Predigt zu Hebräer 13,20-21 von Jan Hermelink
13,20-21

Predigt zu Hebräer 13,20-21 von Jan Hermelink

Liebe Gemeinde,

„der gute Hirte“ –
so lautet, in der Tradition der Kirche, das Thema dieses Sonntags;
und Sie haben schon gemerkt, wie heute alle Texte dieses Thema umkreisen –  der Psalm 23 „Der Herr ist mein Hirte ... auch wenn ich wandere im finstern Tal ...“,
– die Zusage Gottes an den Propheten, die zerstreute Herde
des Volkes Israel wieder zu sammeln, sie wieder auf den Bergen
und in den Tälern des Landes wohnen zu lassen, 
– und die Rede Jesu nach dem Johannesevangelium: „Ich bin der gute Hirte, ich kenne die Meinen, und die Schafe hören meine Stimme ...“

Hört man genau hin, dann geht es in diesen Texten allerdings weniger um den Hirten als vielmehr: um die Schafe, oder genauer:
um uns, um uns Christen, die wir hier in St. Nikolai –
wie in vielen anderen Kirchen –  versammelt sind.
Heute werden wir einmal nicht als freie Christenmenschen,
als mündige Christen angesprochen, sondern als Schafe, als Herdentiere:
– im Plural, nicht im Singular,
– als Geführte und nicht etwa als Führungskräfte, wie es sonst in der Universität üblich ist.

Die Christen als Schafe – dieses Bild mutet uns zu,
das eigene Leben recht anders zu sehen,
als man das als Akademikerin oder als künftiger Akademiker
für gewöhnlich tut.

Die Christen, wir Christen als Schafe –
mit diesem Bild wird uns eine andere Perspektive auf unsere Lebensführung und unsere Lebensziele zugemutet –
und zwar, wenn ich recht sehe, in mindestens drei Hinsichten.
Das will ich mit Ihnen zunächst bedenken,
ehe wir uns – im zweiten Teil der Predigt – dem Predigttext für diesen Sonntag zuwenden.

Das erste Umdenken, die erste ungewohnte Perspektive
zeigt sich schon in dem Psalm 23.
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln ...“ –
ein Bekenntnis, bei Gott behütet und geborgen zu sein –
und zugleich ist das ja ein Bekenntnis dazu,
wie sehr, wie vielfältig diese Geborgenheit bedroht ist:

Wer den Psalm 23 betet, erinnert sich daran, spricht aus,
wie es ist, durch ein „finsteres Tal“ zu gehen,
wie oft man angewiesen auf Trost und auf Ermutigung.

Wer Psalm 23 betet, benennt die „Feinde“, in deren Angesicht, vor deren Augen man sich befindet – nicht immer mit einem gedeckten Tisch.

Meine Feinde: das sind nicht immer konkrete Menschen oder Gruppen.
Das können auch Ängste sein – vor dem Versagen, vor der Überforderung:
Ängste, die sich in Traumgesichtern verdichten, in bedrohlichen Bildern.

Wir sind bedroht – durch finstere, feindliche Mächte,
und dazu – wie Schafe eben – auch durch mangelnde Orientierung;
wir sind unsicher, wo der richtige Weg ist;
oft wissen wir nicht, welchen Wegweisern, welchen Stimmen wir vertrauen sollen.

Autonom, mündig, selbstbewusst –
das trifft unsere Lebenserfahrung doch nur zum Teil.
Immer gibt es auch eine andere Seite – die Angst, die Unsicherheit,
die Abhängigkeit von Stimmen und Stimmungen.

Diese Lebenserfahrung,
dieses Wissen darum, wie abhängig, wie unsicher, wie bedroht wir leben –
diese Erfahrung, so gerne wir sie beiseite schieben, ist im Bild des Hirten und der Schafe verdichtet.

Auch in einer weiteren Hinsicht erinnert uns das Bild von den Schafen
an eine Einsicht, die wir (die einen mehr, die anderen weniger) verdrängen. 

Wenn die Beterin in Psalm 23 bekennt
„Der Herr ist mein Hirte ... er weidet mich auf grüner Aue“,
dann wird ausgeblendet, dass das Schaf normalerweise nicht allein ist.

Die Gottesgläubigen, Juden und Christen als Schafe – das heißt auch:
wir sind Teil einer Herde: Herdenmenschen, Gruppentiere.

In unserer Gesellschaft, und daher auch in unserer Universität
wird uns zunächst eine andere Sicht vermittelt:
Wichtig bist Du als Einzelner – als Leistungsträger oder als Sozialfall,
als Erstsemester, als Stipendiat, als Doktorandin, als Verwaltungschef – stets wird gefragt, was Du zum Gelingen des Ganzen – des Studiums,
der Lehre wie der Forschung – beiträgst, oder eben nicht beiträgst.

