Predigt zu Genesis 50, 15-21 von Matthias Loerbroks
50,15
15 Als die Brüder Josefs sahen, dass ihr Vater tot war, sprachen sie: wenn nur Josef uns nicht anfeindet und uns vergilt, vergilt alles Böse, das wir ihm angetan haben.
  16 Sie geboten dem Josef und sagten: dein Vater hat vor seinem Tod geboten:
  17 So sollt ihr zu Josef sprechen: ach, verzeihe doch das Verbrechen deiner Brüder und ihre Sünde, dass sie dir Böses angetan haben.
  So verzeihe nun doch das Verbrechen der Knechte des Gottes deines Vaters.
  Josef weinte, als man ihm das sagte.
  18 Seine Brüder gingen auch hin, fielen vor ihm nieder und sagten: Hier sind wir, deine Knechte.
  19 Josef sprach zu ihnen: fürchtet euch nicht. Bin ich denn an Gottes Statt?
  20 Ihr habt Böses über mich gedacht, Gott hat es umgedacht zum Guten, um zu tun, wie es heute ist: ein großes Volk am Leben zu halten.
  21 Nun aber: fürchtet euch nicht. Ich selbst will euch und eure Kleinen versorgen. Er tröstete sie und redete ihnen zu Herzen.
Erwählung weckt Neid, schürt Eifersucht. Da kann die Bibel noch soviel davon reden, dass die Berufung Abrahams der ganzen Menschheit zugute kommen soll; dass in seinem Samen alle Völker gesegnet sein werden, jedenfalls diejenigen, die ihrerseits Israel segnen und nicht fluchen; dass Erwählung also stellvertretend für alle anderen geschieht; dass Erwählung überdies kein Verdienst ist und auch keine Auszeichnung, auf die man sich was einbilden, mit der man voll behäbigen Stolzes prahlen und angeben kann, sondern Erwählung und Befreiung zum Dienst; dass darum Erwählte auch mit strengeren Maßstäben gemessen werden als die anderen; dass eine solche Besonderung eine Last sein kann, die man immer wieder am liebsten abschütteln, endlich sein möchte wie die anderen Völker auch. Es nützt alles nichts, es bleibt beim Groll, beim Ressentiment: die halten sich wohl für was besseres; die wollen was ganz besonderes sein; welche Überheblichkeit, sich selbst für das auserwählte Volk zu halten! In diesem Grollen und Grummeln wird aus der biblischen Erzählung von der Erfindung, Entstehung, Erwählung und Befreiung Israels der Ursprungsmythos einer grotesken Selbstüberschätzung, wird aus Gottes Erwählung Israels Auserwähltheit und sein Auserwähltheitsanspruch. Und für den nüchtern aufgeklärten Betrachter kann ja die Erzählung von der Entstehung Israels inmitten der Völker, das erste Buch der Bibel also, nichts anderes sein als so ein Mythos, in dem und mit dem ein Volk sein kollektives Selbstverständnis mit erzählerischen Mitteln ausdrückt wie das nationalreligiöse Mythen anderer Völker auch tun, wenn auch ein wirklich nüchterner, ressentimentfrei aufgeklärter Betrachter immerhin einräumen wird, dass es sehr viel glänzendere, helden- und sagenhaftere Selbstverständigungserzählungen gibt als die biblischen.
Dass alle diese biblischen und theologischen Bemühungen, sei es den Erwählungsgedanken, sei es die Erwählungswirklichkeit verständlicher, deutlicher, auch erfreulicher zu machen, vergebliche Liebesmühen sind, das weiß die Bibel, bzw. das wissen ihre Verfasser auch, und so werden die entsprechenden Konflikte miterzählt, genauer: die biblische Erzählung besteht aus lauter solchen Konfliktgeschichten, Konflikte zwischen Brüdern, für die die Geschichte von Kain und Abel das Grundmuster ist: der Mensch, der ohne seinen Bruder sein will und schon gar nicht einsieht, eine Beziehung zu Gott nur mit und durch seinen Bruder haben zu können. Angesichts dieses Grundmusters müssten kundige Bibelleser, erfahrene Predigthörer vor Schreck zusammenzucken, wenn das Wort Brüderlichkeit zur Parole erhoben wird, sei es in der Französischen Revolution, sei es für die Woche der Brüderlichkeit. Denn auch die Geschichte, die mit Abraham beginnt, die doch eine Gegengeschichte zur Adam-und-Eva-, zur Kain-und-Abel-, zur Babel-Menschheit werden soll, ist eine Geschichte von Brüderkonflikten in jeder Generation, wenn auch mit dem gewichtigen Unterschied, dass sie anders als bei Kain und Abel nicht tödlich enden, immer nur fast. Und illusionslos deutlich wird in dieser Geschichte auch: die Verhältnisse zwischen Schwestern sind vielleicht weniger lebensgefährlich, aber nicht erfreulicher als die zwischen Brüdern.
