Predigt zu Jeremia 8, 4-7 von Christoph Hildebrandt-Ayasse
8,4-7

Predigt zu Jeremia 8, 4-7 von Christoph Hildebrandt-Ayasse

Schriftlesung: Lukas 15, 11-24 Das Gleichnis vom verlorenen Sohn

Lied: EG 655 – Freunde, dass der Mandelzweig

4 (Jeremia,) sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?

5 Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen.

6 Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.

7 Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.

 

Liebe Gemeinde,

ordnen wir die Worte der Bibel, die wir gehört haben, zunächst einmal in ihren geschichtlichen Zusammenhang ein.  Jeremia, der Prophet, tritt etwa um das Jahr 626 v. Chr. auf. Es ist eine schwierige und unsichere Zeit. Die politische Großwetterlage zwingt die Regierung zu diplomatischen Winkelzügen. Sie schwankt zwischen Anbiederung an und Krieg gegen mächtige Staaten in der Nachbarschaft; immer auf der Suche nach einem eigenen, selbstbewussten Stand in unsicherer Zeit.

In dieser schwierigen Zeit wird Jeremia zum Propheten Gottes berufen. Er soll Gottes Sprachrohr sein. Den Menschen seines Landes und seiner Zeit soll er Gottes Wort sagen. Nicht seine eigenen Einschätzungen und politischen Analysen soll er seinen Zeitgenossen mitteilen. Nein, Gottes Wort soll er seinen Zeitgenossen sagen. Gott sagt ihm, was er ihnen auf den Kopf zu sagen soll. „Jeremia! Sprich zu ihnen: So spricht der Heilige…“

Und die Worte Gottes, die Jeremia übermitteln muss, sind leider keine erbaulichen oder beruhigenden oder tröstenden. Sie sind hart und reden von Untergang und Vertreibung. Jeremia wird für diese Worte Gottes gehasst, verstoßen, ins Gefängnis geworfen. Er wird zum Ziel von Mordanschlägen. Aber er muss Gottes Wort weitergeben.

Und Jeremia zerbricht schier an seinem Auftrag. Er distanziert sich nicht von dem, was um ihn herum geschieht. Er fühlt sich nicht überlegen als Verkündiger der göttlichen Wahrheit. Er weiß, er erlebt, er spürt: die harten Worte Gottes treffen auch mich; mich, der ich in diesem Land und unter diesen meinen Landsleuten lebe und diese schwierigen Zeiten miterlebe. Am Ende wird man auch ihn, mit einer letzten fliehenden Gruppe seines untergehenden Landes, nach Ägypten verschleppen. Dort verlieren sich seine Spuren.

Schon einige Zeit vorher waren wohlhabende Bürger vom übermächtigen Babylonien nach Babylon verschleppt worden. Jeremia schreibt ihnen einen Brief. Darin finden sich die bekannten Gottesworte: „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohl geht, so geht's auch euch wohl.“

Gottes Wort soll, muss und kann an jedem Ort und zu jeder Zeit, in jeder Situation gehört und befolgt werden. Für andere Beten, das soll, muss und kann man an jedem Ort und zu jeder Zeit, in jeder Situation. Das dient zum Besten für das eigene Wohl; und auch zum Besten für das Gemeinwohl. Der Prophet wollte, ja er konnte sich an keinem Ort und zu keiner Zeit aus seiner Bürgerschaft und Zeitgenossenschaft heraushalten. Gottes strafendes Wort galt für seine Zeitgenossen; und auch ihm, dem Propheten des Wortes Gottes. Wie kein anderer Prophet litt Jeremia unter seinem Auftrag.

Aber warum muss es denn so kommen? Sehenden Auges rennen die Menschen immer wieder in ihr Verderben. Muss das so sein? Das fragt in unserem Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jeremia der Prophet; ja das fragt ein an seinen Menschen verzweifelter Gott selbst.

Von meinem Großvater wurde mir berichtet: Als ihm fanatisch erhitzte Nachbarn von dem Geschehen in der Reichsprogromnacht vor 75 Jahren berichteten, da soll er gesagt haben: „Die Juden sind Gottes Augapfel. Und wer ihn antastet, mit dem geht es nicht gut aus.“ Nein, er war kein aktiver Widerständler im 3. Reich. Zumindest hat er nie davon berichtet, was er getan hat und was nicht. Aber dass Gottes Wort gilt, zu jeder Zeit und an jedem Ort, davon war er als ostpreußischer Pietist überzeugt. Vielleicht fühlte er sich als ein Zeitgenosse, der würde mitleiden müssen, so wie Jeremia. Aufbegehren und protestieren, das kannte er als Kind des Kaiserreiches nicht.

