Liebe Gemeinde!
Der heutige Sonntag wird der Hirtensonntag genannt. Hirten, die ihre Schafherden weiden, gibt es in Deutschland nur noch selten zu sehen. Schafe grasen wohl am Deich in Ostfriesland oder in der Lüneburger Heide, aber die Hirten fehlen. Das heißt nicht, dass die Schafe sich selbst überlassen sind. Ein guter Schäfer sieht nach seinen Tieren; er weiß, wenn ihnen etwas fehlt; schafft Abhilfe. Er versorgt kranke Tiere, führt schwache Schafe in den Stall. Dort bleiben sie so lange, bis sie wieder stark genug sind, draußen bei der Herde zu sein. Aber das gibt es auch: dass ein Hirte sich nicht um seine Schafe kümmert. Ich habe ganze Schafherden am Deich laufen sehen, wovon die meisten Tiere lahmten. Bei einer Landbegehung einer Kirchengemeinde in Ostfriesland entdeckten wir das Gerippe eines verstorbenen Schafes. Der Schäfer hatte noch nicht einmal gemerkt, dass eines seiner Tiere tot war. Nicht jeder Hirte ist ein guter Hirte.
Dass das so ist, wissen schon die Propheten des Ersten Testaments. Sie spielen auf die Hirten an, die das Volk Israel führen. Gott richtet sein Wort an die falschen Hirten und spricht durch den Mund des Propheten Hesekiel: „Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht ihre Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht und das Kranke heilt ihr nicht. Das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, das Verlorene sucht ihr nicht. Was stark ist, tretet ihr nieder mit Gewalt“ (Ez 34,1ff).
Als ob der Text direkt zu uns spräche. Beinahe nahtlos können wir ihn übertragen auf bestimmte Verhaltensweisen einflussreicher Menschen unserer Zeit. Verantwortliche in Wirtschaft, Politik, ja selbst in der Kirche, lassen sich bei wichtigen Entscheidungen, die weitreichende Folgen haben, von Kriterien leiten, die egoistisch, kurzsichtig und oft genug ihnen selbst am meisten nützen.
Gott zürnt den schlechten Hirten, setzt sie ab, richtet sie und will selbst der Hirte seines verlorenen Volkes sein, der sich kümmert und für die Menschen sorgt: „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen, das Verwundete verbinden und das Schwache stärken. Was fett und stark ist, will ich behüten: Ich will weiden, wie es recht ist. (Ez 34,16). Gott zeigt sich seinem Volk voller Güte und Barmherzigkeit. Unsere Situation ist nicht die Situation des alten Israels, aber auch wir hoffen auf die Zuwendung Gottes und sein gütiges Erbarmen, wenn wir Hilfe und Rettung brauchen; wenn wir Schafen gleichen, die verwundet, geschwächt und verloren gegangen sind.
Miserikordias Domini - das Erbarmen Gottes - so heißt der 2. Sonntag nach dem Osterfest, der der Hirtensonntag genannt wird. Ein rechter Hirte kennt seine Herde; sieht, wenn ihr etwas fehlt; greift ein, wenn sie bedroht ist; erbarmt sich einzelner Tiere, wenn sie Hilfe oder besonderer Fürsorge bedürfen. Einen Mangel, eine Not entdecken und Abhilfe schaffen geht mit Erbarmen einher. Wer eine Not erkennt, sich aber davon nicht anrühren lässt, greift nicht ein und hilft auch nicht, sieht er doch dafür keinen Anlass.
Jesus selbst wird im Zweiten Testament als der gute Hirte bezeichnet, der sich erbarmt und hilft. Das hat nichts mit der romantischen Vorstellung von Jesus als dem guten Hirten zu tun, der in der einen Hand seinen Hirtenstab hält und mit der anderen Hand ein kleines Lamm auf dem Arm trägt. Jesus ist der gute Hirte, der die Seinen kennt und sein Leben für sie lässt (Joh 10,11b).
Das Gleichnis vom verlorenen Schaf kommt mir in den Sinn. Jesus als der gute Hirte geht dem Verlorenen nach und sucht so lange, bis er es findet (Lk 15,1ff).
Hirten waren die Väter der Vorzeit: Abraham, Isaak und Jakob. Als Nomaden zogen sie mit ihren Herden durch die Steppe. Ihre Herde ist ihr Reichtum. Sie leben von den Tieren, von ihrer Milch, ihrem Fleisch, ihrer Wolle und ihren Fellen. Doch die Herde lebt auch von ihnen, von ihrer Fürsorge und Erfahrung.
Ein Hirte ist auch König David. Als er zum König gesalbt werden soll, findet der Priester Samuel ihn auf dem Feld bei den Herden. Der König im alten Israel hat zugleich das Hirtenamt über sein Volk, das in erster Linie mit Verantwortung verbunden ist. Ein guter Hirt stellt das Wohl der ihm Anvertrauten hinter sein eigenes. Gott selbst kann zum Bild des guten Hirten werden: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ (Ps 23). Der ersehnte Messias erscheint im Bilde des Hirten: „Er wird seine Lämmer in seinem Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen“, so die Vorstellung des Propheten Jesaja (Jes 40,11). Mose hat die Herde seines Schwiegervaters Jethro gehütet. Hirten auf den Feldern von Bethlehem wird die frohe Botschaft zuerst verkündet. Nach dem Johannes-Evangelium wird Jesus als Erwachsener von sich sagen: „Ich bin der gute Hirte“
(Joh 10,11a).