Diese Gegengeschichte, eine Segensgeschichte in, für und gegen die fluchbeladene Menschheits- und Völkergeschichte, ist ja Teil der Weltgeschichte, spielt nicht anderswo, im Paradies etwa oder auf dem Mond. Und da wird aus dem Segen die Konkurrenzfrage: wer ist denn Träger, Erbe, Objekt und Subjekt jenes Segens in der jeweils nächsten Generation? Ob die Geschichte Gottes mit der Menschheit über Ismael oder Isaak weiterging, ist ja bis heute zwischen Juden und Christen auf der einen, Moslems auf der anderen Seite eine offene, umstrittene Frage. Wieder und noch dramatischer stellte sie sich zwischen Isaaks Söhnen, den Zwillingen Esau-Edom und Jakob-Israel. Jakob hatte sich das Erbe dieses Segens durch Betrug und Versteckspiel erschlichen, war sich darum auch dann nicht sicher, ihn wirklich zu haben, als er sich bereits materiell und eindrucksvoll ausgewirkt hatte, sondern rang um ihn in einer gespenstisch nächtlichen Szene mit einem Gegner, der die Züge eines Engels Gottes und die des betrogenen Bruders geheimnisvoll verband, ein Ringkampf, der ihm den Namen Israel eintrug, ein Name, der immer an diesen Kampf mit Gott und den Menschen erinnert.
Auch unter den zwölf Söhnen Jakobs, unter den Söhnen Israels, setzt sich diese Konkurrenz und damit auch das Kain-und-Abel-Motiv fort. Obwohl Israel gewiss alle seine Söhne und auch seine Tochter Dina liebte, ist er doch ungeschickt genug, einen dieser Söhne den anderen eindeutig, sichtbar vorzuziehen. Und der wiederum tut alles, aber auch wirklich alles, um jenen Groll, jenes Ressentiment gegen einen Erwählten nicht nur zu bestätigen, sondern geradezu genüsslich zu provozieren: ein Angeber, der seinen Brüdern und sogar seinem liebevollen Vater mit seinen größenwahnsinnigen Visionen auf die Nerven geht. Außerdem eine Petze: er lässt beispielsweise durchblicken, dass der älteste Sohn die Konkurrenzfrage – etwas euphemistisch ausgedrückt – in die eigene Hand genommen, geglaubt hat, Israel ersetzen, ablösen, bereits zu Lebzeiten beerben zu können und zu sollen, was bekanntlich später auch andere, ebenso irrig, glaubten. Es ist nicht schön, aber es ist wirklich auch kein Wunder, dass die Brüder voller Hass sind, Mordpläne schmieden, wobei es dann doch der von ihm verpfiffene älteste Bruder ist, der das Schlimmste verhindert: Josef wird nicht getötet, nur fast, und in grimmiger Ironie nutzen die Brüder jenen bunten Rock, der so aufreizend seine Bevorzugung demonstrierte, um dem Vater weis zu machen, sein Lieblingssohn sei wirklich tot.
Stattdessen wird er – für 20 Silberlinge – in die Fremde verkauft, in die Hände der Völker überliefert. Zweimal wird Josef gedemütigt, gestürzt, landet im tiefsten Loch, zweimal steht er wieder auf, steigt auf, wird erhöht, sehr hoch, weil ihm einfach alles gelingt. Natürlich kann man diese Geschichte gutbürgerlich wie einen Bildungs-, einen Entwicklungsroman lesen, und hat das ja auch getan: wie aus einem überheblichen Träumer und Traumtänzer ein kundiger Traumdeuter wird, aus einem jungen Schnösel ein geschickter Politiker, ein – erfolgreich! – vorausschauender Regierungschef. Man kann sie aber auch biblisch verstehen als einen Hinweis, dass es sich bei Josef tatsächlich um den Erwählten handelt, nicht bloß um ein verzogenes Vatersöhnchen, um den Gesegneten unter seinen Brüdern, der ihnen schließlich zum Segen wird und den Völkern auch, denen es gut geht, solange sie von ihm sich raten, was sagen lassen, und schlecht, als sie von Josef nichts mehr wissen. Und so erfahren wir, was es mit dem göttlichen Erwählen und mit dem Segen auf sich hat: die Erwählung Josefs als Gesegneter unter seinen Brüdern und ihnen zugute wird so zum Anschauungsunterricht für die Erwählung Israels als Erstling unter den Völkern. Und dann merken wir, wir christlichen Bibelleser aus den Völkern: die fast mörderischen Konflikte zwischen Geschwistern sind doch nur die eine Seite der Geschichte. Alles zielt doch auf Versöhnung, auf Zulassung der so hartnäckig verdrängten, verleugneten Liebe: wie hart ist es für Josef, hart zu bleiben.
