Predigt zu Genesis 50, 15-21 von Margot Käßmann
50,15

Predigt zu Genesis 50, 15-21 von Margot Käßmann

 
Liebe Gemeinde,
der Predigttext für den kommenden Sonntag steht im 1. Buch Mose im 50. Kapitel. Dort heißt es:
Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten.
  Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.
  Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt?
  Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.
Vater Jakob, das Oberhaupt der großen Familie von zwölf Söhnen und einer Tochter von vier Müttern ist tot. In den Versen vor unserem Text wird erzählt, wie Jakob starb, beweint und beklagt wurde. Liebevoll salbten die Ägypter seinen Leichnam, das Land trauerte um den Vater des Mannes, der es einst durch weise Planung und Voraussicht vor einer Hungersnot bewahrte. Auf seinen letzten Wunsch hin brachten seine Söhne den Leichnam in das Land Kanaan und begruben ihn an der Seite seiner Ahnen, von Abraham, Sarah, Isaak, Rebekka und seiner ersten Frau Lea, die er doch nicht hatte heiraten wollen, in der Höhle auf dem Feld im Land Kanaan, die einst Abraham gekauft hatte. Ein großes Leben, ein großer Lebensbogen findet sein Ende, friedlich, versöhnt, die letzte Ruhe im besten Sinne des Wortes. Die Söhne aber kehren zurück nach Ägypten, wo sie eine neue Heimat gefunden haben. Damit endet für den Erzähler, den die Forschung Jahwist nennt die große Josephserzählung.
Ein anderer Erzähler, als Elohist den Theologiestudierenden bekannt, hängt die Verse an, die nun Predigttext sind. Er dreht sozusagen noch eine theologische Schleife, um zu einzuordnen, was geschehen ist. Dem nüchternen Erzählen der Fakten fügt er Emotion und Interpretation an.
Da ist zunächst eine überraschende Reaktion der Brüder: Sie haben Angst. Könnte es sein, dass Joseph nur auf den Augenblick gewartet hat, um sich dafür zu rächen, dass sie ihn verraten und verkauft haben – im wahrsten Sinne des Wortes! Hat er vielleicht nur dem geliebten Vater zuliebe so getan, als könnte er das entsetzliche Unrecht vergeben, das sie ihm angetan haben? Der Erzähler macht deutlich: All die Jahre muss das in ihnen gegärt haben. Das schlechte Gewissen war geblieben, das Unbehagen über das eigene Tun. Eine verstörende innere Unruhe hat sie unter einer Oberfläche von Alltagsnormalität Jahre begleitet.
Die Angst jedenfalls ist so groß, dass sie zunächst nur ausrichten lassen, was Jakob angeblich gesagt hat. Nirgends wird erzählt, dass Jakob solches gesagt hätte. Vielmehr hat Jakob auf dem Sterbebett alle seine Söhne gesegnet und sie gemeinsam gebeten, ihn in Kanaan zu begraben. Die Brüder verweisen auf den Vater als Schutz, sie behaupten, er habe Josef vor seinem Tod befohlen, ihnen zu vergeben. Das ist interessant, denn es bedeutet ja, dass ihr Eindruck ist, er hätte ihnen nicht längst vergeben. Eine Aussprache hatte es offenbar nicht gegeben. Familientherapeuten hätten mit dieser Familie und ihrer Geschichte jahrelangen Stoff für eine Therapie! Aber noch nicht einmal die Frage der Vergebung scheint offen thematisiert worden zu sein.
Zum anderen verweisen sie auf den gemeinsamen Glauben: sie sind Diener des Gottes Jakobs, sie vertrauen sich dem Gott ihres Vaters an, an den auch Joseph glaubt.
