Predigt zu Jesaja 5, 1-7 von Christiane Borchers
5,1
Liebe Gemeinde !
Wohlan, ich will ein Lied singen, stimmt Jesaja an. Ein Freudenlied wird er singen, vermuten wir, ein Lied, das bei einem festlichen Anlass gesungen wird, wie einer Hochzeit. Aber die Überschrift in der Lutherübersetzung deutet an, dass dieses Lied kein Freudenlied wird, sondern ein Trauerlied. Das Lied vom unfruchtbaren Weinberg, so überschreibt Luther diesen Abschnitt. Dennoch: Das Weinberglied, wie dieser Predigtabschnitt genannt wird, weist auf alttestamentliche Liebeslyrik hin. Das Lied ist ein kultisches Hochzeitslied und wurde bei der Ernte gesungen. Das Laubhüttenfest sollst du halten sieben Tage, wenn du eingesammelt hast von deiner Tenne und von deiner Kelter, du sollst fröhlich sein an diesem Fest, du und dein Sohn und deine Tochter, die Knecht, deine Magd und alle, die in deiner Stadt leben. (Dtn 16,13-16). Das Laubhüttenfest ist ein Erntefest. Der Bräutigam geleitet seine Braut zum Weinhaus und erquickt sie mit Trauben und Äpfeln. Er führt mich in den Weinkeller und die Liebe ist sein Zeichen über mir. Er erquickt mich mit Traubenkuchen und labt mich mit Äpfeln (Hoheslied 2,4+5). Der Weinberg, der Frucht trägt, ist ein Bild für die Hochzeit. Im Herbst, wenn die Früchte gereift und geerntet sind, wird das Erntefest gefeiert und Hochzeit gehalten. Die Braut selber kann als Weinberg bezeichnet werden. Im Hohenlied spricht der Bräutigam: „Mein Weinberg gehört mir.“ Er redet von seiner Braut. (HL 8,12). Ein direkter Hinweis auf alttestamentliche Liebeslyrik ist die Stelle, an der der Prophet Jesaja von Gottes Pflanzung als der Pflanzung seiner Lust spricht (Jes 5,7). Luther übersetzt: Gottes Pflanzung, an der sein Herz hing. Das Weinberglied des Jesaja hat deutliche Anklänge an das kultische Hochzeitslied, das das Hohelied überliefert. Die Braut besingt ihren Geliebten, sie spricht von ihm als ihren Freund: Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge (HL 2,8). Wohlan, ich will meinem Freund singen, sagt Jesaja, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg.
Jesaja weckt Aufmerksamkeit mit diesem Anfang. Die Leute aus Jerusalem und Juda wollen das Hochzeitslied hören. Sie feiern das Erntefest und sind gut gelaunt. Sie lauschen seiner Stimme, freuen sich auf seinen Gesang. Jesaja tritt in die Rolle eines Sängers auf, der seine Botschaft auf diese Weise dem Volk vermitteln will. Er verwendet dabei die den Menschen damals bekannte und vertraute Form des kultischen Hochzeitsliedes. Im Laufe des Liedes wird sich der Inhalt verändern. Das Hochzeitslied wandelt sich in ein Klagelied, das mit einem Gerichtswort endet.