Gewiss, die Forschung geschieht in Arbeitsgruppen und Kollegs;
im Studium ermuntern wir zur Gruppenarbeit, zum team building
aber am Ende, bei der Prüfung wie bei der Anstellung, der Berufung
wird mit jedem Einzelnen abgerechnet.
Das prägt unser Miteinander: akademisch wie gesellschaftlich.

Das Bild von den Schafen macht die andere Seite stark, die Seite der Herde
Wir sind aufeinander angewiesen – am Lehrstuhl wie in der Forschergruppe,
beim Übungsprotokoll wie in der Fachschaft.

Wenn die Arbeit sich vor allem am Schreibtisch vollzieht –
so ist es jedenfalls für Geisteswissenschaftler, auch Theologieprofessoren – dann muss man sich an diese andere Seite
immer wieder erinnern und erinnern lassen:

Wir leben nicht vereinzelt, wir lernen und arbeiten auch nicht als Einzelne und keineswegs nur auf eigene Rechnung.

Gemeinsames Suchen, einander Fragen und miteinander Finden –
das ist, oder das sollte im akademischen Leben mindestens ebenso wichtig sein wie das einsame Lernen.

Gemeinsames Suchen und Finden, einander Fragen und Anvertrauen,
sich zusammen Irren und einander Wiederfinden –
das ist im menschlichen Leben allemal wichtiger
als die individuelle Leistung, als der individuelle Erfolg.

Für viele mag das selbstverständlich sein.
Aber ich habe den Eindruck: Je höher man auf der Karriereleiter steigt,
je mehr man riskiert, je mehr man führen darf und führen muss –
um so mehr wächst die Gefahr, sich nur noch als Hirte, und eben nicht mehr sich als ein Schaf unter anderen Schafen zu sehen.

Allerdings, wenn wir uns in diesem Bild der Schafe wiedererkennen,
wenn wir uns – auch in der Kirche – als Herdentiere begreifen,
dann wird uns vom Evangelium dieses Sonntags noch ein weiterer,
ein dritter Blickwechsel zugemutet.
Denn da redet Jesus von „anderen Schafen,
die sind nicht aus meinem Stall, und auch sie muss ich herführen,
... und es wird eine Herde und ein Hirte werden.“

Von Anfang an hat die christliche Gemeinschaft es mit dieser Erfahrung zu tun: Zu den Gläubigen, zu den Schafen, die Jesus ihren Hirten nennen,
gehören nicht nur die, die sich immer schon kennen
und einander vertraut sind,

In der Gemeinde Jesu gibt es immer auch jene „Schafe aus einem anderen Stall“ – jüdische und heidnische Christen, östliche und westliche,
Altgläubige und Protestanten, Engagierte und Distanzierte.

Oft sind wir in der Kirche – und vielleicht auch in anderen Lebensgemeinschaften – vor allem mit dieser irritierenden Erfahrung beschäftigt:
Da sind welche, die kommen woanders her –
aus anderen Milieus, aus anderen Traditionen,
vertraut mit fremden Bildern, Liedern, Gewohnheiten.

Auch sie haben die Stimme Jesu gehört; auch sie zählen sich zu Jesu Herde – und sie leben doch so anders, und glauben auch ganz anders.
Auch darum geht es an diesem Hirtensonntag, an dem Sonntag der Schafe –  einander als Schafe zu erkennen,
einander als Schafe einer Herde anzuerkennen, unter einem Hirten.

Und nun hat die Weisheit der Kirche uns für diesen Sonntag
einen weiteren biblischen Text ans Herz gelegt:
Zwei Verse aus dem Schlusskapitel des Hebräerbriefs
sollen heute die Predigt grundieren. 
Diese Verse wollen die Botschaft des Hebräerbriefes zusammenfassen,
und sie summieren damit auch die Botschaft des ganzen Neuen Testaments. Es ist – so hat es ein Kommentator genannt –
eine ‚Kurzformel des Glaubens’, die uns hier zugerufen wird.

Wieder spielt das Bild von den Schafen eine Rolle – wenn auch in ein zunächst sehr fremden Sprache. Hören wir die beiden Verse aus Hebräer 13:

Der Gott des Friedens,
der den großen Hirten der Schafe, unseren Herrn Jesus Christus,
heraufgeführt hat von den Toten,
kraft des Blutes eines ewigen Gottesbundes –
der bereite euch zu allem Guten,
damit ihr seinen Willen tut,
indem er unter uns tue, was wohlgefällig ist vor ihm
durch Jesus Christus – dem sei Ehre in alle Ewigkeiten.

Eine solche ‚Kurzformel des Glaubens’ kann man nicht als Ganze predigen;
zu kondensiert ist diese Sprache, zu voraussetzungsvoll, auch zu fremd.
Die Vorstellung des Opferkultes, in dem Gott durch Blut versöhnt wird
und wo es wichtig ist, dass dieses Opfer „wohlgefällig“ ist –
das ist eine Bildwelt, zu der wir kaum noch Zugang haben.

Ich will von diesem kurzen, dichten Text daher nur drei Motive betrachten,
die das Bild vom Hirten und den Schafen noch etwas weiter entfalten.

