Predigt zu Hebräer 12,1-3 von Uwe Tatjes
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Predigt zu Hebräer 12,1-3 von Uwe Tatjes

Liebe Gemeinde,

Lisa kommt heute zum ersten Mal zum Chor. Gesungen hat sie ja schon immer gerne. Aber bislang hatte sie noch nie daran gedacht, auch einmal in einem Chor zu singen. Schon gar nicht in der Kirche. In ihrer Konfirmandenzeit, ja, da waren im Kirchenchor immer Damen mit einem strengen Haarknoten gewesen. Und Herren mit schütterem Haar. Und der Gesang war ernst und dünn gewesen. Sie hatte Gottesdienste mit dem Kirchenchor gefürchtet. Aber als Konfirmand musste man ja hin. Aber neulich bei der Konfirmation, das war ein ganz anderer Chor gewesen. So frisch und lebendig, so strahlend und positiv. Mit schmissigen Liedern, die Spaß machten. Und die Sänger waren bunt gemixt gewesen. Gar nicht so, wie man das in der Kirche erwartet. Sogar ihre Kollegin Meike, die sie aus der Schule kannte, hatte da mitgesungen. Als sie nach der Kirche nach Hause ging, war Lisa ganz beschwingt gewesen. So schön hatte sie Kirche noch nicht erlebt. Und als sie Meike am Montag ansprach und ihr ein Kompliment für den Gesang ihres Chores machte, da hatte sie gelacht, sich bedankt und Lisa eingeladen, doch auch mal zu kommen. Und jetzt steht Lisa in der Tür zum Gemeindesaal, die Gespräche und das Lachen der Sänger klingen wie ein Bienenschwarm. Lisa ist ein wenig unsicher, doch die Chorleiterin bemerkt sie und kommt auf sie zu, begrüßt sie und sagt, dass sie sich über das neue Gesicht freut. Meike winkt Lisa freundlich zu. Und dort hinten sitzt Frau Meier, eine rüstige Alte, die Lisa aus der Nachbarschaft kennt. Sogar Hannes entdeckt sie, der in der Stadt einen Bioladen betreibt. Hätte nicht gedacht, dass die alle in der Kirche sind, denkt Lisa, als die ersten Töne erklingen.

Schlussgottesdienst beim Kirchentag in Dresden. Direkt am Elbufer, gegenüber den Silhouetten der Altstadt treffen sich die Gläubigen. Aus allen Richtungen füllen sich die Elbwiesen um die Bühne, auf der der Gottesdienst stattfinden wird. Einige junge Leute waten bei dem fast sommerlich warmen Wetter in das kühle Elbwasser, man hört Stimmengewirr, Lachen, Kinderweinen, Helfer wuseln umher, Menschen treffen sich. Es scheint einen heimlichen Wettbewerb für den orignellsten Sonnenschutz zu geben. Kirchentagszeitungen werden  auf verschiedene Weise gefaltet, Schals wie Turbane gewickelt. Ich komme mit einem älteren Mann neben mir ins Gespräch. „Das tut mal gut“, sagt er, der aus Ostdeutschland stammt, „normalerweise sind wir ja am Sonntag nur wenige. Aber so sieht man mal, dass wir Christen doch nicht so wenige sind und nicht nur alte Leute.“ Ich nicke. „Und beim nächsten Kirchentag,“, fährt er fort, „da fahren wir einfach die Elbe runter. In Hamburg sehen wir uns wieder. Ich bin dabei. Für mich ist das immer wie Auftanken.“ Ich blinzle ihm zu. Tatsächlich. Solche Erfahrungen tun doch gut. Kirche, das sind nicht wenige. Kirche, das sind mehr, als ich wahrnehme. Und viel mehr Menschen und Erfahrungen, als ich mir vorstellen kann.

Ich lese den Predigttext für den heutigen Palmsonntag, aus Hebräer 12, 1-3.

1 Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist,

2 und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes.

3 Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.

