Predigt zu Genesis 50, 15-21 von Janneke Botta
50,15
Liebe Schwestern und Brüder,
können Sie sich an einen Moment erinnern, in dem Sie richtig gestritten haben?
Ich meine solche Momente, in denen man mit Haut und Haar dabei ist, in denen Kompromisse nicht mehr denkbar scheinen. Die Wut kribbelt regelrecht im Bauch und man kann gar nicht anders, als ihr Ausdruck zu verleihen.
Es gibt etwas, worüber man sich kolossal aufregt, sich ärgert; etwas, dass man nicht durchgehen lassen kann, wo nicht fünfe gerade sein können. Die Wut ist in diesen Momenten am stärksten spürbar und drängt sich in den Vordergrund. Sie setzt manchmal Energien frei, die bis dahin unbekannt waren, die fremd erscheinen, sich nicht zugehörig anfühlen, die sogar Angst machen können.
Wut lässt Dinge tun und Worte sagen, die sonst nicht getan oder gesagt würden.
Solche Momente und Gefühle hängen häufig noch länger nach und lassen sich nicht so schnell vergessen. Ich bin mir sicher, dass jeder und jedem von Ihnen mittlerweile eine Situation in den Sinn gekommen sein wird, in der es sich so, oder so ähnlich angefühlt haben mag.
In solchen Konflikten geht es meist um die Dinge, die das Innerste berühren, von denen man nicht abweichen möchte. Sie kratzen an den Themen, die uns wirklich wichtig sind. Es sind unsere Herzensangelegenheiten, weshalb wir uns auf einen Konflikt einlassen und so stark gegen unser Gegenüber angehen; weshalb wir vieles zu riskieren bereit sind.
Und spüre ich den Empfindungen in diesen Momenten genauer nach, nehme ich viel mehr als bloße Wut wahr. Oft ist für mich die Wut nur ein äußeres Indiz für das, was mich eigentlich bewegt. Stehe ich mitten in solchen Konflikten, bin ich umzingelt von Gefühlen wie Enttäuschung, Verletzung, Demütigung, Trauer, Fassungslosigkeit, Ungerechtigkeit, Resignation.
Diese Empfindungen auf einem Haufen fühlen sich alles andere als gut an. Wie soll man also damit umgehen? Die Form, die auf der Hand liegt, habe ich bereits beschrieben. Wut! Erst einmal alles rauslassen, Dampf ablassen, sich Luft machen. Sicher kein ganz schlechter Weg. Doch, wie war das noch?
Wut lässt Dinge tun und Worte sagen, die sonst nicht getan oder gesagt würden.
Doch auch das muss nicht immer schlecht sein. In manchen Konflikten ist ein offenes Wort längst überfällig und klärt vieles. Nach einem heftigen Gewitter lässt es sich oft freier und gelöster miteinander reden. Warum also nicht die Impulsivität der Wut nutzen und sie gewinnbringend einsetzen? Doch das erfordert, dass nach der Wut etwas anderes kommt und es nicht bei ihr bleibt. Folgt auf die Wut nicht auch unweigerlich das Gespräch, bleibt es bei Verletzung und Enttäuschung, führt es zu Frustration und Resignation.
Doch manchmal geht es einfach nicht. Manchmal ist kein Gespräch mehr möglich, sind alle Schotten dicht, wie sagt man so schön: der Drops ist gelutscht. Wo kein Wille zum Gespräch ist, ist auch erst einmal kein Weg.
Hierzu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen.
Vielleicht kennen Sie Josef, Sohn des Jakob, von dem wir einiges im ersten Buch Mose lesen können. Er hatte elf Brüder, erwähnenswert ist hier einzig sein jüngster Bruder Benjamin, der als einziger dieselbe Mutter hatte wie er. Josef war für seinen Vater so etwas wie der Augenstern, das Lieblingskind. Das bekamen alle deutlich zu spüren, sowohl Josef selbst, als aber auch seine Brüder. Sie können sich denken, dass diese nicht begeistert waren vom exklusiven Verhältnis ihres Bruders zu ihrem Vater. Das hat sie ziemlich wütend gemacht. Also haben sie nach langen Jahren von Enttäuschung und Neid den Störenfried aus der Familie entfernt. Josef wurde von ihnen als Sklave verkauft und vor ihrem Vater für tot erklärt.