Und Joseph weint. Er sagt kein Wort. Es wird auch nicht klar, warum er weint. Weil er ahnt, dass die Brüder lügen? Hätte der Vater einen solchen letzten Wunsch gehabt, er hätte ihn doch selbst Joseph anvertraut. Gerhard von Rad meint, es sei eine „irrige Annahme“[1], das diese eine glatte Lüge ist. Das habe ich nicht wirklich verstanden, denn wie eine Lüge kommt es in der Tat daher. So sehr geläutert scheinen die Brüder nicht, wenn es schon wieder um List und Lüge geht… . Oder weint Joseph, weil er begreift, dass sie Angst vor ihm haben und ihn das verletzt? Er hat doch längst vergeben! Er war so dankbar, vor allem den Vater und den kleinen Bruder Benjamin wieder zu sehen in diesem Leben, dass er den älteren Brüdern die Schuld nicht mehr nachtrug. Er war innerlich frei, zu vergeben. Eine große, würdevolle Freiheit ist das. Weint er, weil er begreift, dass die Brüder noch immer gefangen sind in der eigenen Schuld, während er frei ist von der Last der Vergangenheit?
Oder bricht nach all den Jahren noch einmal die ganze Erniedrigung durch, die er erlebt hat, die Angst, die er selbst fühlte, als er so entsetzlich erlebte, wie all sein Vertrauen gebrochen wurde. Was hat er auch durchgemacht. Im Brunnen allein. Dann bei fremden Menschen, die ihn weiter verkauften wie ein Stück Vieh. Die kurze Erholung in Potifars Haus. Dann die Nachstellungen von dessen Frau, die Anschuldigung, sie belästigt zu haben und die darauf folgenden Jahre im Gefängnis. Ein Trauma für jeden Menschen! Zu lange hat er all das vielleicht verdrängt, weil das neue Leben als rechte Hand des Pharao, der Erfolg und das Glück, die Familie wieder um sich zu haben, so dominant wurden. Aber es gibt sie, solche Momente im Leben, in denen etwas aufbricht, was lange in uns gegärt hat, unterdrückt wurde und plötzlich an die Oberfläche drängt.
Warum Joseph weint, bleibt Spekulation. Aber dieses Weinen ermutigt die Brüder, nun persönlich zu ihm zu gehen. Sie fallen vor ihm nieder und alle Hörenden oder Lesenden werden sich bei dieser Szene an den jungen Joseph erinnern, der genau das geträumt hatte (44,14) und dadurch Empörung bei den Brüdern auslöste.
Josephs Reaktion auf die Bitte der Brüder, die er nun von Angesicht zu Angesicht in Worte fasst, kann als Essenz der ganzen Geschichte gesehen werden: Gott selbst hat ja schon gesprochen! Gott hat sogar die Schuld der Brüder in sein Heilshandeln sozusagen eingebaut. Würde Joseph sich jetzt rächen, er würde dieses Heilshandeln ja in Frage stellen, sich selbst an Gottes Stelle setzen. „Ihr gedachtet es böse zu machen… Gott aber hat es gut gemacht“ – damit ist die ganze Geschichte von ihrem Ende her in ein anderes Licht gerückt.
Die Josephsgeschichte ist weniger geprägt von Gottes Tun, sondern zeigt ein Bildungsideal: den jungen Mann, der in Gottesfurcht lebt, der gut reden kann, selbstbeherrscht ist und sich nicht von fremden Frauen verführen lässt. All das entspricht den Mahnungen der Weisheitsliteratur. Um Zucht geht es und Gehorsam gegenüber Gottes Geboten und um Bildung: „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis. Die Toren verachten Weisheit und Zucht“ (Spr 1,7). Und: „Wo nicht weiser Rat ist, da geht das Volk unter“ (Spr. 11,14). Oder ganz praktisch, wenn man mit Potifars Frau konfrontiert ist Jesus Sirach: „Meide die Frau, die dich verführen will…“ (9,3). Erst einmal auf die Spur gesetzt, ist die Josephsgeschichte tatsächlich eine Umsetzung der Weisungen bis hin zur Versöhnung am Ende: „Halte dem nicht seine Sünde vor, der sich bessert, und denke daran, dass wir alle auch Schuld tragen“ (Sir 8,6) Von Gott und dem Glauben wird so eher indirekt oder sehr nüchtern gesprochen. Gerhard von Rad nennet das einen „wunderlosen Realismus“[2].