Ein Hirte, der sich um die Seinen sorgt, sich um sie kümmert und sie in sichere Obhut nimmt, ist auch heute noch in unserer modernen technisierten Welt ein Bild, das als wohltuend empfunden wird. Viele sehnen sich nach Geborgenheit, Wärme, Schutz und Zuwendung, eben weil ihnen diese fehlen. Mit dem Bild des Schafes, das notwendigerweise zu einem Hirten dazugehört, können wir uns weniger identifizieren, wenn wir die Vorstellung damit verbinden, dass ein Schaf gedankenlos einem Anführer hinterherläuft. Unkritisch und gedankenlos will niemand sein, das wäre auch fatal. Mit dem Bild eines Schafes hingegen in dem Sinne, das jenes bewahrt und behütet wird, können wir durchaus etwas anfangen. Die Sehnsucht nach einem friedvollen beschützten Leben ist auch heute groß. Das Bild vom guten Hirten hat nichts von seiner Anziehungskraft verloren.
Im heutigen Predigttext steht das Bild des guten Hirten neben anderen theologischen Begriffen: „Der Gott des Friedens, der den großen Hirten der Schafe, Jesus, von den Toten heraufgeführt hat durch das Blut des ewigen Bundes, der mache euch tüchtig in allem Guten … durch Christus, welchem Ehre sei von Ewigkeit zu Ewigkeit.“
Vom Gott des Friedens ist die Rede, von den Toten heraufgeführt, vom Blut des ewigen Bundes, von Gottes Willen, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Die Aneinanderreihung von theologisch großen Begriffen wirkt floskel- und formelhaft und könnte eher ein Teil der Liturgie in einem Gottesdienst sein als ein Predigttext, der ausgelegt werden soll. Der Verfasser des Hebräerbriefes nimmt mit diesen liturgisch klingenden Formulierungen Worte auf, die in frühen christlichen Gemeinden im Gottesdienst verwendet wurden. Er hat sie in seinem Brief bewusst an den Schluss gesetzt. Am Ende will er noch einmal das Wesentliche sagen und es der Gemeinde ins Gedächtnis einprägen. Hinter den formelhaft wirkenden Worten steht das ganze Heilswerk Christi mit den daraus resultierenden Konsequenzen für die Nachfolge.
Von den Toten heraufgeführt: Gott hat Christus nicht im Tod gelassen, er hat ihn aus der Tiefe heraufgeführt und in den Himmel erhoben. Der Bund des Blutes ist ein ewiger Bund, der den Zugang zum Heiligtum des neuen Lebens im Himmel bei Gott und Christus eröffnet. Das Blut des ewigen Bundes erinnert aber auch an das Blut, das die Israeliten an die Türpfosten ihrer Häuser strichen in der Nacht, als sie in Ägypten aufbrachen und die Sklaverei hinter sich ließen. Das Blut am Türpfosten hat sie vor dem Todesengel bewahrt. Christus ist der zweite Mose, der die Seinen rettet.
Christus, der von den Toten heraufgeführt worden ist, der mache euch tüchtig in allem Guten: In Jesus hat sich Gottes Wille noch einmal offenbart. Das Gute soll sich in der Nachfolge zeigen. Was das Gute ist, in dem wir tüchtig gemacht werden, führt der Hebräerbrief am Anfang des Kapitels aus: Wir sind befreit, um geschwisterliche Liebe zu üben. Wir dürfen Gastfreundschaft gewähren. ......Wir brauchen nicht geldgierig zu sein und auch nicht falschen Lehren nachzulaufen..., denn Gott hat unser Herz fest gemacht (vgl. Hebr 13,1-9). Wir sind nicht überfordert mit dem Tun des Guten. Der ganze Predigttext ist ein Segenswunsch. Der Gott des Friedens möge uns tüchtig machen. Der Wunsch richtet sich nicht als überhöhte Forderung an uns, sondern der Wunsch richtet sich an Gott selbst. Gott möge wirken, dass Christinnen und Christen tüchtig werden in allem Guten.
Gottes Heilstat für uns hat Auswirkungen auf unsere Verhaltensweisen. Wir können Gott nicht loben und gleichzeitig unseren Nächsten missachten. Gott schenkt uns seinen Frieden. Der Frieden ist nicht begrenzt auf unsere engste Familie, auf Menschen, mit denen wir gut auskommen, der Friede ist umfassend. Er betrifft auch die Menschen, die ich nicht leiden kann. Der Frieden Gottes betrifft Menschen, die weit weg von mir sind, die ich gar nicht kenne. Gott kennt sie. Gottes Frieden betrifft Arme und Reiche, notleidende Schwache und einflussreiche Starke. Gottes Friede betrifft Völker und Nationen, den Frieden mit der Kreatur und der Schöpfung. Gottes Frieden ist ebenso der Frieden, der uns in Ewigkeit erwartet. In der Nachfolge Christi können wir selbst die guten Hirtinnen und Hirten sein, durch die der Friede Gottes in der Welt aufleuchtet. Wir suchen das Verlorene, schenken Menschen und Tieren, die auf unsere Hilfe angewiesen sind, Zuwendung und Erbarmen. Wir merken auf, wo jemand verwundet ist, helfen und heilen.
Christus und Gott gebühren Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit. Mit diesem großen Gottespreis endet der Hebräerbrief. Das Gotteslob wird bekräftigt mit einem abschließenden Amen.
Die letzten Worte des Hebräerbriefes sind so etwas wie ein Testament: Der Gott des Friedens führt uns heraus aus der Tiefe des Todes und schenkt uns das Leben. Christus verbürgt sich dafür: Er ist unser gute Hirte, der auf uns achtet und auf uns aufpasst, uns beschützt, behütet und bewahrt.
Auf seinem Arm getragen zu sein, gibt Trost und Zuversicht.
Im Bausch seines Gewandes behütet zu sein,
schenkt Wärme und Schutz.
Bei ihm zu sein, schenkt Geborgenheit und Frieden. Amen.