Wut lässt Dinge tun und Worte sagen, die sonst nicht getan oder gesagt würden.
Hier ist kein Wille zum Gespräch zu erkennen. Die Brüder Josefs haben sich nach einem langen Leidensweg kurzerhand Abhilfe verschafft und sich ihres Bruders entledigt. Seine Wiederkehr planen sie nicht, schließlich gilt Josef für ihren Vater als gestorben. So sieht ihr Weg aus, diesen Konflikt zu lösen. Ein guter Weg? Natürlich nicht. Aber, welche Alternative kommt Ihnen in den Sinn, einen solch langen, gewachsenen Konflikt voll von Neid, Misstrauen und unerfüllten Erwartungen zu entschärfen?
Manche von Ihnen werden die Geschichte bereits kennen und wissen, wie es weitergeht. Vielleicht sagen einige: Ja, das braucht natürlich Zeit. Denn die Zeit heilt ja bekanntlich alle Wunden.
Da möchte ich widersprechen. Bei Josef verheilt nichts. Keine Wunde, die sich nach noch so langer Zeit geschlossen hat. Nach vielen Jahren trifft er, mittlerweile als ranghoher Staatsmann von Ägypten, seine Brüder wieder. Das Leid, dass sie ihm zugefügt haben, hat Josef weder vergessen noch vergeben. Es ist präsent und leitet ihn bei seiner Begegnung mit seinen Brüdern. Sie erkennen Josef nicht in der neuen Position, glaubten sie doch nach der langen Zeit des Totsagens beinah selbst schon an den Tod ihres Bruders. Wie handelt also Josef, nun in der machtvolleren Position? Nimmt er sie etwa mit offenen Armen auf, wie es sich für Brüder gehören würde? Ist seine Wiedersehensfreude so groß, dass er ihre Schuld vergessen kann? Leider nein. Josef empfängt seine Brüder zwar gastfreundlich, aber es ist alles andere als warmherzig. Zu allererst schützt er sich selbst, indem er undercover bleibt und sich seinen Brüdern nicht zu erkennen gibt. Der Vertrauensbruch aus der Jugend hat sich nicht verflüchtigt, sondern ist nun präsenter denn je. Josef kann und möchte nicht einfach vergeben.
Stattdessen stellt er seine Brüder auf die Probe. Er hält einen von ihnen gefangen und fordert, dass sie nach Hause gehen sollen um Benjamin, seinen jüngsten und einzig leiblichen Bruder, ebenfalls nach Ägypten zu bringen. Für diesen Weg gibt er ihnen bereits eine große Menge an Getreide mit, weshalb sie eigentlich nach Ägypten gekommen waren. Doch erst wenn sie Benjamin zu ihm brächten, dürften alle Brüder gemeinsam zu ihrem Vater zurückkehren.
Was tut Josef hier also? Er provoziert seine Brüder, ein weiteres Mal Verrat zu begehen und einen Bruder im Stich zu lassen – so wie sie es damals mit ihm getan hatten. Sie könnten mit ausreichend Getreide zu ihrem Vater zurückkehren, wenn sie ihren Bruder bei ihm zurückließen. Nun fordert er aber von ihnen, nochmals nach Ägypten zu kommen und Benjamin zu ihm zu bringen, bevor er ihren Bruder entlässt. Josefs Forderungen sind reine Schikane. Sie nützen ihm nichts, ganz im Gegenteil nehmen seine Brüder so nicht nur einmal sondern sogar zweimal das kostbare Getreide mit in ihre Heimat. Doch Josef zweifelt an ihrer Loyalität und versucht sich ihrer Reue gewiss zu werden. Vergeben kann er nicht einzig und allein aus Glauben. Er sucht nach einer Bestätigung, dass seine Brüder sich verändert haben, dass sie ihre Tat von damals an ihm bereuen. Und genau diese Bestätigung liefern sie ihm, indem sie mit Benjamin ein weiteres Mal zu ihm nach Ägypten kommen, um ihren festgehaltenen Bruder abzuholen. Erst durch diese Gewissheit, eröffnet sich bei Josef ein neuer Weg.
