Brüdern? Nehmen wir uns Zeit, der biblischen Geschichte nachzuhören. Möglich, dass wir aus ihr lernen können für unsern Umgang mit Konflikten und so klüger fürs Leben werden.
Als junger Bursch hatte Joseph seine älteren Brüder maßlos gereizt. Er, der vorgezogene und besonders beschenkte Liebling des Vaters im bunten Rock hatte den Brüdern erzählt, ihm habe geträumt.
Sie hätten auf dem Feld Ähren gebunden und ihre, der elf Brüder Garben hätten sich verneigt vor seiner Garbe.
In einem anderen Traum hätten sich gar Sonne, Mond und elf Sterne vor ihm verneigt. Das brachte die Brüder gegen ihn auf. Und selbst dem Vater Jakob war das zu viel. Er schalt Joseph wegen seiner Reden. Und behielt dessen Träume doch im Sinn. Weiß der Himmel, was sie bedeuteten?
Die Brüder zahlten Joseph seine Überheblichkeit heim. Auf weit entlegenem Weidefeld warfen sie ihn in eine Grube und verkauften ihn wenig später an eine Sklavenkarawane, die nach Ägypten zog.
Ihrem Vater Jakob aber sandten sie aus der Ferne Josephs blutverschmierte Kleidung und ließen ihm sagen: Sieh zu, ob es der Rock deines Sohnes ist. Da musste der Alte annehmen, ein wildes Tier habe Joseph zerrissen. Und weinte und wollte sich von niemand trösten lassen.
Joseph nun hatte als Sklave in Ägypten großes Glück. Was er tat, tat er mit Umsicht. Und alles, was er anpackte, gelang ihm, Gott war mit ihm, wie es heißt. Er erwarb sich Anerkennung und Gunst. Stieg auf und wurde dann ganz in die Tiefe gestoßen, auf Grund falscher Anklage rechtlos ins Gefängnis geworfen. Aber auch hier war Gott mit ihm und er nicht ohne Fortune. Doch es dauerte Jahre, bis er in höchste Höhen aufstieg. Als er wie sonst keiner dem Pharao seine Träume deuten konnte.
Sieben fette Kühe, so hatte dem Pharao geträumt, seien aufgefressen worden von sieben mageren, die nach ihnen aus dem Nil stiegen. Und sieben volle Ähren seien verschlungen worden von sieben leeren und mageren Ähren.
Mit diesen Träumen, so deutete Joseph, will Gott dem Pharao zeigen, was er in nächster Zukunft vorhat. Es werden in Ägypten sieben reiche Erntejahre kommen und danach sieben Hungerjahre. So suche nun der Pharao einen verständigen und weisen Mann, den er über Ägypten setze und der Vorsorge treffe.
Da fiel dem Pharao kein besserer als Joseph ein. Er bestellte ihn zu seinem Vizekönig. Joseph wurde zweitmächtigster Mann in Ägypten. In dieser Stellung sammelte er in den sieben reichen Jahren, die anbrachen, den Überfluss an Korn und speicherte ihn in den Städten – so viel, dass man’s nicht mehr messen konnte. Als dann die Hungerjahre kamen und Not die Menschen drückte, öffnete Joseph die staatlichen Speicher, verkaufte Korn und hielt die Bevölkerung am Leben.
Das sprach sich herum. Auch in den Nachbarländern. Denn die Hungersnot hatte Ägyptens Grenzen längst überschritten.
So kamen neben vielen anderen auch Josephs Brüder aus Kanaan nach Ägypten, um dort Korn zu kaufen. In dem hohen Beamten des Pharao erkannten sie Joseph nicht. Er sie aber wohl. Doch gab er sich fremd. Stellte die Brüder unter Spionageverdacht. Fragte sie bohrend nach ihren Familienverhältnissen aus und sie mussten alles berichten: von ihrem alten Vater, von Benjamin, dem Jüngsten, der Jakob im Alter geboren worden und jetzt zu Hause geblieben war. Und sie sagten auch: Ein Bruder ist nicht mehr vorhanden.
