Predigt zu Jeremia 8, 5-7 von Christiane Borchers
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Predigt zu Jeremia 8, 5-7 von Christiane Borchers

Liebe Gemeinde!
In meiner Kindheit gab es wohl kein Wohnzimmer, in dem nicht die Fotografien der gestorbenen oder vermissten Ehemänner und Söhne aus den vergangenen beiden Kriegen in Deutschland an den Wänden hingen. Alte Schwarzweißaufnahmen, fast wie aus einer anderen Welt, erinnern an glückliche Zeiten, die unwiederbringlich verloren sind. Diese Fotos sind heutzutage fast überall verschwunden. Aber ich habe sie noch gut in Erinnerung; sie hingen bei uns zu Hause, bei Verwandten und Nachbarn.
 
Volkstrauertag, inzwischen an manchen Orten lieber Friedenssonntag genannt, ist ein Gedenktag in Deutschland, der widersprüchliche Gefühle auslöst. Es werden Gedenkfeiern an Denkmälern gehalten, die an die Opfer der beiden Kriege erinnern, verbunden mit der Mahnung: Nie wieder Krieg! Junge Leute haben kaum einen Bezug zu diesem Gedenktag. Sie kennen die dunkle Geschichte unseres Volkes nur aus Erzählungen. Die Generation, die den letzten Krieg miterlebt hat, stirbt bald aus. Der Schatten, der seitdem über Deutschland liegt, ist aber damit noch nicht verschwunden. Die Verbrechen des Krieges und der damit verbundene Holocaust darf nicht dem Vergessen preisgegeben werden. Wer sich nicht erinnert, begeht dieselben Fehler. Es ist wichtig, die Erinnerung an Leid und Unrecht im Gedächtnis wachzuhalten, um der Opfer und um unserer selbst willen, damit wir menschlich werden und bleiben. Es geht nicht darum, die ältere Generation für schuldig zu erklären; es geht darum, aus der Geschichte zu lernen und den Frieden zu wahren. Trauer und Schuld zuzulassen, ist schwer. Aber ohne Aufarbeitung und Hinsehen, sich dessen bewusst zu werden, was geschehen ist und wie es zu solch schwerem Versagen und Verbrechen kam, geht es nicht. Wer sich nicht darüber im Klaren ist, was Unrecht ist, steht in Gefahr, in die Irre zu gehen und neues Unrecht zuzulassen. 

Umkehr ist das zentrale Thema des Propheten Jeremia, der das Volk Irsael ermahnt auf einem gottwohlgefälligen Weg zu bleiben. Juda und Jerusalem drohen der politische Untergang. Das mächtige Babylon mit seinen fremden Göttern und Machthabern erstarkt, Nordisrael ist bereits in die Hände der Feinde gefallen. In Juda und Jersusalem lebt nur noch ein Rest in Freiheit. Aber auch das Schicksal dieses Restes ist besiegelt, prophezeit Jeremia, wenn die Menschen nicht umkehren und ablassen von ihrem falschen Weg. Jeremia warnt vor der falschen Politik der Oberen; ihre Bündnispolitik ist verkehrt, sie wird sie in den Untergang führen. Jeremia klagt ebenfalls den falschen Gottesdienst an; sie dienen fremden Göttern und nicht dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, dem Gott, der sie aus der Sklaverei befreit hat. "Siehst du nicht, was sie tun?" zürnt Gott Jeremia in der sogenannten Tempelrede (Kap 7). "Die Kinder lesen Holz, die Väter zünden das Feuer an und die Frauen kneten den Teig, dass sie der Himmelskönigin Kuchen backen und fremden Göttern spenden sie Trankopfer mir zum Verdruss (Jer 7,18).

Gott hat Jeremia gesandt, um das Volk zu warnen. Er wirbt um seine geliebten Menschenkinder, sie sollen ablassen von ihrem Irrweg. Sie laufen falschen Göttern nach, verbreiten Lügen, tun Böses und Unrecht. Das Schlimmste ist, dass ihnen ihre Bosheit noch nicht einmal Leid tut. Sie haben keine Einsicht und kein  Unrechtsbewusstsein. Was soll Gott mit diesem halsstarrigen Volk anfangen? Wie es zur Einsicht bringen und zur Umkehr  bewegen? In Bildern verdeutlich Jeremia ihnen ihre Situation.