Der Vers, der das Handeln der Brüder und Gottes Handeln in einen Zusammenhang bringt, leistet zwei gewichtige theologische Beiträge, in deren Licht die Josephsgeschichte nun gestellt wird. Zum einen wird Gottes Wirken in dieser Welt als verborgen angesehen, es ist für uns nicht fassbar und begreifbar. Heißt es in anderen Vätergeschichten lapidar: „Gott sandte Abraham“ oder „Gott sprach zu Mose“, so ist in der Biografie von Joseph keine solche deutende Aussage zu finden. Wie sollte der junge Joseph in der Grube auch verstehen können, dass hier Gutes geschieht? Die Jahre im Gefängnis, das waren Jahre der Verzweiflung, der Frage sicher auch: „Wo ist Gott“? Das ist die Erfahrung des deus absconditus, von dem Luther spricht. Gott ist verborgen, nicht zu finden im aktuellen Geschehen. Es ist nicht zu verstehen, wie Gott zulassen kann, was geschieht. Der Prediger Salomo fasst das zusammen: „Gleichwie du nicht weißt, welchen Weg der Wind nimmt und wie die Gebeine im Mutterleib bereitet werden, so kannst du auch Gottes Tun nicht wissen, der alles wirkt.“ (11,5).
Zum anderen wird so die Josephsgeschichte eingebaut in die Vätergeschichten, in den Heilsplan Gottes mit seinem Volk Israel. Joseph sieht, dass es am Ende um den Erhalt des Volkes Israel ging. Er konnte ja durch sein Wirken in Ägypten den Hungertod abwenden von der eigenen Familie. Wer die Josephsgeschichte ohne diesen Schlussvers liest, hat mehr oder weniger eine Novelle vor sich, in der eine spannende Familiengeschichte erzählt wird. Aber im Rückblick geht es um den Erhalt des Volkes Israel durch Gott, der es erwählt hat.
Schauen wir diesen Text an, so besticht wie so oft in dieser Erzählung die menschliche Komponente. Es wird ohne große Rührung erzählt, aber wir alle können uns über die Jahrtausende hinweg hinein denken: Da ist Schuld. Schwere Schuld, die Menschen auf sich geladen haben. Keine Affekthandlung, sondern gezieltes Handeln. Nehmen wir die Brüder als reale Figuren, so ist nachvollziehbar, was das heißt: Mit solcher Schuld leben, darum wissen über Jahre, verstrickt in ein Lügengebäude, das nach und nach in sich zusammen gefallen ist.
1999 war ich zu einer Talkshow in Süddeutschland eingeladen: Nachtcafé mit Wieland Backes. In der Ankündigung hieß es etwas reißerisch, ein Mörder werde mit an Tisch sitzen. Es war ein Mann Mitte vierzig, der mit 19 Jahren in der Tat im Affekt seine Freundin ermordet hatte. Er erzählte, dass er nach der Verhaftung und Verurteilung zwei Jahre wie in Trance lebt. Eines Tages ging er in den Gottesdienst, der Pfarrer erzählte, jeder Mensch sein ein Ebenbild Gottes. Daraufhin habe er sich selbst zum ersten Mal wieder im Spiegel anschauen können und danach gesucht, was an ihm wertvoll sein könne mit all dieser Schuld im Nacken. Er hat sich frei gearbeitet. Seine Schuld angesehen und sich selbst und anderen eingestanden. Mit den Eltern des ermordeten Mädchens gesprochen. Nachdem er seine Haftstrafe abgesessen hatte, hat er eine Familie gegründet. Seine vier Kinder wissen um die Tat. Er engagiert sich im „schwarzen Ring“, einer Organisation, die Tätern Wege zurück in die Gesellschaft ermöglichen will. Ein Mann, der mit seiner Schuld lebt und dennoch frei ist.