Zunächst und vor allem wird hier klar,
was – oder besser: wer die Herde des „Großen Hirten“ zusammenhält:
der „Gott des Friedens“, des Shalom, wie es im Hebräischen heißt.
Shalom, Versöhnung, Friede
das ist die erste und wesentliche Gabe Gottes,
ja das ist in gewisser Weise sein Wesen: Frieden zu stiften, Frieden zu sein.

Wo in einer Familie, in Arbeits- und Lerngruppen,
auch in einer christlichen Gemeinde Menschen zusammenfinden,
obwohl sie einander fremd sind, obwohl sie sich immer wieder missverstehen, einander kränken und verletzen können –
wo diese Kräfte des Bösen die Menschen nicht auseinander bringen:
da wirkt der Gott des Friedens.

Wo eine Einzelne trotz aller Ängste, aller inneren Finsternis nicht verzweifelt, wo sie sich geborgen und behütet fühlt –
da wirkt der Gott des Friedens.

Und wo ein Bürgerkrieg nicht weiter eskaliert, wo die Gewalt durch Abkommen begrenzt wird,
wo Menschen – und sei es nur für einige Tage – einander zuhören,
wo sie ihre Gefangenen freilassen –
da wirkt, zerbrechlich und doch hoffnungsvoll, der Gott des Friedens.

Dieser Frieden ist zerbrechlich und gefährdet;
das erleben wir in diesen Wochen und Tagen sehr schmerzlich.

Um so wichtiger scheint mir ein zweites Motiv aus jener Kurzformel des Glaubens, die ich – etwas verkürzt – nochmals wiederhole:

Der Gott des Friedens,
der den großen Hirten der Schafe, unseren Herrn Jesus Christus,
heraufgeführt hat von den Toten ...
der bereite euch zu allem Guten,
damit ihr seinen Willen tut,
indem er unter uns tue, was ihm gefällt
durch Jesus Christus – dem sei Ehre in alle Ewigkeiten.

Gott, der Gott des Friedens ist der erste Akteur:
Er hat Jesus Christus von den Toten erweckt,
er wirkt hier und heute den Gottesfrieden „unter uns“,
unter seinen Schafen, unter allen Menschen.

Aber diese feierliche Zusage, dieser Friedensgruß zielt doch darauf,
dass wir etwas tun, dass die Christen handeln.  
Die Schafe sind hier nicht einfach passiv gedacht,
sondern sie sind fähig, das Gute zu tun – oder zu lassen;
sie müssen Entscheidungen fällen, große und kleine,
in denen der Friede Gottes Gestalt gewinnt.

Ob die Gemeinschaft am Lehrstuhl gelingt,
ob die Forschergruppe ihre Einsichten teilt,
ob eine Arbeitsgruppe die Schwächeren ermutigt,
ob man Freundschaften pflegt, auch wenn die Entfernung wächst –
das alles liegt auch in unserer Hand.

Gottes Friede geschieht ‚unter uns’, heißt es im Hebräerbrief.
Er geschieht nicht allein durch uns; aber er geschieht nie ohne uns:
nicht ohne unsere großen und kleinen Beiträge,
nicht ohne unsere Ideen, unsere Geduld,
unseren Willen, selbst das Gute zu tun.

Noch einmal anders gesagt:
Der große Hirte nimmt es uns nicht ab, unser eigenes Leben zu führen. 
Die Herde der Christen ist keine willenlose Masse,
sondern sie ist – als Ganze und in jeder Einzelnen – dafür verantwortlich,
dass Gottes Friede Gestalt gewinnt.

Noch eine dritte, eine letzte Einsicht entnehme ich
jener Kurzformel des Glaubens:
Die Herde des Großen Hirten befindet sich auf einem bestimmten Weg;
die Schafe, die die Stimme Jesu hören – sie sind unterwegs, sie sind
– um es mit dem Osterlied zu formulieren, das wir vorhin gesungen haben –
„mit Freuden zart“ auf einer „Fahrt“:
auf dem Weg in das neue, das ewige Leben.

Der Hirte der Schafe, Jesus Christus, ist von Gott aus dem Tod gerettet;
er ist von den Toten heraufgeführt worden in das Leben.
Das ist die Richtung, sozusagen die Laufrichtung, die nun, seit Ostern,
auch für die christliche Herde gilt:
Als Christen sind wir – seit unserer Taufe – auf dem Weg vom Tod zum Leben, aus der Gefangenschaft in die Freiheit der Kinder Gottes.

Auf diesem Weg gibt es Zwischenstationen:
Erfahrungen des Friedens, wechselseitige Ermutigung,
Momente gelingender Gemeinschaft auch und gerade unter Fremden.

Das sind Zwischenstationen, nicht mehr und nicht weniger.
Als Christen ist uns zugesagt:
In und unter diesen Erfahrungen des Friedens wirkt Gott,
der uns am Ende – wenn alles getan ist –
in seinen ewigen Frieden geleiten wird.

Amen.