Da meldete sich der Schatten Josephs, des Verschollenen. Die Schuld vergangenen Tuns.
Joseph lässt dann die Brüder mit Getreide nach Hause ziehen. Stellt aber die Bedingung, sie dürften nur wiederkommen, wenn sie ihren jüngsten Bruder mitbrächten. Zum Beweis, dass sie die Wahrheit gesagt hätten. Genau das wird dem alten Vater Jakob schwer. Er fürchtet, nun auch noch Benjamin zu verlieren. Jakob sträubt sich. Bis die Hungersnot ihn zwingt, einzuwilligen. Denn es geht jetzt um den Lebenserhalt der ganzen Familie. So reisen die Brüder wieder, Brot zu kaufen in Ägypten. Und Benjamin mit dabei.
Joseph stellt sich beim zweiten Zusammentreffen mit den Brüdern noch härter. Zunächst bewirtet er sie großzügig und mit aller Freundlichkeit. Besonders den jüngsten, der ja als einziger von den Brüdern dieselbe Mutter hat wie Joseph.
Dann jedoch arrangiert Joseph die Vortäuschung eines Diebstahls, überführt Benjamin als Täter und droht, ihn in Schuldhaft zu nehmen. Benjamins Unschuld ist nicht beweisbar, die Brüder haben gegenüber Joseph keine Chance. Werden sie jetzt, um die eigene Haut zu retten, den jüngsten Bruder preisgeben und in Ägypten lassen – so wie sie vor Jahren Joseph dorthin verkauft hatten? Da sagt Juda, einer von den älteren Brüdern, in einer bewegenden Rede zu Joseph:
Nimm mich in Haft! Ich habe bei unserem Vater für Benjamin gebürgt. Käme der nicht mit nach Hause, brächten wir die grauen Haare unseres Vaters mit Herzeleid zu den Toten.
Da kann sich Joseph nicht mehr halten. Er fängt an, laut zu weinen und gibt sich zu erkennen. „Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Und nun beunruhigt euch nicht und macht euch keine Vorwürfe …Denn zur Lebensrettung in der Hungersnot hat mich Gott vor euch her gesandt. Nicht ihr habt mich her gesandt…“
Geht und holt unsern Vater Jakob hierher. Und eure Familien und euer Vieh. Ich will euch hier im Land versorgen.
Wie die Brüder nach Hause kommen und ihrem Vater erzählen: „Joseph lebt noch und ist Herr über Ägypten“, bleibt sein Herz kalt. Er glaubt ihnen nicht. Bis er schließlich eines Besseren überführt wird, nach Ägypten übersiedelt, Joseph da wieder sieht, noch gute Jahre erlebt, und zuletzt in Frieden im Kreis der Seinen stirbt.
Hier setzt unser Predigttext ein.
Bei einer Situation, wie sie Geschwister auch heute noch erleben können. Solange die alte Mutter oder der Vater noch lebt, halten sie untereinander Ruhe. Aber dann, wenn sie unter sich allein sind, brechen die unerledigten Konflikte mit Macht auf. Ohne Rücksicht werden jetzt alte Rechnungen aufgemacht. So kommt Josephs Brüdern alsbald nach Jakobs Tod die bange Frage:
Hat der Bruder uns nicht nur um des Vaters willen geschont und wird uns jetzt all das Böse heimzahlen, das wir ihm angetan haben?
Die Brüder lassen sich von ihrer Angst nicht lähmen. Sie werden aktiv, sie wollen verhindern, wovor sie Angst haben. Selbst treten sie Joseph noch nicht unter die Augen. Zunächst schicken sie ihm eine Botschaft und bitten ihn um Vergebung für das Böse, das sie ihm angetan haben. „Nimm doch weg von deinen Brüdern die Missetat und die Schuld…“
Das war der Wille deines Vaters, sagen sie. Noch vor seinem Tod hat er uns befohlen, dich so zu bitten. Er wollte, dass wir zusammen leben und uns nicht das Leben nehmen.
