Predigt zu Jesaja 29, 17-24 von Tobias Geiger
29,17

Predigt zu Jesaja 29, 17-24 von Tobias Geiger

Stellen Sie sich vor, Sie stehen nachher draußen vor der Kirche. Die Gottesdienstbesucher gehen an Ihnen vorbei, nicken freundlich und sagen »Auf Wiedersehen«. Und dann fragen Sie jeden einzelnen: »Wie geht es Ihnen?« Einfach nur: »Wie geht es Ihnen?« Was würden wir da wohl für Antworten bekommen?
Ein Schüler sagt: »Mir geht es prima! Sechs Wochen keine Schule – ich habe jeden Tag ausgeschlafen!«
Eine Mutter lächelt: »Wir kommen frisch aus dem Urlaub.Das Wetter war herrlich, ich bin richtig gut erholt!«
Aber wir würden auch andere Antworten hören. Zum Beispiel diese: »Wie soll es einer alten Frau schon gehen? Die Augen sind schlecht, ich brauche ein neues Hörgerät und das Herz will auch nicht mehr richtig. Man muss es halt nehmen wie es kommt – bis es irgendwann aufhört.«
Oder ein Mann klagt: »Lesen Sie keine Zeitung? Milliardenschulden für die Eurokrise und wir Deutschen sollen dafür bezahlen! Meine Aktien sind im Keller – für die Zukunft sehe ich schwarz!«
Eine weitere Frau ist ebenfalls niedergeschlagen: »Bei uns zu Hause gibt es nur noch Streit. Unser Sohn ist 17 Jahre alt  und lässt sich nichts mehr sagen. Die Schule ist ihm egal, er will nur seinen Spaß haben. Wenn ich ihm etwas über meinen Glauben sage, dann lacht er nur. Langsam komme ich selbst ins Zweifeln …«
»Wie geht es Ihnen?« Dass Menschen Anlass zum Klagen haben, ist leider nichts Neues. Das gab es schon vor 2.500 Jahren. Auch damals schüttelten viele auf diese Frage hin nur den Kopf. Doch in Not und Elend hinein ließ Gott den Propheten Jesaja eine besondere Botschaft ausrichten. Ich lese den Predigttext aus Jesaja Kapitel 29:
Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröh­lich sein in dem Heiligen Israels. Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein; und es werden vertilgt alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.
Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – seine Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.
»Wohlan!« Auf geht’s! Mit dieser Aufmunterung beginnt Jesaja seine Predigt. Gott gibt ihm den Auftrag, den niedergeschlagenen Menschen neuen Mut zuzuspre­chen. »Ihr dürft den Kopf nicht hängen lassen. Es ist wahr, ihr habt viel Grund zum Klagen. Aber bald wird es anders!« Und dann beschreibt Jesaja drei Bilder von Gottes Zukunft. Eine Zukunft, die nicht weit weg und fern ist, sondern bald Wirklichkeit wird.
Das erste Bild zeigt die Natur. Wo bisher Wüste war, sind blühende Landschaften zu sehen. Die Ernte fällt reichlich aus, niemand muss hungern. Es gibt keine Naturkatastrophen mehr, die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Die Schöpfung ist wieder gut und schön.
Das zweite Bild zeigt Menschen, glückliche Menschen. Alle sind gesund an Leib und Seele. Alle Behinderungen und Krankheiten sind verschwunden. Jeder hört den anderen und sieht ihn, keiner wird vergessen und an den Rand gedrängt. In Staat und Gesellschaft herrscht Gerechtigkeit, die Politiker und Manager wirtschaften nicht in die eigene Tasche; niemand versucht, sich zu bereichern oder andere zu betrügen
Auf dem dritten Bild sehen wir einen Gottesdienst. Menschen loben Gott, weil sie erkannt haben, wie gut er zu ihnen ist. Sie hören auf sein Wort, sie machen Gottes Gebote zur Leitlinie für ihr Leben. Nicht nur alte Menschen sind dabei, sondern alle Generationen feiern miteinander Gottesdienst.
Wunderschöne Bilder sind es, die uns der Prophet Jesaja vor Augen malt. Aber haben Sie nicht auch gedacht: Zu schön, um wahr zu sein? Wie ist das in der Natur mit der Atomkatastrophe in Japan und der Dürre in Afrika? Wie ist das mit der Gesundheit, wenn Menschen viel zu früh an Krebs sterben? Wie ist das mit der Gerechtigkeit, wenn die Banken Milliarden bekommen und den kleinen Leuten die Rente gekürzt wird? Wie ist das mit dem Frieden in der Welt am zehnten Jahrestag des 11. September? Sind wir nicht immer noch mittendrin im Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt? Haben Angst und Hass das letzte Wort und vergiften die Herzen von Millionen Menschen? Und auch das Bild vom Gottesdienst stimmt nicht. Meistens sind wir am Sonntagmorgen keine fröhliche Gemeinschaft, sondern eine ziemlich ernste Gesellschaft. Sind also die Worte des Jesaja nur Durchhalteparolen? »Kopf hoch, wenn der Hals auch dreckig ist«? Will uns der Prophet im Leiden der Gegenwart auf eine bessere Zukunft vertrösten? Sollen wir ruhig gestellt werden wie ein Patient, dem der Arzt ein Schlafmittel gibt?
