Ein Lied von dem, der mit seinem Leben für andere einsteht
Siehe, meinem Knecht wird's gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt hässlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder, so wird er viele Heiden in Staunen setzen, dass auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken.
Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart? Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war. Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit.
Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen. Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.
Liebe Gemeinde,
Karfreitag. Der dunkelste Tag im Kirchenjahr. Der Tag, an dem wir in besonderer Weise unser Augenmerk auf das Leiden legen. Das Leiden von Menschen, die uns wichtig sind, das große Leiden von Vielen in der Welt, das Leiden im eigenen Leben. Karfreitag. Der Tag, an dem wir auf das Leiden und Sterben Jesu Christi schauen. Auf manche Fragen gibt es keine Antwort. Nicht jedes Leiden hat einen Sinn. Doch ist es möglich, so bezeugen es viele, durch den Blick auf das Leiden Christi zu erleben, dass Christus unser Leiden teilt. Er ist uns tief verbunden, tröstet uns und vermittelt uns neue Hoffnung.
Das Leiden Jesu Christi, auf das wir heute schauen, entzieht sich dem vollkommenen Verstehen. Es bleibt ein Stück weit Geheimnis. Es entzieht sich vor allem dem Versuch, es in eine einfache dogmatische Gleichung zu pressen, so in der Art: Weil der Mensch gesündigt hat, will Gott zu Besänftigung ein Opfer, darum straft er seinen Sohn stellvertretend, um den Menschen vergeben zu können. Die Evangelien und auch das Gottesknechtslied sind meilenweit entfernt von einer solchen Haltung. Hier ist nirgends von einem strafenden Vater die Rede.
Das Leiden und Sterben Jesu war für seine Anhänger schwer zu verstehen. Nach seiner Auferstehung rangen sie darum, all diese Geschehnisse zu verkraften. Warum war Jesus so entwürdigt worden? Was konnten sie dieser Schmach entgegensetzen? Wozu der Spott, die Gewalt, die Schmerzen? In den Gottesknechtsliedern des Propheten Jesaja fanden sie hilfreiche Einsichten. So kommt es, dass in den Evangelien das Leben Jesu im Anklang an die Gottesknechtslieder erzählt wird, ohne dass die Evangelien diese Lieder in Besitz nehmen. Die Gottesknechtslieder haben ihre eigene Botschaft schon längst vor Jesus Christus.
Wer ist der Gottesknecht?
Der Gottesknecht ist nicht der verheißene Messias. Es ist eine Gestalt, über die nach ihrem Tod gesprochen wird. Es könnte der Prophet selber sein. Manchmal ist auch Mose darin gesehen worden. In späterer Zeit hat sich das ganze Volk Israel in dieser Gestalt erkannt. Viele Deutungen sind möglich.
Aufgabe des Gottesknechtes ist es, das Licht der Völker zu sein und ihnen die Tora und die Gerechtigkeit zu bringen. Eine große Aufgabe.
Das Wunderbare an diesem geheimnisvollen Lied, das absolut Tröstliche und oft Übersehene ist sein Anfang. Quasi die Überschrift. Am Anfang spricht Gott selber (V 13). Gott sagt: „Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und hoch erhaben sein. Wie viele sich über ihn entsetzten … so wird er viele Heiden in Staunen setzen.“
Dass dieser Knecht unbeschreibliche Leiden durchlebt und die Menschen sich voller Abscheu von ihm abwenden, sagt nichts aus über das Wunderbare, das er bewirkt und sagt nichts aus über sein Ende.
Dann redet im Lied eine Gruppe von Menschen. „Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde?“ Sie beschreiben den Gottesknecht von Geburt an bis zu seinem Tod. Er wuchs auf wie eine Wurzel aus dürrer Erde. Keine Gestalt hatte er, keinen Glanz, dass wir ihn gerne angeschaut hätten. Verachtet war er, von den Menschen nicht mehr als Mensch angesehen. Ein Mensch der Schmerzen war er, vertraut mit Krankheit, wie jemand, vor dem man sein Gesicht verbirgt, so verachtet war er, wir hielten ihn für nichts.
Dann schildern sie die jähe Erkenntnis, die sie später gewonnen haben, im Rückblick auf die Ereignisse. Er hat unsere Krankheiten getragen! Er hat unsere Schmerzen auf sich geladen! Wir hielten ihn für einen, den Gott geschlagen hatte – aber das stimmt nicht! Wegen unserer Vergehen war er durchbohrt. Er hat unser Schicksal auf sich genommen, damit es uns gut geht, damit wir Frieden finden.
Und dann singen sie davon, wie der Gottesknecht sich beugte wie ein Lamm, dass er seinen Mund nicht auftat, sich nicht wehrte. Dass er schändlich begraben wurde bei den Übeltätern. Und sie enden mit der unvermuteten Einsicht, dass Gott an ihm Gefallen hatte, an ihm, der von Krankheit geschlagen war, an ihm, der sein Leben zur Schuldtilgung einsetzte. Er wird Nachkommen haben und leben! Was dem Ewigen gefällt, wird durch die Hand des Knechtes gelingen!
