Predigt zu Hebräer 9,26-28 von Dieter Koch
9,26

Predigt zu Hebräer 9,26-28 von Dieter Koch

Ein Tropfen Blut fiel auf die Erde. Das dürre Land erblühte zu neuem Leben. Ein Tropfen Blut fiel auf die Schädelstätte und Adam stand auf ins ewige Leben.
Liebe Gemeinde, dies ist eine uralte christliche Erzählweise, um das schreckliche Ereignis von Golgatha ins Heil umgewendet zu schauen, eine tief innige Form, die Qual des Gottessohnes als unsere Erlösung auszusagen. Der verfluchte Tod des ersten Menschen, der in uns allen wohnt, wird aufgehoben im Tod des zweiten, des gottgleichen, des gottergebenen Menschen. Lässt sich überhaupt annehmen, verstehen und dann wahrhaftig bekennen, dass hier Heil, Erlösung, Lossagung, Befreiung stattgefunden hat – für uns heute?
Es gibt im Kern zwei Weisen, sich das Kreuz Jesu anzueignen. Der eine Weg sieht hier die Schändung, die Schmach, die Summe menschlichen Leids. Ihr wird das Kreuz zum Fanal jener von Menschen über Menschen gebrachten Entwürdigung und sie zieht daraus den moralischen Appell: Nie wieder! Nie wieder Leid, nie wieder Entrechtung, nie wieder Qual! Hier wird der Blick in die Leidensgeschichte dieser Welt bewusst angenommen und ausgehalten. Das Leiden Jesu wird zum Spiegel der noch immer zunehmenden Zahl der Leiden, die die Menschheit sich zufügt, da Bruder an Bruder sich vergeht. Diese Sicht ist sicher wahr. Auszuhalten, wenn überhaupt, ist sie nur im Klageschrei und dann in der als Gewissenforderung erlebten, jedem aufgetragenen Solidarität,  konkret all denen beizustehen, die gequält werden.
Der Blick in den ewigen Karfreitag tut sich auf. Es ist diese Sicht des Karfreitags, aus der der Appell kommt, Schmerzen zu lindern, wo immer und wie auch immer, die Schmerzen der Todkranken, die Schmerzen der im Leid Gefangenen, die Schmerzen der psychisch Kranken. Leid zu lindern wird zum Appell auch angesichts des Leids der Entrechteten, der Ausgebeuteten, der um ihr Land und ihre Heimat Gebrachten, wo auch immer auf dieser Welt. Man wird vor dem Kreuz Christi nicht verweilen können, ohne diesen Ruf vernommen zu haben, die Klage derer, die um Gerechtigkeit flehen, ihr Schrei, der menschliche Erhörung erbittet. Und doch ist dieser Weg noch nicht wirklich ein Weg, auf dem Erlösung schon gegenwärtig ist, Heil sich zuspricht, sondern bestenfalls der Schritt einer inmitten der Verzweiflung aufbrechenden Hoffnung, möge es Kindern und Kindeskindern einmal besser gehen und möge man wenigstens sich dessen nicht schämen müssen, nichts getan zu haben.
Der Weg, der tiefer noch begangen werden kann, der Kreuzweg Jesu als Erlösungsweg, als Heilsweg, als Siegesweg, ist verbunden mit einer einzigen Kategorie, mit der Kategorie Opfer und beansprucht, sagen zu müssen: Das Kreuz Jesu ist das Opfer, das alle Opfer zu Ende bringt. Das Selbstopfer Jesu ist das Opfer, das alle Opfer auslöscht, der Tod, der allen Tod besiegt – und deshalb Adam erlöst. Es ist diese andere, entscheidende Weise, dem Golgathageschehen sich zu stellen. In der Sprache des Hebräerbriefes heißt es da: Am Ende der Welt ist Er, der Mittler des neuen Bundes, ein für alle Mal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben (9,26).
Das Neue Testament kennt viele Weisen, das Kreuz  Jesu zu verstehen.  Da ist von Tausch die Rede und von Täuschung der dunklen Mächte. Da hören wir vom Lösegeld und von der Erlösung in seinem Blut. Das Kreuz wird zum Wort der Vergebung, zum Geschenk der Versöhnung. Die ersten Zeugen reden von Stellvertretung und Sühne, vom wahren Passahlamm und vom neuen Bund in seinem Blut. Aber alle diese Worte, aus den Verstehensmöglichkeiten ihrer Zeit und Kultur genommen, münden in ein einziges Wort, in eine einzige Kategorie und die heißt: Opfer.