Ein sehr menschliches Bedürfnis wie ich finde. Josef bedarf für die Vergebung der Schuld seiner Brüder die Gewissheit, dass sie bereuen, was sie ihm angetan haben. Die Prüfung seiner Brüder ist seine Form des Dialoges. Auf diese Weise tritt er nach all den Jahren wieder mit ihnen in Kontakt, kommuniziert mit ihnen. Damit schafft er die Basis für den Gedanken der Versöhnung. Doch auch seine Brüder leisten einen sehr wichtigen, wenn auch für sie unbewussten Teil, um das Ende der Geschichte geschehen zu lassen: Sie entscheiden sich für einen anderen Weg, als sie ihn mit Josef gegangen sind. Sie entscheiden sich für die Gemeinschaft mit ihrem Bruder und akzeptieren die Forderungen Josefs aus Respekt vor seiner Wohltätigkeit, auch wenn sie dadurch ihr eigentliches Ziel deutlich umständlicher erreichen als gedacht. Was man aus ihrem Verhalten ablesen kann, ist Reue, die sie für ihr Verhalten gegenüber ihrem Bruder empfinden. Und nun, viele Jahre später, kann man tatsächlich von einer Umkehr sprechen, die sich bei Josefs Brüdern vollzogen hat. Sie haben einen neuen Weg eingeschlagen, setzen andere Prioritäten. Was in den vielen Jahren bis zur erneuten Begegnung mit ihrem Bruder geschehen ist, wissen wir nicht. Aber es scheint sie verändert zu haben.
Auch bei mir selbst kenne ich diese Empfindungen. Es fällt mir deutlich leichter zu vergeben, wenn ich um die Reue des anderen weiß. Und ebenso wird mein Bedürfnis nach Vergebung und Versöhnung viel stärker, sobald ich mir meiner eigenen Schuld bewusst bin und Reue dafür empfinde. Doch dem geht oft ein langer Prozess voraus. Schließlich hat man in diesen existenziellen Konflikten einen guten Anlass gehabt, einen Streit zu beginnen und möchte seine eigenen Grundsätze und Prinzipien nicht der Versöhnung zuliebe aufgeben müssen.
Doch trotz aller Prinzipien wissen Sie so gut wie ich, dass es sich mit Streit und ungeklärten Konflikten schlecht leben lässt. Wir haben ein inneres Bedürfnis, dass uns dazu einleitet, mit unseren Mitmenschen friedlich in Kontakt zu treten und unser Leben mit ihnen zu teilen. Dazu bedarf es der Versöhnung.
Trotzdem braucht es mehr, als sich von Gefühlen leiten zu lassen. Zur Versöhnung gehört es, eigene Grenzen anzuzweifeln und zu überwinden. Oft kostet es viel Überwindung, einen ersten Kontakt nach einer tiefen Enttäuschung herzustellen. Das ist nichts, was aus dem Bauch heraus getan wird. Dazu braucht es einen starken Willen zur Versöhnung.
Nicht zuletzt stehen wir als Christen in der Verantwortung, uns in Vergebung zu üben und uns darum zu bemühen. So beten wir regelmäßig im Vaterunser „vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Wir machen die Zusage, uns um Vergebung zu bemühen.
Denn Gott ist ein Gott der Versöhnung. Er nimmt jeden an, unabhängig von der Schuld, die auf ihm lastet. Aber Gott fordert auch. Die Bibel ist voll von Aufrufen zu Vergebung und Nächstenliebe. Das Streben nach Versöhnung, nach gelebter Nächstenliebe ist ein elementarer Bestandteil christlichen Glaubens. Das bedeutet nicht, dass Christen nicht streiten dürften oder ihre Wut unterdrücken müssten.
Viel mehr sehe ich eine christliche Verantwortung darin, es nicht bei der Wut zu belassen, sondern mutig zu sein, mit dem was aus Wut getan oder gesagt wurde, umzugehen und sich dazu zu verhalten. Es muss ein Schritt nach dem Streit getan werden, um ein Zusammenleben wieder möglich zu machen, um sich selbst und das Umfeld von der Last des Streits zu befreien.
Ich glaube, dass Konflikte ganz natürlich sind und wir an ihnen reifen können.