Am Ende des Liedes ist wieder Gottes Stimme zu hören, der über seinen Knecht sagt: Er wird die Vielen gerecht machen, denn ihre Verschuldung lud er auf sich und er trat ein für die Übeltäter.
Was also tut er Gottesknecht?
Aktiv übernimmt er einen Weg, den andere hätten gehen sollen. Willentlich übernimmt er ein Schicksal, das andere hätten erleiden sollen. Er tritt für sie ein. Er übernimmt Verantwortung für ihre Taten. Er trägt die Konsequenzen – damit sie verschont bleiben. Es ist ihm gelungen!
Er ist Knecht. Er ist kein strahlender Held. Er ist kein Opfer, das Gott verlangt. Freiwillig übernimmt er für andere Haftung und Verantwortung, um Böses von ihnen abzuwenden.
Diese anderen erkennen das schließlich voller Ergriffenheit. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe! Welch ein großes Geschenk ist es, dass der Gottesknecht für uns einsteht und uns geholfen hat, dass er unser Leiden übernommen, unsere Verantwortung getragen hat.
Jener Knecht war dazu bereit, an die Stelle der anderen zu treten. Das ist ein unglaubliches Geheimnis. Es erinnert uns an das Wort Jesu im Johannesevangelium: Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für die Freunde.“ (15,13)
Liebe Gemeinde,
davon leben wir.
Mehr als von vielen anderen Gütern leben wir davon, dass jemand, wenn es darauf ankommt, zu uns hält. Dass jemand ganz konkret hilft.
Wo haben wir das schon erlebt?
Wir werden an manche Menschen denken, denen wir viel verdanken.
Wir werden an die denken, die für ihre Mitmenschen voll und ganz eingestanden sind im Laufe der Geschichte. Voller Respekt sei hier erinnert an viele Märtyrer, die tatsächlich ihr Leben gegeben haben, wie Martin Luther King, Oscar Romero, Mahatma Gandhi, Maximilian Kolbe, Janusz Korczak, Dietrich Bonhoeffer und viele andere.
Und ich möchte auch an all die vielen „kleinen Leute“ erinnern, die nicht berühmt wurden und werden: die Feuerwehrmänner in den Twin Towers am 11.9.2001, die vielen das Leben retteten und selber umkamen. Die Lehrerin, die sich beim Amoklauf vor ihre Schüler stellte und erschossen wurde, die Ehefrau, die keine Mühe scheut, ihren todkranken Mann zuhause zu pflegen bis er stirbt, die Tochter, die ihre demenzkranke Mutter versorgt und seit Jahren auf viele eigene Bedürfnisse in ihrer Lebensgestaltung verzichtet, den Bruder, der seinem arbeitslos gewordenen Bruder einfach mal eine größere Rechnung bezahlt ohne Rückforderung, die jungen Freiwilligen, die jedes Jahr in die armen Länder der Erde reisen, um mit den Menschen dort ihr Leben zu teilen und sich einzusetzen. Und viele mehr.
Davon lebt unsere Familie, unsere Gesellschaft, unsere weltweite Gemeinschaft, dass Menschen selbstlos füreinander einstehen, dass sie Verantwortung füreinander übernehmen, die Lasten der anderen tragen.
Wenn Menschen so etwas tun, gefällt das Gott. Ein Mensch, der so handelt, setzt sich voll und ganz für die Sache Gottes ein. Und wenn er noch so von anderen verachtet und ausgelacht wird. Er ist ein Mensch Gottes. Er ist einer, der wirklich lebt, weil er voller Liebe zu seinem Nächsten handelt. Weil er in tiefer Verbundenheit mit anderen diesen Leben ermöglicht hat. Gott steht zu ihm. Gott anerkennt ihn. Gott lobt ihn. So singt es das alte Lied. Gott rehabilitiert ihn.
So können wir auch Jesus sehen. Er hatte eingewilligt in diesen Weg. Er war ein leidender Gerechter, der dieses Leid für andere auf sich genommen hat – im tiefsten Gottvertrauen – und in der Erwartung, dass er zur Rechten Gottes sitzen würde und von dort wieder kommen würde, um Gerechtigkeit herzustellen.
Liebe Gemeinde, worunter oder mit wem auch immer wir leiden – wir können den Blick des Gekreuzigten suchen und seine ausgebreiteten Arme sehen, die uns sagen: ich sehe dich. Ich leide mit dir und für dich. Ich kenne deinen Schmerz und ich bin dir verbunden. Du bist in meiner Liebe und Gott wird am Ende alles gut machen. Und wenn du willst und kannst, dann lass auch du dich in Dienst nehmen von Gott und setze dich für andere ein ohne Furcht. Denn du hast Anteil an meinem Weg und auch dein Leben ist in Gott geborgen.
Amen.
Viele Gedanken zum Verständnis des Gottesknechtes verdanke ich der Predigtmeditation von Klaus Müller, Karfreitag: Jes (52,13-15) 53,1-12, Gottes Knecht – gelebte Solidarität bis zum Tode, erschienen in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Zur Perikopenreihe VI, Herausgegeben von Studium in Israel e.V., Wernsbach 2007, S.146-151.