Das Weinberglied ist ein Gleichnis. Es beginnt damit, dass Jesaja von einem Winzer redet, der alles tut, damit sein Weinberg gute Frucht trägt. Der Weinbergbesitzer hat einen fruchtbaren Grund für seinen Weinberg ausgewählt, er liegt auf einer fetten Höhe. Die Voraussetzungen sind also schon einmal gut. Der Winzer wendet große Mühen auf und arbeitet fleißig. Er gräbt die Erde um, entsteint den Boden, pflanzt Reben einer edlen Sorte. Er baut einen Turm und gräbt eine Kelter. Jetzt können die Reben reifen und saftige Trauben bringen. Seinen Anteil, den er verrichten konnte, hat er geleistet. Aber der Weinberg bringt keine guten Früchte, er bringt schlechte. Kann man noch mehr tun, als was der Weinbergbesitzer getan hat? Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort. Nein, mehr kann man nicht tun. Der Winzer hat alles getan, was man machen kann. Er hat guten Boden ausgewählt, er hat die Erde sorgfältig vorbereitet, die Steine entfernt, die Erde umgegraben, einen Turm und eine Kelter gebaut. Er hat keine Investition, keine Mühe und Arbeit gescheut, damit der Weinberg gute Frucht bringt. Zu Recht kann also unser Freund eine gute Weinernte erwarten. Aber es kommt anders. Der Weinberg bringt schlechte Frucht. Die Zühörerinnen und Zuhörer werden aufgefordert, ihr eigenes Urteil zu sprechen: Richtet selbe, fordert Jesaja sie auf. Was sollte man noch mehr tun, als was ich getan habe? Warum hat er schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächet ?. Der Redende hat unmerklich gewechselt. Der Weinbergbesitzer spricht jetzt selbst, nicht mehr der Prophet. Die Zuhörenden sind nicht mehr die Unbeteiligten, denen ein Lied vorgesungen wird, sie sind selbst in dem Lied angesprochen, sie werden direkt zu Betroffenen. Durch das Bild vom Weinberg und seinem Winzer wird ihnen vor Augen geführt, dass sie sich nicht adäquat auf Gottes Bemühen verhalten. Der Weinberg, das sind sie selbst, der Winzer ist Gott. Gott hat ihnen alles Gute getan. Er hat sie gehegt und gepflegt, er hat sich um sie gekümmert, für sie gesorgt. Sie aber kümmern sich nicht um ihn, nehmen ihr Wohlergehen und ihren Wohlstand als selbstverständlich hin. An Witwen und Weisen denken sie nicht, Fremdlinge nehmen sie nicht auf, jeder ist sich selbst der Nächste. Das Weinberglied macht den Israeliten aus der Distanz klar, was für Leute sie sind. Aus der Distanz heraus müssen sie selbst ihr Unrecht erkennen und sich selbst das Urteil sprechen.
Ein ähnliches Stilmittel wie Jesaja in seinem Weinberglied verwendet der Prophet Nathan, als der König David auf dessen Unrecht hinweisen will. Er erzählt dem König ein Gleichnis. Da ist ein reicher Mann, der viele Schafe hat. Als er ein Festmahl geben will, geht er zu einem armen Mann und fordert von ihm sein einziges Schaf. David ist entrüstet, als er das hört und spricht: „Wer ist dieser Mann, er soll des Todes sein.“ Daraufhin sagt Nathan: „Du bist der Mann.“ Mit diesem Gleichnis hat Nathan David den Spiegel hingehalten und ihn darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht Recht ist, seinen Feldherrn in den Tod zu schicken und ihm seine Frau Bathseba wegzunehmen. Mit Hilfe eines Gleichnisses führt Nathan David sein Unrecht vor Augen. Mit Hilfe des Weinbergliedes führt Jesaja den Bürgern von Jerusalem und Judas vor Augen, dass sie Unrecht tun, wenn sie sich nicht um Gott kümmern, wenn sie ihn und sein Bemühen verschmähen. Im Bild von Winzer und Weinberg wird hier von Gott und seinem Volk gesprochen. Gott ist der Winzer und Israel der Weinberg. Gott ist der verschmähte Liebhaber, den seine Braut abweist.