Die Frage ist, ob wir überhaupt noch fähig sind, uns darin zu verstehen, in dieser Reduktion des Lebens auf die Welt der Opfer und deren Ende. Man muss da ganz an der Oberfläche der Sprache ansetzen. Wir reden vom Opfer an Zeit. Wir reden vom Opfer an Geld. Wir reden vom Opfer an Gesundheit und meinen damit, dass wir in Zeit, mit Geld, um unserer Gesundheit gar, uns einsetzen für das, was uns wert genug dafür erscheint. Ohne Opfer, ohne Einsatz, ohne sich für etwas Gutes auch zu verausgaben, gibt es kein Glück, keine Zufriedenheit, keine Seligkeit. Aber in solcher Rede schwingt oft auch ein Moment der Unfreiwilligkeit und des Betruges mit. Da habe ich mich geopfert, meine Karriere um der Familie willen aufgegeben, und jetzt: Was habe ich davon? In unserer im Mitmenschlichen so zerrütteten Welt erscheint Engagement für Familie und gute Partnerschaft dann wie Selbstbetrug, leider. Man fühlt sich als Opfer, als verraten, verkauft, ausgeplündert. Und ist es nicht auch so für die Frau, die nach 25 Ehejahren sitzen gelassen wird? Nur weil der Ehegatte es nicht aushält, die Jugend schwinden und die Kraft verlieren zu sehen. Weil er es nicht aushält, aus Angst um sich selbst der Schwermut des Alters entgegen zu gehen.
 Vielleicht rückt die Kategorie Opfer, Selbstopfer uns doch stärker auf den Leib, als wir meinen. Opfer, da sind zunächst die zu Opfer gewordenen, die der Gewalt Ausgelieferten, und doch im Gedächtnis der Zeit als Helden Bekannten. Da sind, vielleicht erinnern sie sich noch, inzwischen auch schon wieder lange her, Leute wie der einstige regierende Bürgermeister von Berlin, Heinrich Albertz. In einer Tat beeindruckenden Mutes gab er sich freiwillig als Pfand. Er lieferte sich als potentielles Opfer aus, um Terroristen entgegen zu treten, Menschen auszulösen aus ihrer Gewalt um sein eigenes Leben willen. Der geglückte Einsatz der GSG 9 bewahrte sein Leben, ein Leben, das auf Messers Schneide stand. Da ist, da war Aldo Moro, der italienische Ministerpräsident, von revolutionären Banden gekidnappt, geopfert, preisgegeben  zum Wohl des italienischen Staates. Er hat sein Leben lassen müssen. Aber sein Tod wurde zum Fanal für die Demokratie genauso wie der Tod des Richters Falcone in Palermo zum Fanal im Kampf gegen das organisierte Verbrechen wurde. Da sind die mutigen Passagiere in jenem Flugzeug am 11.September 2001, das, von islamistischen Fanatikern in ihre Gewalt gebracht, in das Pentagon hätte stürzen sollen,  und die um den Preis ihres Lebens  es vorher zum Absturz brachten, zerschellt auf einer Wiese in Pennsylvania.  Da ist Alfred Delp, der freiwillig für einen polnischen Familienvater an dessen statt in den Tod im Vernichtungslager Auschwitz ging, ein Opfer, das Leben, Leben anderer ermöglichte, schenkte. Man kann all diesen Helden nicht nur Respekt zollen, man muss sie im Gedächtnis bewahren und für sie danken. Und dann auch all jenen danken, die durch beherztes Engagement das Leben anderer zu retten suchten , und bisweilen schreckliche Blessuren davon trugen. Weil sie Schlägern in der U-Bahn sich entgegen stellten, weil sie Vergewaltigern eins in die Weichteile gaben, weil sie als Feuerwehrleute in den Rauch gingen, um ein Kind zu retten.
Es gibt nur eine Kategorie, die des Selbstopfers. Christus opferte sich ein für allemal für viele, für uns, damit es eine Ende habe mit den Opfern, den Brandopfern, den Bauernopfern, dem Opfer ganzer Generationen für ideologische Wahnträume. Er deckte den schrecklichen Mechanismus auf, andere für sich bluten zu lassen. Sein Opfer wird zur Aufhebung der Opfersucht. Mir scheint, jetzt habe ich sie an den Punkt gebracht, der kaum zu ertragen ist, aber um den es beim Opfer Jesu Christi für uns tatsächlich geht und um dessentwillen die Kreuzesschmach Jesu zum Heilsereignis für den Glauben wird. Es ist dieser Vorgang, der aus dem Kreuzweg Jesu aufbricht, dieser Vorgang, der aus seiner Verborgenheit geholt und aus seiner Stummheit befreit wird, dieser Vorgang, der allen Opfern zugrunde liegt, der Mechanismus des Opfers selbst. Es ist die Blindheit, die Dummheit, die andere als Opfergabe darbringt. Es ist die Angst, die lieber den anderen ins Feuer gehen lässt als gemeinsam dem Feuer zu wehren. Es ist diese Sucht nach Halt jenes zutiefst haltlosen Wesens Mensch. Er meint Halt nur zu finden, indem er andere dem Ungeheuer Schicksal vor die Füße wirft.