Seine Worte haben höchste Autorität. "Sprich zu ihnen", redet Gott zu Jeremia "So spricht Gott: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gerne wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?" Die Bilder sind einfach und bestechend. Natürlich steht ein Mensch, der hingefallen ist, sofort wieder auf; es sei denn, er hat sich schwer verletzt, dass er sich nicht ohne fremde Hilfe wieder aufrichten kann. Der gesunde Menschenverstand und die Erfahrung lehren: Wenn jemand hinfällt, wird er automatisch versuchen, wiederaufzustehen. Das ist ganz natürlich. Ebenso natürlich ist es auch, dass ein Mensch, der die Orientierung verloren hat, sie wieder sucht. Das ist verständlich. Jeder Mensch hat den Wunsch, zurechtzukommen.  "Warum will denn mein Volk zu Jerusalem das nicht?", fragt Gott durch den Mund des Propheten, "Warum will es in die Irre gehen?" Das Volk zu Jerusalem, damit sind neben dem Volk in erster Linie die Oberen gemeint, die den Kurs der Stadt bestimmen. "Sie halten fest an Unwahrheiten", heißt es im hebräischen Text. Luther übersetzt: "Sie halten fest an falschem Gottesdienst." So verkehrt ist die Übersetzung Luthers nicht. Falscher Gottdienst und Unwahrheit bedingen sich hier an dieser Stelle. Lüge, Bosheit und falscher Gottesdienst gehen einher.

"Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemanden, dem seine Bosheit Leid täte und spräche: Was habe ich getan!", resümiert Jeremia. Vom falschen Gottesdienst würden wir heutzutage nicht reden, im Rahmen von Ökumene und großen Weltreligionen ist Deutschland von Toleranz geprägt. Aber wenn Jeremia Lügen und Uneinsichtigkeit und umrechtes Tun kritisiert, so ist das brandaktuell. Fassungslos wie Jeremia vor den Handlungsweisen seines Volkes, stehen wir vor dem Desaster, was uns geldgierige und rücksichtlose Bankmanager eingebrockt haben. Fassungslos und ohnmächtig blicken wir auf Entscheidungsträger, wie Geld für Panzer und Rüstungsindustrie ausgegeben wird, anstatt für den Aufbau von lebensfördernden Maßnahmen. Fassungslos sehen wir zu, wie Tonnen über Tonnen von guten Lebensmitteln vernichtet werden, damit der Preis gehalten wird, während ein großer Teil der Weltbevölkerung hungert. Fassungslos stehen wir vor Umweltzerstörung, vor  Ausbeutung der Tiere und der Natur. Umkehr von diesem falschen unrechten Weg ist die einzige Möglichkeit, wenn die Welt in Frieden leben will. Gerechtigkeit für die gesamte Schöpfung, zu der der Mensch, die Tiere und die Natur gehören, ist unabdingbar. Umkehr und Ablassen von bösen Taten führt ins Leben.

Angesichts des Volkstrauertages müssen wir uns heute selbstkritisch fragen, warum sich wieder rechtsradikale Gruppen bilden, kaum dass nur wenig mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem zweiten Weltkrieg vergangen ist. Schon länger machen rechtsradikale Parolen die Runde, Hass und Terror gegen Ausländer werden geschürt. Haben wir nichts aus der Vergangenheit gelernt? Schon lange können wir rechtsradikale Aktivitäten nicht mehr leichtfertig mit dem Argument abtun, es gäbe sie nur vereinzelt. Mit wenigen fing es auch im sogeannten Dritten Reich an. Wir müssen die rechtsradikale Szene ernstnehmen, begreifen, welche Bedrohung von ihr ausgeht und  Gegenmaßnahmen einleiten.

Es geschieht viel Unrecht, bei uns und weltweit gegenüber Menschen, Tieren und der Natur. Eins ist nicht schlimmer als das andere. Ein Unrecht kann nicht mit einem noch schlimmeren  Unrecht bagatellisiert werden. Unrecht bleibt Unrecht, Böses muss Böses genannt werden. Wo stehen wir heute zum gegenwärtigen Standpunkt? Was ist mit Menschlichkeit und Barmherzigkeit? Sind wir auf einem guten Weg oder gehen wir in die Irre? Nun ist es ja nicht so, dass es nur Böses gibt. Es gibt viele, die bemühen sich um ein gottwohlgefälliges Leben. Sie treten für Gerechtikgeit und Frieden ein, üben Nächstenliebe, stehen mit ihrer ganzen Lebensführung für ein respektvolles Miteinander ein.
Umkehr ist vonnöten, wo wir auf einem falschen Weg sind, der in die Finsternis, ins Verderben führt: persönlich, politisch und gesellschaftlich. Der erste Schritt ist die Einsicht: "Was habe ich  getan?" bzw.: "Was haben wir getan?" Umkehr fängt bei mir selber an. Umkehr hat mit Reue zu tun. Wer seine bösen Taten bereut, kann umkehren und einen neuen Anfang machen.

Der Gott Israels, der auch unser Gott ist, ist ein Gott des Lebens . Er hat keinen Gefallen an unserem  Untergang. Er wirbt um die Kinder Israels und um uns. Wir sollen uns nicht selbst von der Lebensquelle abschneiden und ins eigene Verderben rennen wie Schlachtrösser, die gegen ihre Natur, wild ins Gemetzel laufen. "Warum will denn dieses Volk in die Irre gehen?", klagt Jeremia. "Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt." Mit Pferden hat Israel schlechte Erfahrungen gemacht. Pferde spielen im alten Orient nur als Kriegspferde eine Rolle. Die Feinde, die Ägypter und die Assyrer, sind mit Pferden ausgestattet, während David noch auf Esel und Maultier ritt.