Und noch etwas führen sie an, um ihre Vergebungsbitte zu begründen. „Vergib die Missetat der Knechte des Gottes deines Vaters“ - sagen die Brüder zu Joseph. Wir dienen demselben Gott wie dein Vater. Vergebung hat für sie etwas zu tun mit Gott, dem Eltern und Kinder gemeinsam dienen. Muss Joseph das nicht bedenken?
Wie reagiert er auf diese Botschaft? Er weint,
wie er sie hört.
Da tun die Brüder den zweiten Schritt und treten Joseph unter die Augen. Sie werfen sich vor ihm nieder und sagen: Hier, wir sind deine Knechte.
Kommt da nicht die Erinnerung auf an die Träume, die Joseph in seiner Jugend gehabt und die sein Vater im Sinn behalten hatte?
Kniefall und Worte der Brüder wirken als Selbstunterwerfung. Man ist geneigt, an ein Tier zu denken, das im Kampf mit seinem Artgenossen unterlegen ist, und ihm nun wehrlos seinen Hals darbietet.
Du hast jetzt die Macht, mit uns zu machen, was du willst.
Da sagt Joseph: Fürchtet euch nicht! Er will ihnen das Böse nicht heimzahlen. Er hat es ihnen ja schon früher gesagt: Wegen eurer Missetat an mir soll euch euer Gewissen nicht mehr beschweren. Ihr sollt euch deswegen nicht mehr selbst zürnen und quälen. Ihr sollt auch von euren eigenen Schuldvorwürfen frei sein. So weit kann Vergebung reichen!
Ich will und ich kann euch das Böse nicht heimzahlen, sagt Joseph. “ Gott hat doch längst gesprochen und euch frei gesprochen. Was ihr getan habt, hat keine Macht mehr über unser Leben. Gott hat neue Tatsachen geschaffen. Stehe ich denn an Gottes Stelle? Kann ich das außer Kraft setzen. „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“
Im Blick auf sein Leben, im Blick auf die Tiefen, in die er hinab musste, und im Blick auf die Höhen, die er mit Klugheit und Geschick erreicht hat, sagt Joseph: Gott hat es gut gemacht. Er hat das, was ihr böse gedacht und gemacht habt, zum dem Guten gewendet, das er zu tun gedachte.
Sein Plan war von Anfang an, unsre Familie aus der Hungersnot retten – und die Ägypter auch.
Unausgesprochen klingt hier an, dass Gottes Plan noch weiter reicht: Er will das Volk Israel groß werden lassen und am Leben zu erhalten als seinen Segensträger für die Völkerwelt. Wie er versprochen hat.
„Fürchtet euch nun nicht. Ich will euch und eure Kinder versorgen.“ So tröstete Joseph seine Brüder und redete freundlich zu ihnen. Er redete zu ihren Herzen.
Was hier als Konfliktlösung zwischen Joseph und seinen Brüdern erzählt wird, mag uns umständlich vorkommen. Ein Ausleger hat es verstanden als eine förmliche Zeremonie in mehreren Akten. Einschließlich „Demutsgebärden“ auf der einen und Weinen auf der anderen Seite. Eine Zeremonie, in der mehrfach um Vergebung gebeten und von Täter- wie von Opferseite das geschehene Böse benannt wird.
Möglicherweise haben solche Bittzeremonien den Alten zur Konfliktlösung geholfen.
Vielleicht stimmt es, dass solche Formen oder Förmlichkeiten es leichter machen, mit Schuld und Vergebung umzugehen. Sie sind „geregelte Verhaltensmuster“, man kann sie erlernen.
Wir modernen Menschen haben solche Formen für Schuldbekenntnis und Vergebung nicht mehr selbstverständlich zur Hand.
Aber auch so können wir aus der Josephsgeschichte lernen für unsre Konfliktlösungen. Ich möchte ein paar Punkte nennen:
• Selbst aktiv werden und sich vom Verhängnis der bösen Geschichte und von der Angst nicht lähmen lassen.
• Gegenüber den anderen aussprechen, was wir Böses getan und Böses erlitten haben.
• Um Vergebung bitten. Ja, förmlich den andern bitten. Nicht nur in der hingehuschten Formel „Ich entschuldige mich“ und dann soll alles gut sein.