Die Israeliten, die das Erntefest feiern, wollen von diesen Vorwürfen bestimmt nichts hören. Ungerührt fährt Jesaja fort, sein Lied zu singen. Jetzt folgt, was alles mit dem Weinberg geschehen wird. Großes Unheil bahnt sich an. Das Erste ist, dass der Zaun weggenommen werden wird. Der Weinberg hat keinen Schutz mehr, die Mauern werden eingerissen werden. Die Ziegen werden kommen und alles Grün auffressen. Der Winzer wird nicht mehr in seinem Weinberg arbeiten. Die Reben werden nicht mehr beschnitten, der Boden nicht mehr gehackt. Dornen und Disteln werden sich ausbreiten, die restlichen Pflanzen ersticken. Gott gebietet selbst den Wolken, nicht mehr auf den Weinberg regnen zu regnen. Der Weinberg wird restlos verwildern und schließlich vernichtet werden.
Jesaja malt ein Bild der völligen Zerstörung, der Entschluss Gottes steht fest. Kein Ruf zur Umkehr, kein Rest, der bestehen bleibt. Das Urteil ist gesprochen. Israel selbst kann es nachvollziehen, es ist einleuchtend, dass Gott von seinem Volk nun seinerseits nichts mehr wissen will. Übrig bleibt ein enttäuschter Gott, der seine Hoffnungen auf ein Volk, das sich ihm zuwendet und seinen Geboten folgt, aufgegeben hat. Noch einmal betont Jesaja, dass Gott sein Volk geliebt hat: Das Haus Israel und das Haus Juda war ihm eine Pflanzung, an der er seine Lust gehabt hat, an der sein Herz hing. Er hoffte auf Rechtsspruch und siehe, da war Rechtsbruch. Er hoffte auf Gerechtigkeit und siehe, da war Schlechtigkeit. Gott hat resigniert.
Im Anschluss an diesem Gerichtswort folgen Weherufe. Gottes Enttäuschung ist groß. Er tut alles Erdenkliche an seinem Weinberg, während Israel es an allem mangeln lässt. Es achtet Gott und seine Gebote nicht, kümmert sich auch nicht um sozial Benachteiligte. Gottesliebe – und die Liebe zum Nächsten stehen für Jesaja in einem unlösbaren Zusammenhang. Hier lässt sich eine Nähe zum Weltgericht erkennen. „Was ihr einen meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan.“ Gottes und Menschenliebe gehören zusammen. Wer Gott liebt, kann den Nächsten nicht darben lassen. Wer den Nächsten darben lässt, kann Gott nicht lieben. Liebe bedeutet auch immer Arbeit. Gott investiert in seinem Weinberg. Wir alle leben von solchen Investitionen Gottes. Nicht an der Härte Gottes, sondern an seinem Heilswillen drohen wir zu scheitern. Gott ist der enttäuschte Liebhaber in dem Weinberglied, das im Gewand eines Hochzeitsliedes daher kommt und in ein Gerichtswort mündet. Gott ist im Weinberglied der enttäuschte Gott, nicht der Allmächtige, der die Geschicke lenkt.
Was fangen wir mit diesem enttäuschten Gott an? Was fangen wir mit dem Gerichtswort über Israel an? Dass dieses Gerichtswort auch uns gilt steht für mich außer Frage. Trotz Christusgeschehen sind die Worte des Ersten Testaments auch an uns Christinnen und Christen gerichtet. Was machen wir mit dem eigentlich schönen Hochzeitslied, das zum Gerichtswort wird?
