Liebe Gemeinde!
Es ist kein Geheimnis, dass unsere christliche Tradition und die Gestaltung unseres Glaubenslebens in der Kirche maßgeblich auch von der Tradition des Volkes Israel bestimmt ist. Jesus war in der Tradition des Judentums aufgewachsen und selbstverständlich darin zuhause.
Wenn wir Christen am Gründonnerstag die Einsetzung des heiligen Abendmahl durch Jesus feiern, verstehen wir das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern im Zusammenhang mit der Feier des Passahmahles. Wir erinnern uns: Die zehnte Plage über Ägypten, dass alle Erstgeburt von Mensch und Vieh in der nächsten Nacht sterben wird, war angesagt. Den Israeliten wurde befohlen, sich in den Häusern zu versammeln und in der Nacht als Hausgemeinschaft ein Lamm zu essen, dessen Blut zuvor auf die Türrahmen der Eingangstüren gestrichen werden sollte.
Das Blut des Lammes hat das Volk Israel geschützt und alle Erstgeburt vor dem Tod bewahrt. Daraus ist die Tradition des Passahlammes entstanden.
Das Blut, das vor dem Tod bewahrt, hat die christliche Glaubensentwicklung mit einer anderen Tradition des Volkes Israel, der des Versöhnungstages (3.Mose 16,29-34), im Zusammenhang gesehen. Der Hebräerbrief ist ein Beispiel dafür.
„Jesus hat, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.“
Dieser Satz ist eine Glaubensvergegenwärtigung und auch eine Einladung, uns das Kreuzigungsgeschehen vor den Toren der Stadt Jerusalem mit unserem inneren Auge anzuschauen.
Für wie wichtig dieses Sehen auf den gekreuzigten Jesus in der christlichen Tradition wurde, zeigen die Kruzifixe und Kreuze in unseren Kirchen.
Mit diesen Kruzifixen und Kreuzen verbinden wir den Glauben: für uns gestorben.
Wenn wir die ganze Bedeutung Jesu erfassen wollen, ergänzen wir zu: für uns gelebt und für uns gestorben.
Damit haben wir uns aus der jüdischen Tradition gelöst und benennen den zentralen christlichen Gedanken unseres Glaubens.
„So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.“
Dem Schreiber des Hebräerbriefes ist es wichtig, uns aus dem vertrauten Kreis unserer gedanklichen Glaubensvorstellungen herauszuführen auf die Ebene des Erlebens.
Hier sind wir weit weg von Kriterien und Argumenten eher unseren Gefühlen ausgeliefert.
Auf der Ebene des Verstandes hören wir das Wort Schmach.
Schmach bedeutet etwas, das als schwere Kränkung, Schande oder Demütigung empfunden wird.
Jesus erleidet draußen vor dem Tor die schlimmste Strafe, die für einen Verbrecher vorgesehen ist, der sich außerhalb der Gesellschaft gestellt hat.
Um die Lage Jesu zu verstehen, können wir die Ereignisse der Passionsgeschichte vor unserem inneren Auge ablaufen lassen. Wir werden das Geschehene mehr oder weniger verständnisvoll zur Kenntnis zu nehmen. Uns werden Bewertungen und Beurteilungen einfallen wie: schrecklich, grausam oder welch schlimmes Leiden.
Wir bleiben dabei distanziert vom Geschehen und wissen: wir selbst sind nicht betroffen, auch wenn wir im Hinterkopf vielleicht die wichtigen Worte „für euch“ haben.
Der Schreiber des Hebräerbriefes will bei seinen Lesern mehr als dieses distanzierte Betrachten hervorrufen.
Er weiß, dass wir Christen eine existenzielle Verbindung mit Jesus brauchen, um ihm wirklich durch den Tod in die Auferstehung folgen zu können.
Eine solche existenzielle Verbindung umfasst mehr als nur den Verstand und einen Entschluss zu glauben, was uns in der Form christlicher Glaubensbekenntnisse von Menschen überliefert ist, die weit vor uns in dieser Welt als Christen gelebt haben.
Diese Verbindung beinhaltet totales Vertrauen und eine Überlassung des eigenen Wollens mit allen Fasern unseres eigenen Strebens. Natürlich schließt diese Verbindung auch unsere tiefsten Gefühle ein.
Das Erleben, das dann möglich wird, führt uns am Ende zu einem tiefen Frieden, einem grenzenlosen Vertrauen und einer wärmenden Geborgenheit.
Wir kommen dabei in Bereiche unserer Erlebens, die mit Worten nicht mehr zu vermitteln sind.