• Und suchen nach dem, was mir und meinen Geschwistern gemeinsam ist und es voreinander ins Bewusstsein rufen: Was wäre im Sinn unsres Vaters, unsrer Mutter gewesen.
• Und uns auf Gott besinnen: Ist er nicht unser gemeinsamer Gott und hat schon gnädig an uns gehandelt?
Das heißt und garantiert nicht, dass alle Konfliktgeschichten, die böse begonnen haben, gut ausgehen. Nicht im Vornehinein können wir das sagen und schon gar nicht für jeden Fall. Nur im Einzelfall und nur vom Ende her kann einer zu den anderen sagen: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen. Wie es jetzt am Tage ist.“
Das gute Ende ist aber nicht in jeder Lebensgeschichte am Tage. Viele Geschichten bleiben unüberwindbar böse. Beste Strategien greifen nicht. Konflikte schwelen weiter. Alte Schuld wirft ihre Schatten aufs Leben. Und manchen von uns bleibt nur das Schreien, - das Schreien aber auch zu Gott!
Wo ist Gott in unseren Lebensgeschichten? Wo wirkt er und wie wirkt er?
Wir finden in der Josephsgeschichte kein außergewöhnliches Eingreifen Gottes. Menschen haben da gehandelt, wie sie gedachten zu handeln. Die Brüder böse und haben später aus ihrer Schuld umgelernt. Joseph geschickt und großzügig. Der Pharao gutem Rat zugänglich.
Gott - sagt die Josephsgeschichte - hat gehandelt, indem Menschen handelten. Sein Wirken ist verborgen in ihrem Wirken, in ihrem Planen und Tun. Manchmal hat er es umgedreht. Sie handelten böse, er hat durch ihr böses Handeln seinen guten Plan ausgeführt. Das böse Handeln lässt er nicht in seiner Eigendynamik immer neu Böses erzeugen. Er hat es in schon in seinen Dienst gestellt. Wollen wir uns dann an seine Stelle stellen und das Böse weiter treiben?
Die Josephsgeschichte will uns Mut machen, auf dieses Wirken Gottes zu vertrauen. Auch wenn wir noch schreien müssen.
Der Gott Israels und Vater Jesu Christi hat über unser Bitten und Verstehen hinaus Leben im Sinn. Eine gemeinsame Zukunft für uns, die wir so und so aneinander handeln. Auch all die unerledigten Geschichten hat er in seiner Hand und macht uns Mut, zu glauben und zu hoffen und zu beten, wie Bonhoeffer es gesagt hat in böser Zeit:
„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen kann und will. Dazu braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“ Amen.
Literatur:
• Gerhard von Rad, Die Josephsgeschichte, in: Ders., Gottes Wirken in Israel, Neukirchen-Vluyn 1974, 22-41
• Gerhard von Rad, Biblische Josephsgeschichte und Josephsroman, in: Gottes Wirken in Israel, 285-304
• Gerhard von Rad, Josephsgeschichte und ältere Chokma (1953), in: Ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, München 1958, 272-280
• Gerhard von Rad, Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2/4), Göttingen 1963
• Erhard Gerstenberger, 4. Sonntag nach Trinitatis. 1. Mose 50,15-22a, in: hören und fragen. Eine Predigthilfe, hg. V. Arnold Falkenroth und Heinz Joachim Held, 3/2, Neukirchen-Vluyn 1975,59-68
• Claus Westermann, Biblischer Kommentar Altes Testament Genesis (I,22.23), Neukirchen-Vluyn 1982
16. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tod:
17. So sollt ihr zu Joseph sprechen: Ach, vergib doch die Missetat deiner Brüder und ihre Sünde, dass sie so Böses an dir getan haben! Nun vergib doch angesichts der Missetat der Knechte des Gottes deines Vaters! Aber Joseph weinte, als sie so zu ihm sprachen.
18. Dann gingen auch seine Brüder selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.
19. Joseph aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Stelle?
20. Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.