Liebe Gemeinde,

die „Wolke der Zeugen“, das ist ein schönes Bild für die Kirche und unseren Glauben. Mag die „Wolke der Zeugen“ auch ein bisschen altbacken und kirchlich-antiquiert klingen, die Erfahrung, die sich darin ausspricht, ist doch up to date: Kirche ist wesentlich mehr als wir wahrnehmen, und kann ganz anders sein, als wir es uns vorstellen. Eine positive Erfahrung mit Kirche, die Entdeckung, da gehören mehr Menschen dazu, als ich mir vorgestellt habe, zum Beispiel. In unseren Gemeinden wirken Menschen auf unterschiedlichste Weise mit, durch alle Generationen hindurch, von den Männern, die beim Gemeindefest Bier zapfen oder einen Arbeitseinsatz auf den gemeindeeigenen Grünanlagen hinlegen, bis zu Kindergottesdiensthelfern und Johannitern, die Konfirmanden einen Erste-Hilfe-Kurs geben. Von ehrwürdigen Damen bei Altennachmittag, bis zu engagierten Besuchsdiensthelfern und Teilnehmern an Glaubenskursen, von fröhlichen Bläsern oder Sängerinnen bis zu Besucherinnen und Besuchern der Gottesdienste. Vom Austräger des Gemeindebriefes bis zum Spender für ein neues Projekt der Gemeinde.

Auf den ersten Blick hat dieses Bild ja nicht viel zu tun mit der Passionszeit, in der wir mittendrin stehen und auch nicht mit der Karwoche, die nun beginnt. Vielleicht schon eher mit der Erfahrung, die der Mann in Dresden aussprach: Warum sind wir normalerweise so wenige? Warum gelingt es uns scheinbar oft nicht, den Glauben attraktiv und überzeugend zu vermitteln? Auch an diesem Wochenende werden viel nicht in unsere Gottesdienste strömen, sondern eher im Stau auf den Autobahnen stehen, um in die Osterferien zu fahren. Passionszeit scheint heutzutage manchmal zu heißen: an der Bedeutungslosigkeit von Kirche zu leiden. Am Schwund und stellenweise an der Überlastung derer, die sich engagieren.

Erfahrungen, die der Verfasser des Hebräerbriefes auch anspricht: den Glaubenskampf und die Verfolgung, das sind Erfahrungen, die wir in unserer Kirche und Situation nicht oder kaum machen müssen. Andernorts, zum Beispiel zunehmend in islamisch geprägten Ländern haben Christen mit großen Schwierigkeiten zu rechnen, ja vielfach mit Verfolgung und Bedrohung des eigenen Lebens.

Unsere Situation scheint dagegen öfter von Müdigkeit geprägt zu sein, fehlendem Glaubenseifer, Visionen und Motivation, so dass wir schon eher einen Anstoß brauchen, „damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.“, wie es in unserm Predigttext heißt.

Heutzutage ist Cloud-Computing in aller Munde. Für nichttechnische Menschen einfach erklärt: Cloud heißt „Wolke“ und im Zusammenhang mit Computern und Daten bedeutet dies, dass das Sichern von Daten nicht mehr an einen festen Ort gebunden ist. So wie Wolken über den Himmel wandern, so wandern die Daten mit und sind über das Internet überall verfügbar, über jeden Rechner mit Internetverbindung. Das ist praktisch, denn so können verschiedene Menschen an verschiedenen Orten am selben Dokument arbeiten können oder ich auch unterwegs auf wichtige Dokumente oder auch Bilder und Musik zugreifen kann.