Als Jesaja dieses Lied singt, leben die Israeliten in Friedenszeiten. Der syrisch-ephraemitischen Krieg war noch nicht ausgebrochen. Der Prophet Jesaja sah für ein Heilswort keinerlei Anlass. Im Gegenteil, die Zeit gebietet, den Israeliten ihre Ungerechtigkeiten und Rechtsbrüche vorzuwerfen und sie zur Verantwortung zu ziehen. Er will sie zur Vernunft bringen, sie sollen Recht und Gerechtigkeit walten lassen, Nächstenliebe üben und Gott die Ehre geben. Ein Heilswort in Zeiten zu sprechen, in denen Menschen sich selbst genügen und selbstgerecht sind, wäre fatal. Das hätte sie nur ermutigt, mit ihrem Lebensstil fort zu fahren. Ein Gerichtswort hat nicht das Ziel zu vernichten, selbst wenn Jesaja ein Bild der totalen Vernichtung des Weinbergs entwirft. Sein Gerichtswort hat zum Ziel, dass Menschen umkehren und sich auf einen neuen, gerechten Weg begeben. Ein Gerichtswort kann ein Heilswort sein, wenn es dazu führt, das Menschen ablassen von ihren bösen Werken und sich wandeln, wie Gott sich wandeln kann. Gott bleibt nicht für immer der enttäuschte Liebhaber, der nur noch vernichten und zerstören will. Bei Jesaja finden sich neben Gerichtsworten immer wieder Heilsworte. An dieser Stelle bleibt es aber zunächst bei einem Gerichtswort und das darf und muss hier auch so sein.
Heute, am Sonntag Reminiscere, befinden wir uns am 2. Sonntag in der Passionszeit. Der Sonntag hat seinen Namen vom Psalm 25,6: Denke, Gott, an dein Erbarmen und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen ist. Dieses Wort ist ein vorsichtiger Versuch, dass wir Menschen doch nicht der totalen Finsternis und Zerstörung ausgesetzt sind. Der Psalmbeter erinnert Gott an sein Erbarmen und seine Treue, die er seinem Volk in der Vergangenheit erwiesen hat. Aus dieser Erfahrung heraus ist sich der Psalmbeter gewiss, dass Gott sich auch in Zukunft als der Treue erweisen wird, der seine Barmherzigkeit über seine geliebten Kinder walten lässt, von denen er im Grunde seines Herzens nicht lassen kann. Die Passionszeit führt uns zunächst in die Trauer. Bevor wir das Osterlied anstimmen, kommt zuvor das Kreuz. Wohlan, ich will singen ein Lied von Hoffnung und Auferstehung, von Liebe, Licht und Leben. Amen.
Wohlan, ich will ein Lied singen, stimmt Jesaja an. Ein Freudenlied wird er singen, vermuten wir, ein Lied, das bei einem festlichen Anlass gesungen wird, wie einer Hochzeit. Aber die Überschrift in der Lutherübersetzung deutet an, dass dieses Lied kein Freudenlied wird, sondern ein Trauerlied. Das Lied vom unfruchtbaren Weinberg, so überschreibt Luther diesen Abschnitt. Dennoch: Das Weinberglied, wie dieser Predigtabschnitt genannt wird, weist auf alttestamentliche Liebeslyrik hin. Das Lied ist ein kultisches Hochzeitslied und wurde bei der Ernte gesungen. Das Laubhüttenfest sollst du halten sieben Tage, wenn du eingesammelt hast von deiner Tenne und von deiner Kelter, du sollst fröhlich sein an diesem Fest, du und dein Sohn und deine Tochter, die Knecht, deine Magd und alle, die in deiner Stadt leben. (Dtn 16,13-16). Das Laubhüttenfest ist ein Erntefest. Der Bräutigam geleitet seine Braut zum Weinhaus und erquickt sie mit Trauben und Äpfeln. Er führt mich in den Weinkeller und die Liebe ist sein Zeichen über mir. Er erquickt mich mit Traubenkuchen und labt mich mit Äpfeln (Hoheslied 2,4+5). Der Weinberg, der Frucht trägt, ist ein Bild für die Hochzeit. Im Herbst, wenn die Früchte gereift und geerntet sind, wird das Erntefest gefeiert und Hochzeit gehalten. Die Braut selber kann als Weinberg bezeichnet werden. Im Hohenlied spricht der Bräutigam: „Mein Weinberg gehört mir.“ Er redet von seiner Braut. (HL 8,12). Ein direkter Hinweis auf alttestamentliche Liebeslyrik ist die Stelle, an der der Prophet Jesaja von Gottes Pflanzung als der Pflanzung seiner Lust spricht (Jes 5,7). Luther übersetzt: Gottes Pflanzung, an der sein Herz hing. Das Weinberglied des Jesaja hat deutliche Anklänge an das kultische Hochzeitslied, das das Hohelied überliefert. Die Braut besingt ihren Geliebten, sie spricht von ihm als ihren Freund: Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge (HL 2,8). Wohlan, ich will meinem Freund singen, sagt Jesaja, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg.