»Auf keinen Fall«, sagt Jesaja. »Meine Hoffnung hat einen guten Grund. Und auch wenn meine Worte noch nicht verwirklicht sind, so ändern sie doch viel.« Der Grund für die Hoffnung auf Veränderung ist Gott. Oder genauer gesagt: Der Gott Israels.
Dieser Zusatz ist wichtig. Denn Jesaja glaubt nicht an irgendein höheres Wesen. Er vertraut nicht auf die Idee des Guten oder einer ausgleichenden Gerechtigkeit. Ideen werden nur Wirklichkeit, wenn sich Menschen finden, die sie in die Tat umsetzen. Aber welcher Mensch kann die Menschheit verändern und die Welt erneuern? Viele haben es schon versucht: Schöngeister wie Goethe, Machtmenschen wie Napoleon, Weltverbesserer wie Karl Marx. Aber keiner hat es bisher geschafft. Mit dieser Aufgabe sind wir alle hilflos überfordert. Doch Israel sagt: Unser Gott schafft das. Denn Israel weiß. Unser Gott ist nicht nur eine schöne Idee. Unser Gott ist der Schöpfer, der aus dem Tohuwabohu, aus dem Chaos heraus die Welt geschaffen hat. »Schaut an das Werk seiner Hände, wie weise er es geordnet hat« so lobt Israel Gott in den Psalmen. Der Schöpfer hat die Macht, seine Schöpfung zu erneuern. Und das Volk Israel hat Gott auch als den Herrn der Geschichte kennen gelernt.  »Erinnert euch zurück«, sagt Jesaja, »was Gott in früheren Zeiten getan hat. Ihr seid doch die Nachkommen von Abraham und Jakob. Wisst ihr noch, wie Gott sie in dieses Land geführt hat? Wie er unser Volk aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat?« Immer wieder hat Israel erlebt, dass Gott mit ihnen geht – in alle Not hinein und aus ihr heraus. Und sie haben erkannt: Das ist Gottes Wesen, dass er immer wieder rettet und neu macht. Er bleibt seinem Volk treu und lässt sein Heil Wirklichkeit werden. Mit diesem Gottvertrauen hat Israel überlebt – von der Zeit des Jesaja bis in unsere Gegenwart. Und hier liegt der Grund für die Hoffnung, dass die Verheißungen wahr und die Worte des Propheten Wirklichkeit werden.
Und wir als Christen können das alles nur unterstreichen und verstärken. Denn wir haben noch einen zweiten Hoffnungsgrund. Es ist Jesus Christus, dessen Namen wir tragen. In ihm ist wahr geworden, was der Prophet angekündigt hat. Er schenkte Blinden das Augenlicht und Tauben das Gehör. Er half den Armen und holte die Selbstsicheren von ihrem Sockel herunter. Aus einem wie Zachäus, der als Zöllner andere betrog, machte er einen Wohltäter. Menschen, die die Freude an Gott verloren hatten, brachte er in die Gemeinschaft zurück. Mit Jesus haben die Worte des Jesaja angefangen, Wirklichkeit zu werden. Und dieser Anfang geht weiter. Was damals verkündigt wurde, entfaltet seine Wirkung. Die Verheißung der neuen Welt ist zwar noch nicht erfüllt. Noch quälen uns die alten Sorgen, noch leiden wir an Krankheit und Ungerechtigkeit. Aber viele, die an Jesus glauben, haben erlebt, wie einiges anders geworden ist. Und das Erstaunliche ist: Ich selbst bin es, bei dem sich etwas verändert. Plötzlich verstehe ich, was Gott mir sagen will. Plötzlich sehe ich meine Mitmenschen in einem neuen Licht. Trotz mancher Probleme und Schwierigkeiten spüre ich, wie reich mich Gottes Güte macht. Und ich möchte seine Liebe weitergeben und möglichst viele in die Gemeinschaft einladen. Ja, Jesus Worte und sein Wirken gehen weiter, manchmal auf überraschende und unerklärliche Weise. Da berichten Menschen, wie sich durch das Gebet gesund geworden sind. Andere erzählen, wie sie in Krankheit und Leid Trost und Hilfe erfahren haben. Oder jemand lässt sich anregen von den blühenden Landschaften bei Jesaja und sagt: Ich will mithelfen, dass unsere Welt die gute Schöpfung Gottes bleibt. So werden die Worte und Bilder des Predigttextes Wirklichkeit. Manchmal nur im Kleinen, aber nie ohne Wirkung. Und immer mehr wächst die Vertrauen: So gewiss Gott es angefangen hat, so gewiss wird er es auch vollenden. Und er ruft auch uns heute Morgen zu: »Wohlan!« Auf geht’s! Ihr sollt entdecken, dass ich am Werk bin. Ihr dürft Euch verändern und verwandeln lassen. Auch für Euch gibt es einen Weg in das Land der Verheißung.