Es ist und das ist der Kern der ganzen Geschichte der Taumel der Wut, der aus Angst und Minderwertigkeit entsteht, der Taumel  der Verzweiflung, der aus der Unsicherheit, der Zerbrechlichkeit, aufsteigt und sich dann, wie dies im Taumel geschieht, in blinden Ausbrüchen der Gewalt austobt, der allen Opfern zugrunde liegt. Ein Gang über das Schlachtfeld der Menschheitsgeschichte könnte uns dies an vielen, viel zu vielen Beispielen zeigen. Am Grund aller Opfer liegt die Epilepsie des Geistes. Am Grund aller Opfer erwacht ein Dämon, schlägt sein Auge auf, und macht Menschen zu Amokläufern. Am Grund aller Opfer tobt en Blutrausch und auch die so schrecklich beschämenden jüngsten Greueltaten in unserem Land, oft in rechtsradikalem Gewand, sind davon mitbestimmt. Es sind Gewaltausbrüche gegen Schwache, um der eigenen Lebensunsicherheit zu entgegen. Solche Opfer ziehen neue Opfer nach sich.
Doch Christus ist das Ende aller Opfer. Denn sein Opfertod hat diesen Mechanismus aufgedeckt und damit zu Ende gebracht, geistig offengelegt und damit entlarvt. Christus ist das Ende der Opfer – und darin liegt das Heil. Denn er hat die Welt der Opfer, durch sein Opfer hindurch in einen Raum des Betens verwandelt. Sein Lebensopfer vollzieht sich als ein einziges Gebet an den Vatergott. Sein Tod selbst ist ein Klageruf an den Vater, der erhört wurde. Sein Verscheiden ist die Wende, die endgültig hat werden lassen, was das erste Testament schon geahnt hat, dass Gott nicht Brandopfer will, sondern Gehorsam, dass Gott Lobopfer will  und nicht Stiere und Böcke. Dieses Lobopfer, Paulus redet vom vernünftigen Gottesdienst, ist unser ganzer Einsatz für die Wahrheit der Liebe, die sich in der Liebe Gottes geborgen weiß. Der Opferschrei Jesu ist schon das Seufzen des Heiligen Geistes in uns, der uns Gott als Vater , als uns bergenden Grund der Liebe anrufen lässt, als den guten Gott, der uns bejaht und uns damit der Ambivalenz der Gefühle, diesem Taumel aus Angst und Minderwertigkeit entnehmen will. Christus ist das Ende der Opfer, denn er schenkt uns das Gebet. Das Leiden Jesu, was hat es uns gebracht? Es hat uns den Vater gebracht, weil nun nichts, auch der Fluch nicht, der bis dahin auf dem Leiden lag, weil nun nichts mehr uns trennen kann von der Liebe Gottes , die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.
Ich ende mit Gedanken des indischen Weisen Rabindranath Tagore: „Die Jünger nannten Jesus den ‚Mann der Schmerzen‘, denn er hat großes Leid auf sich genommen…. Gibt es etwas Größeres im Leben Jesu als seine Erniedrigung? Er verkündete die Liebe Gottes durch seine Liebe zu den Menschen, indem er die Last des Schmerzes aller Menschen auf sich nahm. Die Religion der Liebe besteht gerade darin, dass man fähig ist, das Leid anderer freiwillig auf sich zu nehmen. Die Tränen einer selbstsüchtigen Liebe, die wir in einem Winkel unseres Hauses vergießen, benetzen nur uns selbst. Das wahre Leben, das in der Liebe ist, findet seine Schönheit durch das demütige Annehmen des Schmerzes. Die Liebe braucht keine stolze Selbstbeweihräucherung, denn aus der Liebe entspringt eine Quelle der Unsterblichkeit…. Die Starken lehnen sie ab als Feigheit. Die Grausamen sehen in ihre nur einen Ausdruck der Schwäche. Und doch: Diese demütige, schweigsame Lehre wohnt in der Tiefe des menschlichen Geistes. Sie hat als Stütze den Schmerz, als Begleiter den Dienst. Sie öffnet sich dem, der die Last des Nächsten auf sich nimmt, der dem aufhilft, der gefallen ist, der zu geben weiß, ohne etwas dafür zu erwarten“ (ders., Licht aus der Morgenröte, München 2003, S.27ff).