Wir sehen an der Josefgeschichte, wie weit so ein Weg vom Konflikt bis hin zur Versöhnung sein kann. Doch sowohl Josef als auch seine Brüder sind einer Intuition gefolgt, welche sie kontinuierlich näher zueinander geführt hat. Sie haben sich nicht abhalten lassen, dieser Stimme zu folgen, die in ihnen laut geworden ist und sie mit dem guten Gefühl des richtigen Handelns begleitet hat.
Versöhnung versprüht einen süßen Duft und lockt uns. Doch der Weg dorthin ist ein weiter, wie man bei Josef unschwer erkennen kann. Und mancher von Ihnen kann vermutlich sagen, dass er diesen Duft nach einem tiefen Konflikt nicht immer wahrnimmt. Dazu möchte ich Ihnen ein Zitat von Herman van Veen ans Herz legen. Er sagt: „Wenn Jesus sagt ‚vergebt Euren Feinden‘, sagt er das nicht unseren Feinden zuliebe, sondern uns zuliebe. Und weil die Liebe schöner ist als Hass.“
So bedeutet Versöhnung nicht nur, nachzugeben und jemandes Schuld zu vergeben, sondern sie befreit auch mich selbst für einen neuen Anfang. Versöhnung ermöglicht ein losgelöstes Weitergehen nach zurückliegenden Verletzungen. Sie glättet die unruhigen Wogen der Vergangenheit und stärkt uns für den Weg der vor uns liegt.
Es lohnt sich, Mut zu haben und nach einem Streit wieder in Kontakt zu treten.
Es lohnt sich, das Gespräch nicht verstummen zu lassen, sondern an dem anderen interessiert zu bleiben.
Es lohnt sich, die eigenen Grenzen zu verlassen, um dem anderen näher kommen zu können.
Es lohnt sich, Gottes Willen nach Versöhnung für uns spürbar werden zu lassen.
Und so lesen wir im heutigen Predigttext, Gen 50, 15-21, das Happy-End einer großartigen Geschichte von bitterer Enttäuschung und wärmedurchflutender Versöhnung:
Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.
Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten.
Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.
Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt?
Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.
So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.
Amen.
können Sie sich an einen Moment erinnern, in dem Sie richtig gestritten haben?
Ich meine solche Momente, in denen man mit Haut und Haar dabei ist, in denen Kompromisse nicht mehr denkbar scheinen. Die Wut kribbelt regelrecht im Bauch und man kann gar nicht anders, als ihr Ausdruck zu verleihen.
Es gibt etwas, worüber man sich kolossal aufregt, sich ärgert; etwas, dass man nicht durchgehen lassen kann, wo nicht fünfe gerade sein können. Die Wut ist in diesen Momenten am stärksten spürbar und drängt sich in den Vordergrund. Sie setzt manchmal Energien frei, die bis dahin unbekannt waren, die fremd erscheinen, sich nicht zugehörig anfühlen, die sogar Angst machen können.
Wut lässt Dinge tun und Worte sagen, die sonst nicht getan oder gesagt würden.
Solche Momente und Gefühle hängen häufig noch länger nach und lassen sich nicht so schnell vergessen. Ich bin mir sicher, dass jeder und jedem von Ihnen mittlerweile eine Situation in den Sinn gekommen sein wird, in der es sich so, oder so ähnlich angefühlt haben mag.
In solchen Konflikten geht es meist um die Dinge, die das Innerste berühren, von denen man nicht abweichen möchte. Sie kratzen an den Themen, die uns wirklich wichtig sind. Es sind unsere Herzensangelegenheiten, weshalb wir uns auf einen Konflikt einlassen und so stark gegen unser Gegenüber angehen; weshalb wir vieles zu riskieren bereit sind.
Und spüre ich den Empfindungen in diesen Momenten genauer nach, nehme ich viel mehr als bloße Wut wahr. Oft ist für mich die Wut nur ein äußeres Indiz für das, was mich eigentlich bewegt. Stehe ich mitten in solchen Konflikten, bin ich umzingelt von Gefühlen wie Enttäuschung, Verletzung, Demütigung, Trauer, Fassungslosigkeit, Ungerechtigkeit, Resignation.