Jesaja weckt Aufmerksamkeit mit diesem Anfang. Die Leute aus Jerusalem und Juda wollen das Hochzeitslied hören. Sie feiern das Erntefest und sind gut gelaunt. Sie lauschen seiner Stimme, freuen sich auf seinen Gesang. Jesaja tritt in die Rolle eines Sängers auf, der seine Botschaft auf diese Weise dem Volk vermitteln will. Er verwendet dabei die den Menschen damals bekannte und vertraute Form des kultischen Hochzeitsliedes. Im Laufe des Liedes wird sich der Inhalt verändern. Das Hochzeitslied wandelt sich in ein Klagelied, das mit einem Gerichtswort endet.
Das Weinberglied ist ein Gleichnis. Es beginnt damit, dass Jesaja von einem Winzer redet, der alles tut, damit sein Weinberg gute Frucht trägt. Der Weinbergbesitzer hat einen fruchtbaren Grund für seinen Weinberg ausgewählt, er liegt auf einer fetten Höhe. Die Voraussetzungen sind also schon einmal gut. Der Winzer wendet große Mühen auf und arbeitet fleißig. Er gräbt die Erde um, entsteint den Boden, pflanzt Reben einer edlen Sorte. Er baut einen Turm und gräbt eine Kelter. Jetzt können die Reben reifen und saftige Trauben bringen. Seinen Anteil, den er verrichten konnte, hat er geleistet. Aber der Weinberg bringt keine guten Früchte, er bringt schlechte. Kann man noch mehr tun, als was der Weinbergbesitzer getan hat? Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort. Nein, mehr kann man nicht tun. Der Winzer hat alles getan, was man machen kann. Er hat guten Boden ausgewählt, er hat die Erde sorgfältig vorbereitet, die Steine entfernt, die Erde umgegraben, einen Turm und eine Kelter gebaut. Er hat keine Investition, keine Mühe und Arbeit gescheut, damit der Weinberg gute Frucht bringt. Zu Recht kann also unser Freund eine gute Weinernte erwarten. Aber es kommt anders. Der Weinberg bringt schlechte Frucht. Die Zühörerinnen und Zuhörer werden aufgefordert, ihr eigenes Urteil zu sprechen: Richtet selbe, fordert Jesaja sie auf. Was sollte man noch mehr tun, als was ich getan habe? Warum hat er schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächet ?. Der Redende hat unmerklich gewechselt. Der Weinbergbesitzer spricht jetzt selbst, nicht mehr der Prophet. Die Zuhörenden sind nicht mehr die Unbeteiligten, denen ein Lied vorgesungen wird, sie sind selbst in dem Lied angesprochen, sie werden direkt zu Betroffenen. Durch das Bild vom Weinberg und seinem Winzer wird ihnen vor Augen geführt, dass sie sich nicht adäquat auf Gottes Bemühen verhalten. Der Weinberg, das sind sie selbst, der Winzer ist Gott. Gott hat ihnen alles Gute getan. Er hat sie gehegt und gepflegt, er hat sich um sie gekümmert, für sie gesorgt. Sie aber kümmern sich nicht um ihn, nehmen ihr Wohlergehen und ihren Wohlstand als selbstverständlich hin. An Witwen und Weisen denken sie nicht, Fremdlinge nehmen sie nicht auf, jeder ist sich selbst der Nächste. Das Weinberglied macht den Israeliten aus der Distanz klar, was für Leute sie sind. Aus der Distanz heraus müssen sie selbst ihr Unrecht erkennen und sich selbst das Urteil sprechen.