Und noch etwas lernen wir aus dieser Geschichte, besonders aus dem theologischen Fazit, das Josef hier zieht: der Gott Israels kann, nicht unähnlich Hegels List der Geschichte, auch unsere Bosheiten nutzen, umfunktionieren, um auch mit ihnen seine Ziele weiter zu verfolgen, Gutes zu bewirken. Dietrich Bonhoeffer hat diese Einsicht, wie es auch sonst seine Art war, noch radikaler zugespitzt: ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will, sagt er zunächst und paraphrasiert damit Josefs Fazit, fügt aber hinzu: ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.
Ihr habt Böses geplant, Gott hat´s umgeplant zum Guten. Dass diese Brüder ihren Bruder verraten und verkauft haben, mag verständlich sein, ist und bleibt aber böse – und so wäre es äußerst kühn zu behaupten, dass das Gottes Wille war. Aber Gott hat auch daraus Gutes zu machen gewusst. Der Gott Israels ist nämlich weder der große Diktator, der die ganze Weltgeschichte minutiös vorausgeplant hat und sie nun wie am Schnürchen ablaufen lässt und uns Menschen als seine Marionetten an entsprechenden Schnürchen führt, so dass wir ständig seinen Willen tun. Er ist aber auch nicht jener in die Mode gekommene vollkommen ohnmächtige Gott, der nur hilflos schimpfen und klagen kann, dass wir partout seinen guten, menschenfreundlichen Willen sabotieren und so ins Unglück rennen, der in seiner Not auf unsere Hilfe, Hände Füße usw. angewiesen ist. Sondern er ist ein Meister darin, aus Bösem Gutes zu machen.
Für christliche Bibelleser ist die Josefgeschichte und ihr theologisches Fazit, ihr erfahrenen Predigthörer habt es längst gemerkt, auch ein Deutungsrahmen, um die Jesusgeschichte besser zu verstehen. Fast auf jeder Seite unserer Evangelien lesen wir von seinen Bemühungen, Israel ganz und heil zu machen, das Verlorene zu suchen, die Rausgefallenen zu integrieren – und hören zugleich von lauter Konflikten, von Streitgesprächen, kriegen mit, dass er nicht versöhnt, sondern spaltet; dass er provoziert und Konfliktgeschichten erzählt – denkt nur an die Geschichte vom letzten Sonntag, die mit den biblisch bedeutungsschweren, dramatischen Worten begann: ein Mensch hatte zwei Söhne. Auch wenn wir, gerade wenn wir inzwischen nicht mehr solche Konflikte als Urbild, als zeitloses Modell des christlich-jüdischen Verhältnisses verstehen, ist unsere Aufgabe, das Evangelium von Jesus Christus nicht als frohmachenden und begeisternden Monolog Gottes zu hören und weiter zu sagen, sondern aus und in diesen Konfliktgeschichten zu hören und zu entfalten. Nie und nimmer können wir einen qualvollen Foltertod etwas Gutes nennen, sondern sind zutiefst überzeugt, dass das etwas Böses war, sind darum auch immer irritiert darüber, dass gerade das Kreuz zum christlichen Symbol und kirchlichen Logo geworden ist, nehmen aber auch hier staunend wahr, wie Gott Böses genutzt hat, um Gutes zu bewirken: uns zugute. Jesus Christus ist gestorben, sagt Paulus, auf dass der Segen Abrahams unter die Völker käme.
Von einem der Seinen, einem der Zwölf, einem seiner Jünger, seiner Brüder wurde er – diesmal für 30 Silberlinge – verraten und verkauft; von den religiösen Autoritäten seines Volks wurde er weiter überliefert in die Hände der Völker, die ihn nicht nur fast, sondern ganz und gar umbrachten. Doch auch er kam wieder raus, kam wieder frei, wurde befreit aus dem dunklen Loch, wurde erhöht. Und wirkt nun, als Auferstandener, unter den Völkern, dient ihnen zum Segen da, wo sie sich von ihm raten, sich auch politisch was sagen lassen, und arbeitet und kämpft damit zugleich dafür, ein – kleines – Volk, sein Volk, am Leben zu erhalten, will sein Überleben sichern in seinem Land und in allen Ländern, jedenfalls so oder so: unter den Völkern.
Amen.
Liedvorschläge:
Als erstes Lied 253,1-4; zwischen den Lesungen 286 oder 289,1-2 oder 412,3-6; zwischen Evangelium und Predigt 344,6-7 oder 415 oder 412,8; nach der Predigt 404,6-8 oder 318,3-6; zwischen Abkündigungen und Gebet 449,4-6.9 oder 91,4-8; und am Schluss, zwischen Vaterunser und Segen 240.
Perikope
17.07.2013
50,15