Diese Empfindungen auf einem Haufen fühlen sich alles andere als gut an. Wie soll man also damit umgehen? Die Form, die auf der Hand liegt, habe ich bereits beschrieben. Wut! Erst einmal alles rauslassen, Dampf ablassen, sich Luft machen. Sicher kein ganz schlechter Weg. Doch, wie war das noch?
Wut lässt Dinge tun und Worte sagen, die sonst nicht getan oder gesagt würden.
Doch auch das muss nicht immer schlecht sein. In manchen Konflikten ist ein offenes Wort längst überfällig und klärt vieles. Nach einem heftigen Gewitter lässt es sich oft freier und gelöster miteinander reden. Warum also nicht die Impulsivität der Wut nutzen und sie gewinnbringend einsetzen? Doch das erfordert, dass nach der Wut etwas anderes kommt und es nicht bei ihr bleibt. Folgt auf die Wut nicht auch unweigerlich das Gespräch, bleibt es bei Verletzung und Enttäuschung, führt es zu Frustration und Resignation.
Doch manchmal geht es einfach nicht. Manchmal ist kein Gespräch mehr möglich, sind alle Schotten dicht, wie sagt man so schön: der Drops ist gelutscht. Wo kein Wille zum Gespräch ist, ist auch erst einmal kein Weg.
Hierzu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen.
Vielleicht kennen Sie Josef, Sohn des Jakob, von dem wir einiges im ersten Buch Mose lesen können. Er hatte elf Brüder, erwähnenswert ist hier einzig sein jüngster Bruder Benjamin, der als einziger dieselbe Mutter hatte wie er. Josef war für seinen Vater so etwas wie der Augenstern, das Lieblingskind. Das bekamen alle deutlich zu spüren, sowohl Josef selbst, als aber auch seine Brüder. Sie können sich denken, dass diese nicht begeistert waren vom exklusiven Verhältnis ihres Bruders zu ihrem Vater. Das hat sie ziemlich wütend gemacht. Also haben sie nach langen Jahren von Enttäuschung und Neid den Störenfried aus der Familie entfernt. Josef wurde von ihnen als Sklave verkauft und vor ihrem Vater für tot erklärt.
Wut lässt Dinge tun und Worte sagen, die sonst nicht getan oder gesagt würden.
Hier ist kein Wille zum Gespräch zu erkennen. Die Brüder Josefs haben sich nach einem langen Leidensweg kurzerhand Abhilfe verschafft und sich ihres Bruders entledigt. Seine Wiederkehr planen sie nicht, schließlich gilt Josef für ihren Vater als gestorben. So sieht ihr Weg aus, diesen Konflikt zu lösen. Ein guter Weg? Natürlich nicht. Aber, welche Alternative kommt Ihnen in den Sinn, einen solch langen, gewachsenen Konflikt voll von Neid, Misstrauen und unerfüllten Erwartungen zu entschärfen?
Manche von Ihnen werden die Geschichte bereits kennen und wissen, wie es weitergeht. Vielleicht sagen einige: Ja, das braucht natürlich Zeit. Denn die Zeit heilt ja bekanntlich alle Wunden.
Da möchte ich widersprechen. Bei Josef verheilt nichts. Keine Wunde, die sich nach noch so langer Zeit geschlossen hat. Nach vielen Jahren trifft er, mittlerweile als ranghoher Staatsmann von Ägypten, seine Brüder wieder. Das Leid, dass sie ihm zugefügt haben, hat Josef weder vergessen noch vergeben. Es ist präsent und leitet ihn bei seiner Begegnung mit seinen Brüdern. Sie erkennen Josef nicht in der neuen Position, glaubten sie doch nach der langen Zeit des Totsagens beinah selbst schon an den Tod ihres Bruders. Wie handelt also Josef, nun in der machtvolleren Position? Nimmt er sie etwa mit offenen Armen auf, wie es sich für Brüder gehören würde? Ist seine Wiedersehensfreude so groß, dass er ihre Schuld vergessen kann? Leider nein. Josef empfängt seine Brüder zwar gastfreundlich, aber es ist alles andere als warmherzig. Zu allererst schützt er sich selbst, indem er undercover bleibt und sich seinen Brüdern nicht zu erkennen gibt. Der Vertrauensbruch aus der Jugend hat sich nicht verflüchtigt, sondern ist nun präsenter denn je. Josef kann und möchte nicht einfach vergeben.