21. So fürchtet euch nun nicht. Ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete ihnen zu Herzen.
Mit diesen Worten kommt die biblische Josephsgeschichte auf ihren Höhepunkt und an ihr Ende. Die Geschichte von einem Geschwisterkonflikt, in dem Schlimmes geschah. Das wird unter den Beteiligten auch deutlich ausgesprochen: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen.“
Doch die Geschichte endet nicht böse. Schuld, die zwischen den Geschwistern steht, wird überwunden.
Wenn das doch öfter geschähe! Wenn Konflikte doch öfter gelöst werden könnten und Schuld und Vorwürfe nicht auf Dauer trennten!
Wie war es zugegangen zwischen Joseph und seinen Brüdern? Nehmen wir uns Zeit, der biblischen Geschichte nachzuhören. Möglich, dass wir aus ihr lernen können für unsern Umgang mit Konflikten und so klüger fürs Leben werden.
Als junger Bursch hatte Joseph seine älteren Brüder maßlos gereizt. Er, der vorgezogene und besonders beschenkte Liebling des Vaters im bunten Rock hatte den Brüdern erzählt, ihm habe geträumt.
Sie hätten auf dem Feld Ähren gebunden und ihre, der elf Brüder Garben hätten sich verneigt vor seiner Garbe.
In einem anderen Traum hätten sich gar Sonne, Mond und elf Sterne vor ihm verneigt. Das brachte die Brüder gegen ihn auf. Und selbst dem Vater Jakob war das zu viel. Er schalt Joseph wegen seiner Reden. Und behielt dessen Träume doch im Sinn. Weiß der Himmel, was sie bedeuteten?
Die Brüder zahlten Joseph seine Überheblichkeit heim. Auf weit entlegenem Weidefeld warfen sie ihn in eine Grube und verkauften ihn wenig später an eine Sklavenkarawane, die nach Ägypten zog.
Ihrem Vater Jakob aber sandten sie aus der Ferne Josephs blutverschmierte Kleidung und ließen ihm sagen: Sieh zu, ob es der Rock deines Sohnes ist. Da musste der Alte annehmen, ein wildes Tier habe Joseph zerrissen. Und weinte und wollte sich von niemand trösten lassen.
Joseph nun hatte als Sklave in Ägypten großes Glück. Was er tat, tat er mit Umsicht. Und alles, was er anpackte, gelang ihm, Gott war mit ihm, wie es heißt. Er erwarb sich Anerkennung und Gunst. Stieg auf und wurde dann ganz in die Tiefe gestoßen, auf Grund falscher Anklage rechtlos ins Gefängnis geworfen. Aber auch hier war Gott mit ihm und er nicht ohne Fortune. Doch es dauerte Jahre, bis er in höchste Höhen aufstieg. Als er wie sonst keiner dem Pharao seine Träume deuten konnte.
Sieben fette Kühe, so hatte dem Pharao geträumt, seien aufgefressen worden von sieben mageren, die nach ihnen aus dem Nil stiegen. Und sieben volle Ähren seien verschlungen worden von sieben leeren und mageren Ähren.
Mit diesen Träumen, so deutete Joseph, will Gott dem Pharao zeigen, was er in nächster Zukunft vorhat. Es werden in Ägypten sieben reiche Erntejahre kommen und danach sieben Hungerjahre. So suche nun der Pharao einen verständigen und weisen Mann, den er über Ägypten setze und der Vorsorge treffe.
Da fiel dem Pharao kein besserer als Joseph ein. Er bestellte ihn zu seinem Vizekönig. Joseph wurde zweitmächtigster Mann in Ägypten. In dieser Stellung sammelte er in den sieben reichen Jahren, die anbrachen, den Überfluss an Korn und speicherte ihn in den Städten – so viel, dass man’s nicht mehr messen konnte. Als dann die Hungerjahre kamen und Not die Menschen drückte, öffnete Joseph die staatlichen Speicher, verkaufte Korn und hielt die Bevölkerung am Leben.
Das sprach sich herum. Auch in den Nachbarländern. Denn die Hungersnot hatte Ägyptens Grenzen längst überschritten.