Ein ähnliches Stilmittel wie Jesaja in seinem Weinberglied verwendet der Prophet Nathan, als der König David auf dessen Unrecht hinweisen will. Er erzählt dem König ein Gleichnis. Da ist ein reicher Mann, der viele Schafe hat. Als er ein Festmahl geben will, geht er zu einem armen Mann und fordert von ihm sein einziges Schaf. David ist entrüstet, als er das hört und spricht: „Wer ist dieser Mann, er soll des Todes sein.“ Daraufhin sagt Nathan: „Du bist der Mann.“ Mit diesem Gleichnis hat Nathan David den Spiegel hingehalten und ihn darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht Recht ist, seinen Feldherrn in den Tod zu schicken und ihm seine Frau Bathseba wegzunehmen. Mit Hilfe eines Gleichnisses führt Nathan David sein Unrecht vor Augen. Mit Hilfe des Weinbergliedes führt Jesaja den Bürgern von Jerusalem und Judas vor Augen, dass sie Unrecht tun, wenn sie sich nicht um Gott kümmern, wenn sie ihn und sein Bemühen verschmähen. Im Bild von Winzer und Weinberg wird hier von Gott und seinem Volk gesprochen. Gott ist der Winzer und Israel der Weinberg. Gott ist der verschmähte Liebhaber, den seine Braut abweist.
Die Israeliten, die das Erntefest feiern, wollen von diesen Vorwürfen bestimmt nichts hören. Ungerührt fährt Jesaja fort, sein Lied zu singen. Jetzt folgt, was alles mit dem Weinberg geschehen wird. Großes Unheil bahnt sich an. Das Erste ist, dass der Zaun weggenommen werden wird. Der Weinberg hat keinen Schutz mehr, die Mauern werden eingerissen werden. Die Ziegen werden kommen und alles Grün auffressen. Der Winzer wird nicht mehr in seinem Weinberg arbeiten. Die Reben werden nicht mehr beschnitten, der Boden nicht mehr gehackt. Dornen und Disteln werden sich ausbreiten, die restlichen Pflanzen ersticken. Gott gebietet selbst den Wolken, nicht mehr auf den Weinberg regnen zu regnen. Der Weinberg wird restlos verwildern und schließlich vernichtet werden.
Jesaja malt ein Bild der völligen Zerstörung, der Entschluss Gottes steht fest. Kein Ruf zur Umkehr, kein Rest, der bestehen bleibt. Das Urteil ist gesprochen. Israel selbst kann es nachvollziehen, es ist einleuchtend, dass Gott von seinem Volk nun seinerseits nichts mehr wissen will. Übrig bleibt ein enttäuschter Gott, der seine Hoffnungen auf ein Volk, das sich ihm zuwendet und seinen Geboten folgt, aufgegeben hat. Noch einmal betont Jesaja, dass Gott sein Volk geliebt hat: Das Haus Israel und das Haus Juda war ihm eine Pflanzung, an der er seine Lust gehabt hat, an der sein Herz hing. Er hoffte auf Rechtsspruch und siehe, da war Rechtsbruch. Er hoffte auf Gerechtigkeit und siehe, da war Schlechtigkeit. Gott hat resigniert.