Wenn Menschen solche Erlebnisse zu beschreiben versuchen, sind es oft Bilder und Vergleiche, die eine Richtung angeben oder eine Spur legen.
Menschen, die sich um die Darstellung der Wahrheit des Erlebten bemühen, machen oft Glaubensaussagen: Gott oder Jesus ist die Liebe. Gott ist barmherzig. Gott oder Jesus liebt mich.
In unserem Falle, Jesus in seinem Leiden und seiner Schmach nahe zu kommen, oder sie sogar zu tragen, kann es zu einer unmittelbaren Einsicht kommen: Das hat mit mir zu tun, weil ich es ganz persönlich ganz tief und umfassend erlebe, dass ich mit Jesus verbunden bin.
Zur Vorbereitung dieser Predigt habe ich in unserer Bibliodrama-Gruppe unter der Leitung eines Kollegen versucht, den Predigttext als Grundlage der Arbeit einzubringen. Wir haben uns schließlich auf die Gethsemane-Geschichte geeinigt. Jesus geht mit seinen Jüngern in den Garten Gethsemane, um sich dort zum Gebet zurückzuziehen. Das Ringen Jesu im Gebet um seine Bestimmung wird zum zentralen Ereignis. Die drei Jünger, die er gebeten hat, in der Nähe zu wachen, schlafen immer wieder ein. Dreimal betet Jesus. Der Mann, der die Rolle Jesu im Bibliodrama übernimmt, schildert danach sein Erleben: Tiefe Trauer hat ihn ergriffen. Er hatte ein Gefühl, als würde er in einem Meer von Trauer gegen das Versinken kämpfen. Dabei hat er die Worte „nicht mein sondern dein Wille geschehe“ wiederholt immer wieder beschwörend gesprochen.
Die Unterbrechungen dieses Ringens durch den zweimaligen Kontakt mit den eingeschlafenen Jüngern erlebt er als Pausen zum Kraftschöpfen.
Im dritten Anlauf des Gebetsringens taucht das Thema loslassen auf.
Er fühlt das Loslassen im Geschehen zunehmend als Befreiung von der Notwendigkeit, im Meer der Tränen gegen die Kraft ankämpfen zu müssen, die ihn herabzog.
Mit dem Loslassen verschwindet auch das Bestreben, am eigenen Willen festhalten zu wollen und auch das Meer der Trauer verschwindet. Es kommt das Gefühl, fest auf eigenen Beinen zu stehen.
Am Ende wird der Wille ganz klar und deutlich, den Weg gehen zu wollen, der dem Willen und der Führung Gottes entspricht.
Im weiteren Geschehen des Bibliodramas kommt ein Jüngerin ganz nah an Jesu Seite und sagt leise: „Ich habe Angst.“ Jesus antwortete: „Ja, ich auch...“ und legt seinen Arm um sie.
„Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Es gehört zu den Grundwahrheiten, die jeder Mensch erfährt:
Unser Leben ist durch Tod und Sterben begrenzt, Angst ist unser ständiger Begleiter, um uns auf Gefahren aufmerksam zu machen.
Unser Verstand versucht, die Grenze des Todes zu bedenken und stößt immer wieder auf das Gefühl der Angst, die in dieses Leben gehört, weil sie mit dem Tod zusammenhängt.
Gott sei Dank haben wir Jesus.
Er sagte zu seiner Jüngern: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh 16,33)
Die Angst vor dem Tod wird uns immer wieder begegnen, wenn unser Leben bedroht wird.
Den Weg durch Angst und Tod weist Jesus: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ (Joh. 14, 6)
Die Theologin Petra Steinmair-Pösel hat zu diesem Jesuswort eine menschliche Antwort gefunden. Sie hat es erlaubt, ihren Text in diese Predigt aufzunehmen:
in den sackgassen
den auswegslosen stunden
am rande des abgrunds
sei DU mein WEG
in der verwirrung
gefangen inmitten von täuschung und betrug
wenn ich mich selbst nicht mehr kenne
sei DU meine WAHRHEIT
wenn alles aus scheint
menschen sich abwenden
und mörderischer konflikt meine tage vergiftet
sei DU mein LEBEN
dann kann
dann will
dann darf ich leben
Im Angesicht des Todes selbst sind für mich die letzten beiden Verse aus dem Passionslied Paul Gerhards „O Haupt voll Blut und Wunden“ ganz tief tröstlich:
Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir.
Wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann dafür.
Wenn mir am aller engsten wird um das Herze sein,
so reißt mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.
Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod,
und laß mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot.
Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll
dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl.
Amen