So kamen neben vielen anderen auch Josephs Brüder aus Kanaan nach Ägypten, um dort Korn zu kaufen. In dem hohen Beamten des Pharao erkannten sie Joseph nicht. Er sie aber wohl. Doch gab er sich fremd. Stellte die Brüder unter Spionageverdacht. Fragte sie bohrend nach ihren Familienverhältnissen aus und sie mussten alles berichten: von ihrem alten Vater, von Benjamin, dem Jüngsten, der Jakob im Alter geboren worden und jetzt zu Hause geblieben war. Und sie sagten auch: Ein Bruder ist nicht mehr vorhanden.
Da meldete sich der Schatten Josephs, des Verschollenen. Die Schuld vergangenen Tuns.
Joseph lässt dann die Brüder mit Getreide nach Hause ziehen. Stellt aber die Bedingung, sie dürften nur wiederkommen, wenn sie ihren jüngsten Bruder mitbrächten. Zum Beweis, dass sie die Wahrheit gesagt hätten. Genau das wird dem alten Vater Jakob schwer. Er fürchtet, nun auch noch Benjamin zu verlieren. Jakob sträubt sich. Bis die Hungersnot ihn zwingt, einzuwilligen. Denn es geht jetzt um den Lebenserhalt der ganzen Familie. So reisen die Brüder wieder, Brot zu kaufen in Ägypten. Und Benjamin mit dabei.
Joseph stellt sich beim zweiten Zusammentreffen mit den Brüdern noch härter. Zunächst bewirtet er sie großzügig und mit aller Freundlichkeit. Besonders den jüngsten, der ja als einziger von den Brüdern dieselbe Mutter hat wie Joseph.
Dann jedoch arrangiert Joseph die Vortäuschung eines Diebstahls, überführt Benjamin als Täter und droht, ihn in Schuldhaft zu nehmen. Benjamins Unschuld ist nicht beweisbar, die Brüder haben gegenüber Joseph keine Chance. Werden sie jetzt, um die eigene Haut zu retten, den jüngsten Bruder preisgeben und in Ägypten lassen – so wie sie vor Jahren Joseph dorthin verkauft hatten? Da sagt Juda, einer von den älteren Brüdern, in einer bewegenden Rede zu Joseph:
Nimm mich in Haft! Ich habe bei unserem Vater für Benjamin gebürgt. Käme der nicht mit nach Hause, brächten wir die grauen Haare unseres Vaters mit Herzeleid zu den Toten.
Da kann sich Joseph nicht mehr halten. Er fängt an, laut zu weinen und gibt sich zu erkennen. „Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Und nun beunruhigt euch nicht und macht euch keine Vorwürfe …Denn zur Lebensrettung in der Hungersnot hat mich Gott vor euch her gesandt. Nicht ihr habt mich her gesandt…“
Geht und holt unsern Vater Jakob hierher. Und eure Familien und euer Vieh. Ich will euch hier im Land versorgen.
Wie die Brüder nach Hause kommen und ihrem Vater erzählen: „Joseph lebt noch und ist Herr über Ägypten“, bleibt sein Herz kalt. Er glaubt ihnen nicht. Bis er schließlich eines Besseren überführt wird, nach Ägypten übersiedelt, Joseph da wieder sieht, noch gute Jahre erlebt, und zuletzt in Frieden im Kreis der Seinen stirbt.
Hier setzt unser Predigttext ein.
Bei einer Situation, wie sie Geschwister auch heute noch erleben können. Solange die alte Mutter oder der Vater noch lebt, halten sie untereinander Ruhe. Aber dann, wenn sie unter sich allein sind, brechen die unerledigten Konflikte mit Macht auf. Ohne Rücksicht werden jetzt alte Rechnungen aufgemacht. So kommt Josephs Brüdern alsbald nach Jakobs Tod die bange Frage:
Hat der Bruder uns nicht nur um des Vaters willen geschont und wird uns jetzt all das Böse heimzahlen, das wir ihm angetan haben?