Ich möchte diesen Gedanken mit dem Bild von der „Wolke der Zeugen“ verbinden. Auch wir als Christen sind vernetzt. Uns steht ein ungeheurer Erfahrungsschatz von unzähligen Generationen vor uns und auch von Menschen, die mit uns leben zu Verfügung. Verbunden sind wir durch die Hoffnung, die wir teilen. Auch wenn das Christentum auf der Welt überall unterschiedliche Gesichter hat, können wir durch den Glauben und die gemeinsame Hoffnung schnell Kontakte knüpfen, Gemeinschaft erleben, neues erfahren und lernen. Christen in anderen Ländern, die Verfolgung erleiden, die um ihren Glauben kämpfen müssen, können sich durch unsere Unterstützung und unsere Gebete getragen fühlen. Sie erinnern uns daran, dass Glauben auch Einsatz und Auseinandersetzung bedeuten kann. Uns stehen die Erfahrungen und Zeugnisse der Generationen von Menschen vor uns und neben uns zur Verfügung. Sie haben sich auch durch den Glauben getragen gefühlt. Sie haben Gott ihr Leben anvertraut, sie haben ihm ihr Leid geklagt, sie haben ihm für Segen und Bewahrung gedankt, sie sind mit ihm im Glauben und im Leben gewachsen. Es ist diese gute Erfahrung: ich stehe nicht allein mit meinem Glauben. In einer Gemeinde sah ich eine Installation von Schwarzweiß-Fotografien in der Kirche überall an den Wänden entlang. Ich fragte, was das sei. man sagte mir, das seien Gesichter von Gemeindegliedern. Es waren Hunderte. Mir gefiel das. Große und Kleine. Sehe hübsche und nicht ganz so hübsche, unschuldige Gesichter und vom Leben gezeichnete Gesichter. Nahe und Ferne. Sogar einige, die gar nicht zur Gemeinde gehörten, sagte man mir, Gäste eben oder Leute, die bei der Photoaktion zufällig vorbei kamen und so Teil dieser Installation wurden. Alle vereint in der Kirche, so verschieden sie sind. Eine „Wolke der Zeugen“. „Gemeinschaft der Heiligen“, wie wir es im Glaubensbekenntnis ausdrücken. Ein Netzwerk der Hoffnung.

Kirche kann mehr sein, als ich in meinem manchmal doch eher schwachen Glauben erkenne. Gemeinde viel mehr, als das was ich vielleicht gerade vor Ort erkenne. Glaube sieht über den Tellerrand hinaus, fühlt sich durch andere ermutigt und getragen. Der Glaube sieht mehr als den Augenschein, er hofft auf das, was Gott in jedem von uns schon sieht: So wie wir sind, und doch mehr als wir glauben können. Gott sieht in uns unentdeckte Möglichkeiten, er glaubt an uns, auch wenn wir alles andere als perfekt sind.

Dieser Glaube kommt aus dem Vertrauen zu Jesus, der uns nicht aufgibt und der diese Welt nicht aufgab. Der sich bis zum äußersten hinein gab in diese Welt, voller Liebe und Vertrauen, auch bereit, diesen Weg bis in die tiefste Tiefe zu gehen. Jesu Weg führt an die dunkelsten Stellen dieser Welt, er führt durch das Leid. Aber er ist ein Hoffnungsweg, auf den er uns mit nimmt. Weil seine Liebe und sein Vertrauen am Ende stärker sind als der Tod, die Resignation, die Ablehnung. Er kommt, um uns mit hinein zunehmen in dieses große Netzwerk der Hoffnung, „die Wolke der Zeugen“, „damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.“

Mit ihm fängt unser Glaube an, in ihm weitet sich unser Blick. Wir sehen neue Horizonte. Er ist der „Anfänger und Vollender des Glaubens“, an seinen Weg denken wir in dieser Woche.

Eine Frau aus Lisas Chor, in respektablen Alter, schrieb mir neulich, sie sei so froh, dass sie in ihrem Alter noch mitsingen könne. Nach dem Tod ihres Mannes habe ihr das geholfen, wieder ins Leben zu finden und das singen gebe ihr so viel Kraft und Freude. Ich frage mich, wie es wohl Lisa gefallen wird in ihrem Chor. Ich hoffe, für sie wird es ähnlich schön wie für die Briefschreiberin. Ein klingendes und singendes Netzwerk der Hoffnung eben.

Beim Abschlussgottesdienst des Kirchentages in Hamburg im Stadtpark, mit 130.000 Menschen, musste ich an den älteren Mann aus Dresden denken. Wie hatte er gesagt? Wir fahren einfach die Elbe herunter... Ob er jetzt wohl mit feierte? Wie es ihm wohl ging? Gesehen habe ich in nicht in Hamburg, aber als das erste Lied aus vielen, vielen Kehlen angestimmt wurde, da fühlte ich mich mit ihm verbunden und fühlte mich selber getragen von einer Wolke der Hoffnung. Amen