Stattdessen stellt er seine Brüder auf die Probe. Er hält einen von ihnen gefangen und fordert, dass sie nach Hause gehen sollen um Benjamin, seinen jüngsten und einzig leiblichen Bruder, ebenfalls nach Ägypten zu bringen. Für diesen Weg gibt er ihnen bereits eine große Menge an Getreide mit, weshalb sie eigentlich nach Ägypten gekommen waren. Doch erst wenn sie Benjamin zu ihm brächten, dürften alle Brüder gemeinsam zu ihrem Vater zurückkehren.
Was tut Josef hier also? Er provoziert seine Brüder, ein weiteres Mal Verrat zu begehen und einen Bruder im Stich zu lassen – so wie sie es damals mit ihm getan hatten. Sie könnten mit ausreichend Getreide zu ihrem Vater zurückkehren, wenn sie ihren Bruder bei ihm zurückließen. Nun fordert er aber von ihnen, nochmals nach Ägypten zu kommen und Benjamin zu ihm zu bringen, bevor er ihren Bruder entlässt. Josefs Forderungen sind reine Schikane. Sie nützen ihm nichts, ganz im Gegenteil nehmen seine Brüder so nicht nur einmal sondern sogar zweimal das kostbare Getreide mit in ihre Heimat. Doch Josef zweifelt an ihrer Loyalität und versucht sich ihrer Reue gewiss zu werden. Vergeben kann er nicht einzig und allein aus Glauben. Er sucht nach einer Bestätigung, dass seine Brüder sich verändert haben, dass sie ihre Tat von damals an ihm bereuen. Und genau diese Bestätigung liefern sie ihm, indem sie mit Benjamin ein weiteres Mal zu ihm nach Ägypten kommen, um ihren festgehaltenen Bruder abzuholen. Erst durch diese Gewissheit, eröffnet sich bei Josef ein neuer Weg.
Ein sehr menschliches Bedürfnis wie ich finde. Josef bedarf für die Vergebung der Schuld seiner Brüder die Gewissheit, dass sie bereuen, was sie ihm angetan haben. Die Prüfung seiner Brüder ist seine Form des Dialoges. Auf diese Weise tritt er nach all den Jahren wieder mit ihnen in Kontakt, kommuniziert mit ihnen. Damit schafft er die Basis für den Gedanken der Versöhnung. Doch auch seine Brüder leisten einen sehr wichtigen, wenn auch für sie unbewussten Teil, um das Ende der Geschichte geschehen zu lassen: Sie entscheiden sich für einen anderen Weg, als sie ihn mit Josef gegangen sind. Sie entscheiden sich für die Gemeinschaft mit ihrem Bruder und akzeptieren die Forderungen Josefs aus Respekt vor seiner Wohltätigkeit, auch wenn sie dadurch ihr eigentliches Ziel deutlich umständlicher erreichen als gedacht. Was man aus ihrem Verhalten ablesen kann, ist Reue, die sie für ihr Verhalten gegenüber ihrem Bruder empfinden. Und nun, viele Jahre später, kann man tatsächlich von einer Umkehr sprechen, die sich bei Josefs Brüdern vollzogen hat. Sie haben einen neuen Weg eingeschlagen, setzen andere Prioritäten. Was in den vielen Jahren bis zur erneuten Begegnung mit ihrem Bruder geschehen ist, wissen wir nicht. Aber es scheint sie verändert zu haben.
Auch bei mir selbst kenne ich diese Empfindungen. Es fällt mir deutlich leichter zu vergeben, wenn ich um die Reue des anderen weiß. Und ebenso wird mein Bedürfnis nach Vergebung und Versöhnung viel stärker, sobald ich mir meiner eigenen Schuld bewusst bin und Reue dafür empfinde. Doch dem geht oft ein langer Prozess voraus. Schließlich hat man in diesen existenziellen Konflikten einen guten Anlass gehabt, einen Streit zu beginnen und möchte seine eigenen Grundsätze und Prinzipien nicht der Versöhnung zuliebe aufgeben müssen.