Die Brüder lassen sich von ihrer Angst nicht lähmen. Sie werden aktiv, sie wollen verhindern, wovor sie Angst haben. Selbst treten sie Joseph noch nicht unter die Augen. Zunächst schicken sie ihm eine Botschaft und bitten ihn um Vergebung für das Böse, das sie ihm angetan haben. „Nimm doch weg von deinen Brüdern die Missetat und die Schuld…“
Das war der Wille deines Vaters, sagen sie. Noch vor seinem Tod hat er uns befohlen, dich so zu bitten. Er wollte, dass wir zusammen leben und uns nicht das Leben nehmen.
Und noch etwas führen sie an, um ihre Vergebungsbitte zu begründen. „Vergib die Missetat der Knechte des Gottes deines Vaters“ - sagen die Brüder zu Joseph. Wir dienen demselben Gott wie dein Vater. Vergebung hat für sie etwas zu tun mit Gott, dem Eltern und Kinder gemeinsam dienen. Muss Joseph das nicht bedenken?
Wie reagiert er auf diese Botschaft? Er weint,
wie er sie hört.
Da tun die Brüder den zweiten Schritt und treten Joseph unter die Augen. Sie werfen sich vor ihm nieder und sagen: Hier, wir sind deine Knechte.
Kommt da nicht die Erinnerung auf an die Träume, die Joseph in seiner Jugend gehabt und die sein Vater im Sinn behalten hatte?
Kniefall und Worte der Brüder wirken als Selbstunterwerfung. Man ist geneigt, an ein Tier zu denken, das im Kampf mit seinem Artgenossen unterlegen ist, und ihm nun wehrlos seinen Hals darbietet.
Du hast jetzt die Macht, mit uns zu machen, was du willst.
Da sagt Joseph: Fürchtet euch nicht! Er will ihnen das Böse nicht heimzahlen. Er hat es ihnen ja schon früher gesagt: Wegen eurer Missetat an mir soll euch euer Gewissen nicht mehr beschweren. Ihr sollt euch deswegen nicht mehr selbst zürnen und quälen. Ihr sollt auch von euren eigenen Schuldvorwürfen frei sein. So weit kann Vergebung reichen!
Ich will und ich kann euch das Böse nicht heimzahlen, sagt Joseph. “ Gott hat doch längst gesprochen und euch frei gesprochen. Was ihr getan habt, hat keine Macht mehr über unser Leben. Gott hat neue Tatsachen geschaffen. Stehe ich denn an Gottes Stelle? Kann ich das außer Kraft setzen. „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“
Im Blick auf sein Leben, im Blick auf die Tiefen, in die er hinab musste, und im Blick auf die Höhen, die er mit Klugheit und Geschick erreicht hat, sagt Joseph: Gott hat es gut gemacht. Er hat das, was ihr böse gedacht und gemacht habt, zum dem Guten gewendet, das er zu tun gedachte.
Sein Plan war von Anfang an, unsre Familie aus der Hungersnot retten – und die Ägypter auch.
Unausgesprochen klingt hier an, dass Gottes Plan noch weiter reicht: Er will das Volk Israel groß werden lassen und am Leben zu erhalten als seinen Segensträger für die Völkerwelt. Wie er versprochen hat.
„Fürchtet euch nun nicht. Ich will euch und eure Kinder versorgen.“ So tröstete Joseph seine Brüder und redete freundlich zu ihnen. Er redete zu ihren Herzen.
Was hier als Konfliktlösung zwischen Joseph und seinen Brüdern erzählt wird, mag uns umständlich vorkommen. Ein Ausleger hat es verstanden als eine förmliche Zeremonie in mehreren Akten. Einschließlich „Demutsgebärden“ auf der einen und Weinen auf der anderen Seite. Eine Zeremonie, in der mehrfach um Vergebung gebeten und von Täter- wie von Opferseite das geschehene Böse benannt wird.
Möglicherweise haben solche Bittzeremonien den Alten zur Konfliktlösung geholfen.
Vielleicht stimmt es, dass solche Formen oder Förmlichkeiten es leichter machen, mit Schuld und Vergebung umzugehen. Sie sind „geregelte Verhaltensmuster“, man kann sie erlernen.
Wir modernen Menschen haben solche Formen für Schuldbekenntnis und Vergebung nicht mehr selbstverständlich zur Hand.