Im Anschluss an diesem Gerichtswort folgen Weherufe. Gottes Enttäuschung ist groß. Er tut alles Erdenkliche an seinem Weinberg, während Israel es an allem mangeln lässt. Es achtet Gott und seine Gebote nicht, kümmert sich auch nicht um sozial Benachteiligte. Gottesliebe – und die Liebe zum Nächsten stehen für Jesaja in einem unlösbaren Zusammenhang. Hier lässt sich eine Nähe zum Weltgericht erkennen. „Was ihr einen meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan.“ Gottes und Menschenliebe gehören zusammen. Wer Gott liebt, kann den Nächsten nicht darben lassen. Wer den Nächsten darben lässt, kann Gott nicht lieben. Liebe bedeutet auch immer Arbeit. Gott investiert in seinem Weinberg. Wir alle leben von solchen Investitionen Gottes. Nicht an der Härte Gottes, sondern an seinem Heilswillen drohen wir zu scheitern. Gott ist der enttäuschte Liebhaber in dem Weinberglied, das im Gewand eines Hochzeitsliedes daher kommt und in ein Gerichtswort mündet. Gott ist im Weinberglied der enttäuschte Gott, nicht der Allmächtige, der die Geschicke lenkt.
Was fangen wir mit diesem enttäuschten Gott an? Was fangen wir mit dem Gerichtswort über Israel an? Dass dieses Gerichtswort auch uns gilt steht für mich außer Frage. Trotz Christusgeschehen sind die Worte des Ersten Testaments auch an uns Christinnen und Christen gerichtet. Was machen wir mit dem eigentlich schönen Hochzeitslied, das zum Gerichtswort wird?
Als Jesaja dieses Lied singt, leben die Israeliten in Friedenszeiten. Der syrisch-ephraemitischen Krieg war noch nicht ausgebrochen. Der Prophet Jesaja sah für ein Heilswort keinerlei Anlass. Im Gegenteil, die Zeit gebietet, den Israeliten ihre Ungerechtigkeiten und Rechtsbrüche vorzuwerfen und sie zur Verantwortung zu ziehen. Er will sie zur Vernunft bringen, sie sollen Recht und Gerechtigkeit walten lassen, Nächstenliebe üben und Gott die Ehre geben. Ein Heilswort in Zeiten zu sprechen, in denen Menschen sich selbst genügen und selbstgerecht sind, wäre fatal. Das hätte sie nur ermutigt, mit ihrem Lebensstil fort zu fahren. Ein Gerichtswort hat nicht das Ziel zu vernichten, selbst wenn Jesaja ein Bild der totalen Vernichtung des Weinbergs entwirft. Sein Gerichtswort hat zum Ziel, dass Menschen umkehren und sich auf einen neuen, gerechten Weg begeben. Ein Gerichtswort kann ein Heilswort sein, wenn es dazu führt, das Menschen ablassen von ihren bösen Werken und sich wandeln, wie Gott sich wandeln kann. Gott bleibt nicht für immer der enttäuschte Liebhaber, der nur noch vernichten und zerstören will. Bei Jesaja finden sich neben Gerichtsworten immer wieder Heilsworte. An dieser Stelle bleibt es aber zunächst bei einem Gerichtswort und das darf und muss hier auch so sein.
Heute, am Sonntag Reminiscere, befinden wir uns am 2. Sonntag in der Passionszeit. Der Sonntag hat seinen Namen vom Psalm 25,6: Denke, Gott, an dein Erbarmen und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen ist. Dieses Wort ist ein vorsichtiger Versuch, dass wir Menschen doch nicht der totalen Finsternis und Zerstörung ausgesetzt sind. Der Psalmbeter erinnert Gott an sein Erbarmen und seine Treue, die er seinem Volk in der Vergangenheit erwiesen hat. Aus dieser Erfahrung heraus ist sich der Psalmbeter gewiss, dass Gott sich auch in Zukunft als der Treue erweisen wird, der seine Barmherzigkeit über seine geliebten Kinder walten lässt, von denen er im Grunde seines Herzens nicht lassen kann. Die Passionszeit führt uns zunächst in die Trauer. Bevor wir das Osterlied anstimmen, kommt zuvor das Kreuz. Wohlan, ich will singen ein Lied von Hoffnung und Auferstehung, von Liebe, Licht und Leben. Amen.
Perikope