Der Prophet Jeremia verwendet das Bild von den durchgegangenen Hengsten, die ungestüm im wilden Lauf ins Kreigsgetümmel laufen. Von Natur aus flieht ein Pferd bei Gefahr, es ist ein Fluchttier. Schlachtrössern wurde der Instinkt abtrainiert, sie sollen der Gefahr entgegenlaufen. So wie diese aufgescheuchten und in Panik geratenen Pferde rennen die Menschen, die sich von Gott und seinen lebensspendenden Geboten abgewandt haben, in ihr Unglück. "Bleibt stehen", fordert Jeremia den wildgewordenen Haufen sinngemäß auf. "Kommt zur Besinnung und seht, wohin euer Lauf euch führt!"

Gibt es Rettung für diese wildgewordenen aufgescheuchten Rossnaturen? Wer oder was reitet dich? Diese Frage hat Martin Luther sein Leben lang umgetrieben. Ist es der lebendige Gott, der Leben stiftet, von dem du dich bestimmen lässt? Wenn nicht, wer oder was reitet dich dann? Im Bild gesprochen: der Teufel; oder bist du es selbst, der dich zu Tode reitet?  Dieser Höllenritt, dieser notorische Irrweg ist es, an dem Jeremia so furchtbar leidet. Es ist für ihn eine Qual, wenn Menschen sich von Gott abwenden und in die Irre laufen. Kehrt um! Kommt zur Einsicht und missachtet nicht so schändlich das Leben. Das ist  die Botschaft Gottes an uns, übermittelt durch den Mund des Propheten. Sogar Storch und Turteltaube, Kranich und Schwalbe wissen es besser. Sie kennen ihren naturgegebenen Rhythmus und halten ihn ein. Die Zugvögel kennen ihre Zeiten. Sie wissen, wann sie aufbrechen und wann sie wiederkehren müssen. Jeremia verwendet weisheitliche Erkenntnis und bezieht sich auf ein Naturgesetz. Storch, Turteltaube, Kranich und Schwalbe wissen ihre Zeiten, halten sie ein, aber Gottes Volk will Gottes Recht nicht wissen. Die Zugvögel werden uns als Vorbilder hingestellt.

Was die Tiere selbstverständlich tun, warum ist das für den Menschen so schwer? Warum richten sie sich nicht nach lebensspendenden Gesetzen! Wie ist das nur möglich, dass Menschen - ausgestattet mit Vernunft und Verstand - sich weigern, für das Leben zu kämpfen?! Auch hier   Fassungslosigkeit und Unverständnis des Propheten. Die Zugvögel jedenfalls am Himmel kennen ihre Gezeiten. Das Geheimnis der Zugvögel, umzukehren, liegt sowohl in ihrer Natur. Storch hat im Hebräischen die Bedeutung von treu, gütig, gnädig. Der Storch verweist durch seinen Namen auf  den treuen, gnädigen Gott, der zur Umkehr ruft und Güte walten lässt.

Der enttäuschte Jeremia redet nicht nur von durchgegangenen Schlachtrössern, sondern auch vom Storch, dem Tier, das die prophetische Hoffnung auf Heil und Heilung für die gesamte Schöpfung versinnbildlicht. Am Ende aller Zeiten werden sich  Menschen, die sich wie wild gewordene Hengste in der Schlacht gebärden und sich von Gott abgewandt haben, verwandelt und neu geschaffen. Wie Störche werden sie sein, die ihre Gezeiten kennen und zu ihrem Schöpfer umkehren und heimkehren. An diesem Tag öffnet sich der Himmel und es wird Gericht gehalten. Der Retter wird kommen. Auf einem weißen Pferd wird er reiten und die große Umkehr einleiten. Das weiße Pferd ist eine Vision aus der Offenbarung über die Endzeit. Jeremia steht mit seinem Bild von den wilden Pferden neben der Kriegstradition in der apokalyptischen Offenbarung  der Endzeit. Der heutige Sonntag ist der Beginn der Buß- und Bettagswoche. Die Fragen im Kirchenjahr richten sich auf  Vergänglichkeit, Umkehr und Gericht. Der Volkstrauertag als Gedenktag der Einsicht und der Umkehr passt in diese Zeit. Einst müssen wir alle offenbar werden. Wir werden gefragt: Was hast du getan? Wir werden zur Rechenschaft gezogen. Gott hat uns das Leben zugedacht, Jesus Christus hat uns Weisung und Orientierung gegeben. Wir werden gemessen an dem, wie wir unseren Schwestern und Brüdern begegnet sind. Es hat immer wieder Menschen gegeben, die mahnen und warnen, jeglicher Zerstörung Einhalt zu gebieten und sich dem Leben zuwenden. Gottes gutes Gesetz ist uns ins Herz geschrieben. Jesus Christus hat uns gezeigt, was es heißt, menschlich zu leben. Lasst uns umkehren zum Leben. Amen.