Aber auch so können wir aus der Josephsgeschichte lernen für unsre Konfliktlösungen. Ich möchte ein paar Punkte nennen:
• Selbst aktiv werden und sich vom Verhängnis der bösen Geschichte und von der Angst nicht lähmen lassen.
• Gegenüber den anderen aussprechen, was wir Böses getan und Böses erlitten haben.
• Um Vergebung bitten. Ja, förmlich den andern bitten. Nicht nur in der hingehuschten Formel „Ich entschuldige mich“ und dann soll alles gut sein.
• Und suchen nach dem, was mir und meinen Geschwistern gemeinsam ist und es voreinander ins Bewusstsein rufen: Was wäre im Sinn unsres Vaters, unsrer Mutter gewesen.
• Und uns auf Gott besinnen: Ist er nicht unser gemeinsamer Gott und hat schon gnädig an uns gehandelt?
Das heißt und garantiert nicht, dass alle Konfliktgeschichten, die böse begonnen haben, gut ausgehen. Nicht im Vornehinein können wir das sagen und schon gar nicht für jeden Fall. Nur im Einzelfall und nur vom Ende her kann einer zu den anderen sagen: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen. Wie es jetzt am Tage ist.“
Das gute Ende ist aber nicht in jeder Lebensgeschichte am Tage. Viele Geschichten bleiben unüberwindbar böse. Beste Strategien greifen nicht. Konflikte schwelen weiter. Alte Schuld wirft ihre Schatten aufs Leben. Und manchen von uns bleibt nur das Schreien, - das Schreien aber auch zu Gott!
Wo ist Gott in unseren Lebensgeschichten? Wo wirkt er und wie wirkt er?
Wir finden in der Josephsgeschichte kein außergewöhnliches Eingreifen Gottes. Menschen haben da gehandelt, wie sie gedachten zu handeln. Die Brüder böse und haben später aus ihrer Schuld umgelernt. Joseph geschickt und großzügig. Der Pharao gutem Rat zugänglich.
Gott - sagt die Josephsgeschichte - hat gehandelt, indem Menschen handelten. Sein Wirken ist verborgen in ihrem Wirken, in ihrem Planen und Tun. Manchmal hat er es umgedreht. Sie handelten böse, er hat durch ihr böses Handeln seinen guten Plan ausgeführt. Das böse Handeln lässt er nicht in seiner Eigendynamik immer neu Böses erzeugen. Er hat es in schon in seinen Dienst gestellt. Wollen wir uns dann an seine Stelle stellen und das Böse weiter treiben?
Die Josephsgeschichte will uns Mut machen, auf dieses Wirken Gottes zu vertrauen. Auch wenn wir noch schreien müssen.
Der Gott Israels und Vater Jesu Christi hat über unser Bitten und Verstehen hinaus Leben im Sinn. Eine gemeinsame Zukunft für uns, die wir so und so aneinander handeln. Auch all die unerledigten Geschichten hat er in seiner Hand und macht uns Mut, zu glauben und zu hoffen und zu beten, wie Bonhoeffer es gesagt hat in böser Zeit:
„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen kann und will. Dazu braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“ Amen.
Literatur:
• Gerhard von Rad, Die Josephsgeschichte, in: Ders., Gottes Wirken in Israel, Neukirchen-Vluyn 1974, 22-41
• Gerhard von Rad, Biblische Josephsgeschichte und Josephsroman, in: Gottes Wirken in Israel, 285-304
• Gerhard von Rad, Josephsgeschichte und ältere Chokma (1953), in: Ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, München 1958, 272-280
• Gerhard von Rad, Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2/4), Göttingen 1963
• Erhard Gerstenberger, 4. Sonntag nach Trinitatis. 1. Mose 50,15-22a, in: hören und fragen. Eine Predigthilfe, hg. V. Arnold Falkenroth und Heinz Joachim Held, 3/2, Neukirchen-Vluyn 1975,59-68
• Claus Westermann, Biblischer Kommentar Altes Testament Genesis (I,22.23), Neukirchen-Vluyn 1982
Perikope