Und meine Großmutter schlug, als der Russlandfeldzug begann, einfach ihren Atlas auf; blickte auf das riesige russische Reich und fragte sich ganz nüchtern: „Ja, wo wollen die denn hin? Was haben wir Deutschen denn da verloren?“ Einer ihrer Söhne kehrte von dort nicht mehr zurück.

Ganz einfacher Menschenverstand könnte schon vor der Katastrophe bewahren. Der Heilige - durch den Mund des Jeremia:  „Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.“ Selbst die Vögel wissen, was natürlich richtig ist. Sie wissen, wann es Zeit ist, umzukehren. In kalten Landstrichen zu bleiben, würde sie umbringen. Man muss es ihnen nicht sagen. Wenn die Zeiten kalt und ungemütlich und gefährlich werden, dann verändern sie sich.

Umso mehr müssten wir Menschen etwas ändern, wenn die Zeiten kalt und ungemütlich und gefährlich werden. Aber da reagieren wir eher wie das Schlachtross, wie der Hengst, den Jeremia als Beispiel anführt. Dem Hengst, wie jedes Pferd eigentlich ein Fluchttier, kann der Mensch das: „Augen zu und durch“ antrainieren. „Der Mensch ist ein Reittier“, sagt Martin Luther. „Entweder er wird von Gott oder dem Teufel geritten.“ Es ist unsere Wahl, sagt Jeremia; sagt durch ihn der Ewige.

Es muss aber nicht so sein. Man kann den Reiter wechseln. Je früher, desto besser. „Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?“ Aber dazu muss man erst einmal erkennen, was einen da geritten hat. Wir haben in der Schriftlesung das Gleichnis vom Verlorenen Sohn gehört. Es ist eine wunderbare, ganz jüdische Auslegung unseres Heilandes Jesus Christus; eine Auslegung, eine Veranschaulichung der Worte des Predigttextes aus dem Buch des Propheten Jeremia: „So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?“

Also, alles ganz einfach?

Aber warum dann so furchtbare Verbrechen am Volk Gottes wie in der Reichsprogomnacht? Warum die grässlichen Morde, warum die abscheulichen Taten, die sofort danach folgten? Warum der Hass, warum die Lügen, die zum Totschlag führen? „Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan!“

Warum? Weil wir nicht innehalten. Nicht nachdenken. Nicht Gottes Wort zu Hilfe nehmen. Um Abstand zu gewinnen. Um uns zu verändern. Um neu hin zu hören. Um neu auf Gott zu hören. Um unsere vorschnellen Antworten einmal beiseite zu legen; oder unsere Gleichgültigkeit; oder unsere Überforderung: was soll man da ändern? Am Leid unserer Schwestern und Brüder in Syrien, in Ägypten; ja am Leid der Verfolgten, aus welchen Gründen auch immer.

Die Worte des Propheten Jeremia für den heutigen Volkstrauertag setzen uns ein Stopp-Zeichen. Zwar sind wir Zeitgenossen von Geschehnissen, die Opfer und Leid und Elend hervorbringen. Zwar sind wir mit da hinein verstrickt; zum Beispiel und ganz wörtlich: durch Strickwaren aus den Elendsfabriken der Armutsländer. Und vielleicht erfahren wir das Elend der Welt sogar persönlich am eigenen Leib oder am Grab eines Gefallenen oder am Schicksal eines Bekannten, einer Freundin irgendwo in der uns so klein gewordenen Welt.

Aber wir haben, so wie Jeremia, als Glaubende das Privileg inne zu halten. Und auf Gottes Wort zu hören; und niemanden durch den Geist und die Kraft Jesu Christi verloren zu geben. Und so ganz anders - und den Horizont erweiternd Zeitgenossen zu sein: mitleidend und mitdenkend und mitgestaltend in der Nachfolge unseres Herrn Jesus Christus.

Ich will, zum Schluss, noch einmal einen Blick auf den mitleidenden Propheten Jeremia lenken: als Prophet des Gerichtes Gottes durfte er doch auch ein Zeichen des Lebens und der Hoffnung schauen: einen blühenden Mandelzweig, ein Zeichen der Hoffnung.

„Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht in Fingerzeig, dass die Liebe bleibt.“

1942 schreibt der jüdische Theologe Schalom Ben-Chorin diese Zeilen. Und wir wollen dieses Lied nachher miteinander singen. „Das Zeichen“ nennt er sein Gedicht. Er schreibt es, als sich die Schreckensmeldungen über den Krieg und die Vernichtung seines Volkes häufen. Wenn Schalom Ben-Chorin, der 1935 aus Nazi-Deutschland floh, verzagt und hoffnungslos ist, tröstet ihn die leise Botschaft des Mandelbaums, das Zeichen, das Jeremia schauen durfte. Denn der Mandelbaum blüht, wenn ringsum noch alles kahl und ungemütlich und lebensfeindlich ist.

Amen