Doch trotz aller Prinzipien wissen Sie so gut wie ich, dass es sich mit Streit und ungeklärten Konflikten schlecht leben lässt. Wir haben ein inneres Bedürfnis, dass uns dazu einleitet, mit unseren Mitmenschen friedlich in Kontakt zu treten und unser Leben mit ihnen zu teilen. Dazu bedarf es der Versöhnung.
Trotzdem braucht es mehr, als sich von Gefühlen leiten zu lassen. Zur Versöhnung gehört es, eigene Grenzen anzuzweifeln und zu überwinden. Oft kostet es viel Überwindung, einen ersten Kontakt nach einer tiefen Enttäuschung herzustellen. Das ist nichts, was aus dem Bauch heraus getan wird. Dazu braucht es einen starken Willen zur Versöhnung.
Nicht zuletzt stehen wir als Christen in der Verantwortung, uns in Vergebung zu üben und uns darum zu bemühen. So beten wir regelmäßig im Vaterunser „vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Wir machen die Zusage, uns um Vergebung zu bemühen.
Denn Gott ist ein Gott der Versöhnung. Er nimmt jeden an, unabhängig von der Schuld, die auf ihm lastet. Aber Gott fordert auch. Die Bibel ist voll von Aufrufen zu Vergebung und Nächstenliebe. Das Streben nach Versöhnung, nach gelebter Nächstenliebe ist ein elementarer Bestandteil christlichen Glaubens. Das bedeutet nicht, dass Christen nicht streiten dürften oder ihre Wut unterdrücken müssten.
Viel mehr sehe ich eine christliche Verantwortung darin, es nicht bei der Wut zu belassen, sondern mutig zu sein, mit dem was aus Wut getan oder gesagt wurde, umzugehen und sich dazu zu verhalten. Es muss ein Schritt nach dem Streit getan werden, um ein Zusammenleben wieder möglich zu machen, um sich selbst und das Umfeld von der Last des Streits zu befreien.
Ich glaube, dass Konflikte ganz natürlich sind und wir an ihnen reifen können.
Wir sehen an der Josefgeschichte, wie weit so ein Weg vom Konflikt bis hin zur Versöhnung sein kann. Doch sowohl Josef als auch seine Brüder sind einer Intuition gefolgt, welche sie kontinuierlich näher zueinander geführt hat. Sie haben sich nicht abhalten lassen, dieser Stimme zu folgen, die in ihnen laut geworden ist und sie mit dem guten Gefühl des richtigen Handelns begleitet hat.
Versöhnung versprüht einen süßen Duft und lockt uns. Doch der Weg dorthin ist ein weiter, wie man bei Josef unschwer erkennen kann. Und mancher von Ihnen kann vermutlich sagen, dass er diesen Duft nach einem tiefen Konflikt nicht immer wahrnimmt. Dazu möchte ich Ihnen ein Zitat von Herman van Veen ans Herz legen. Er sagt: „Wenn Jesus sagt ‚vergebt Euren Feinden‘, sagt er das nicht unseren Feinden zuliebe, sondern uns zuliebe. Und weil die Liebe schöner ist als Hass.“
So bedeutet Versöhnung nicht nur, nachzugeben und jemandes Schuld zu vergeben, sondern sie befreit auch mich selbst für einen neuen Anfang. Versöhnung ermöglicht ein losgelöstes Weitergehen nach zurückliegenden Verletzungen. Sie glättet die unruhigen Wogen der Vergangenheit und stärkt uns für den Weg der vor uns liegt.
Es lohnt sich, Mut zu haben und nach einem Streit wieder in Kontakt zu treten.
Es lohnt sich, das Gespräch nicht verstummen zu lassen, sondern an dem anderen interessiert zu bleiben.
Es lohnt sich, die eigenen Grenzen zu verlassen, um dem anderen näher kommen zu können.
Es lohnt sich, Gottes Willen nach Versöhnung für uns spürbar werden zu lassen.
Und so lesen wir im heutigen Predigttext, Gen 50, 15-21, das Happy-End einer großartigen Geschichte von bitterer Enttäuschung und wärmedurchflutender Versöhnung:
Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.
Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten.
Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.
Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt?
Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.
So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.
Amen.
Perikope