Mich hat diese Begegnung nachhaltig berührt. Wie gehen wir eigentlich mit realer Schuld um. Ja, die Opfer haben im Mittelpunkt zu stehen, sie zuallererst müssen gehört werden. Aber können wir vergeben? Sind wir frei, einem Täter, der Schuld bekennt, den Weg in die Gesellschaft zurück zu ermöglichen? Wo sind sie, die Täter im Land? In der Regel müssen sie sich verstecken, haben auch nach der Haft Angst vor Entdeckung.
Vergeben können bedeutet Freiheit. Die eigene Schuld sehen ebenso. Die Angst des Mönchs Martin Luther war die, kein Leben ohne Sünde führen zu können. Die Freiheit des Reformators Luther war die Erkenntnis, dass keine Leben ohne Schuld und Sünde denkbar ist. Aber dass all unsere Schuld bei Gott geborgen ist. Dass Gott Ja sagt zu unserem Leben mit all seinen Brüchen, all dem Scheitern, all dem Versagen.
Schuld vergeben können, wie Joseph es tat, ist für Menschen eine Freiheitserfahrung. Schuld vergeben zu wissen, wie die Brüder es erleben durften, ebenso. Vergeben und vergeben werden, ein Kreislauf, der Versöhnung in Gang setzt. Hass, das zeigt die Erfahrung, fällt immer auf den Hassenden zurück, zermürbt das Leben, macht es eng und klein. Frei ist der Mensch, der die Schuld vor Gott bringen kann. Der erfahren darf: mir wird vergeben. Und der sagen kann: ich vergebe. Das heißt nicht vergessen, ist nicht billige Gnade. Sondern es ist eine Haltung der Verantwortung, die Opfer und Täter benennt, aber den Kreislauf von Vergeltung durchbricht. Bischof Desmond Tutu hat das als Vorsitzender der Wahrheits- und Versöhnungskommission im Südafrika nach dem Ende der Apartheid immer wieder deutlich gemacht: Versöhnung ist ein kreatives geschehen, das Befreiung für alle bedeutet. Es spielt sich ab im Liebesdreieck von „Gott über alle Dinge lieben und deinen Nächsten wie dich selbst“. Dieses höchste Gebot setzt sich im Versöhnungeschehen um. Versöhnt mit Gott, kann der Mensch sich selbst lieben und andere auch, kann versöhnen, was unversöhnbar scheint. Gottvertrauen bringt Menschen auf den Weg, lässt sie Fesseln ablegen, lässt sie staunen über sich selbst und führt zu einem Fest der freien Menschen.
Ein Letztes: Der dänische Philosoph Soeren Kirkegaard hat gesagt, das Leben werde vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Das entspricht der Erkenntnis von Joseph. Im Rückblick kann er Gottes Wirken sehen. Und die Brüder vielleicht nach und nach auch. Joseph kann sich mit seinem eigenen Leben versöhnen. Das ist Gnade. Am Ende sagen zu können: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen“.
Vielleicht ist das am Semesterende für einige von Ihnen, den Studierenden auch tröstlich. Viele von Ihnen treibt ja die Frage um, was werden soll. Ist es das richtige Studium? Die richtige Berufsperspektive. Bzw. gibt es überhaupt eine Berufsperspektive? Treffe ich die richtigen Entscheidungen. Da geht es auch um Gottvertrauen, das sagt: welche Abzweigungen im Leben ich auch nehme, es wird am Ende bei Gott aufgehoben sein, „gut“ sein. Im Rückblick werde ich auf mein Leben schauen können, auf richtige und falsche Wege, auf Umwege und Abwege, aber ich kann mich versöhnen mit meiner Biografie und sagen: Es war gut so. Es waren am Ende Gottes Wege mit mir durch mein Leben.
Das sehen zu können, ist Segen. Amen.

  
  
    [1] Gerhard von Rad, Das Erste Buch Mose. Genesis, ATD 2-4, Göttingen 1976, S. 355.
  
  
    [2] Ebd. S. 360.