Predigt zu Jesaja 53,1-12 von Peter Schuchardt
53,1-12

Predigt zu Jesaja 53,1-12 von Peter Schuchardt

Liebe Schwestern und Brüder!

Wir feiern den Karfreitag. Aber können wir so eine Tag feiern? Wir feiern den heruntergekommen Gott. Ist das ein Grund zum Feiern? Wir erinnern uns, wie Jesus am Kreuz stirbt. Es ist zuallererst ein Tag der Trauer. Ein Tag, den die Farbe Schwarz beherrscht. Ein Tag, der Bilder in uns wachruft. Bilder der Kreuzigung. Bilder des Leidens Jesu. Bilder bedeutender Maler. Szene aus Filmen und aus dem Fernsehen. Mancher von euch kennt den Film „Die Passion Christi“ von Mel Gibson. Vor Jahren hat er für große Aufregung und viele Diskussionen gesorgt. So viel Leiden gab es da zu sehen. So viel Blut, so viel Schmerz. Ich denke, er hat auch gerade darum so verstört, weil wir uns an andere Bilder gewöhnt haben. Die Bilder von Leid, Blut und Schmerz wollen wir nicht sehen. Wir haben uns  an das Kreuz in unseren Kirchen gewöhnt. Erkennen wir noch, ahnen wir noch das Leid, den Schmerz, der in dem Kreuz steckt? Wir haben oft Bilder von Christus im Kopf. Sie zeigen uns den friedlichen, sanften Heiland, den Wohltäter, den Guten Hirten. Wir sehen ihn mit langem Gewand und mit wallenden Haaren und bedenken nicht: Dieses Bild ist von der Malerei geformt worden, von den Nazarenern im 19. Jahrhundert. Bis heute bestimmt es unser Denken. Achtet einmal auf das Bild, das in der Werbung, im Fernsehen, in so vielen Jesus-Satiren in den Comedy-Shows zuhauf auftaucht. Es ist dieser immer gleiche, leicht dämliche, stets lächelnde Jesus, der mit uns nichts mehr zu tun hat, der als Witzfigur belächelt wird.

Heute, am Karfreitag, aber geht es um sein Leiden, seine Schmerzen, seinen Tod – und es geht um uns. Darum steht heute ein Abschnitt aus dem Propheten Jesaja im Mittelpunkt. Es ist ein Lied, ein Lied über den Knecht Gottes, aus dem Kapitel 53:
1Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart?
2Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
3Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
4Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
5Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
6Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn.
7Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.
8Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war.
9Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist.
10So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit.
Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen.
11Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden.
12Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.


Liebe Schwestern und Brüder, dieser Text ist alt, viel älter als das Neue Testament. Niemand weiß genau, von wem dieses Lied handelt. Ist es das Volk Israel, das in der damaligen Zeit im Exil sitzt? Ist es der Prophet selbst? Auf diese Fragen erhalten wir keine Antwort. Aber auf eine andere Frage bietet uns der Text eine Antwort: Wer ist Jesus Christus? Seine Jünger, die ihn begleitet haben, die Menschen, die er begeistert, geheilt und mit seinen Worten aufgerüttelt hat, sie fragen immer wieder: Wer ist das? Die Fragen werden größer und drängender, als Jesus in Jerusalem einzieht. Die Fragen werden schmerzlich und fassungslos, als Jesus am Kreuz stirbt. Wer ist Jesus Christus? Die Jünger, die Menschen in Israel kennen die Schrift. Sie kennen das Lied vom Knecht Gottes. Und sie erkennen: Jesus ist wie dieser Knecht. Jesus ist der Knecht Gottes, der für uns leidet und stirbt. Und so steht heute, am Karfreitag, dieses Lied im Mittelpunkt. Es soll uns helfen zu verstehen, was mit Christus am Kreuz geschieht, warum er stirbt.

Aber dieses Lied ist voller verstörender Bilder. Es will uns von aller Gewöhnung ans Kreuz freimachen. Es will uns die Augen und das Herz freimachen für das, was da geschieht. Denn das Lied besingt nicht den freundlichen Guten Hirten. Dieser Knecht Gottes ist eine erbärmliche Gestalt, der Allerverachtetste  und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Das ist kein hoheitsvoller Jesus, der mit Würde am Kreuz stirbt. Das ist ein zerschlagener und geplagter Mensch. „Da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte“, heißt es in dem Lied. Wir haben uns an das Kreuz und das Sterben Jesu gewöhnt – und wie schnell gewöhnen wir uns an das Sterben in den Kriegsgebieten unserer Tage! Mit seinen Bildern aber stört das Lied vom Knecht Gottes unsere Gewöhnung. Was für eine heruntergekommene Gestalt hängt da am Kreuz! Und es geht noch tiefer. Denn in Christus kommt Gott zu uns. Er selbst, der Schöpfer der Welt, gibt sich in das Leiden, die Verachtung, den Tod. An was für einen heruntergekommenen Gott glauben wir eigentlich! Der Karfreitag ist ja darum ein so wichtiger Feiertag, weil er uns den Grund unseres Lebens zeigt, einen doppelten Grund. Der eine ist: In allen menschlichen Abgründen, in allem, wo wir heruntergekommen, gestürzt und verloren sind, ist Gott an unserer Seite. Und dafür geht Gott in Christus den Weg in tiefste Verachtung und Ablehnung. „Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg.“ Der andere: Das Lied will uns mit seinen Bildern nicht nur verstören, es will uns auch den Blick öffnen für das Warum. Warum ist Gott so heruntergekommen? Und die Antwort ist: Weil es ihm um uns geht. Es geht ihm um uns, weil wir so heruntergekommen, unansehnlich, verachtet sind. Wir meinen, das sind wir nicht? Oder ist es so: Wir wollen es nicht sein!? Und wenn wir das sind, dann tun wir alles, um das zu verstecken, um den Schein zu wahren. Ein jeder sieht auf seinen Weg. Ein jeder hat nur sich selbst im Blick. Wir vertrauen nur auf uns selbst. Wir sind doch gut, und wenn etwas mal nicht klappt, wir schuldig werden, dann ist es eben ein Ausrutscher auf unserem Weg. Denn wir haben doch, meinen wir,  eigentlich so viel vorzuweisen. Unsere Leistungen, unser Konto, unser Ansehen, alle unsere guten Taten. Und wir hängen der fixen Idee an, wir könnten Gott mit unseren Erfolgen und unserem Leisten beeindrucken. Ja, wir meinen, Gott sei doch mit denen, die genau das vorzeigen können: die besten Noten, das meiste Geld, das beste Leben. Wir hängen an dieser fixen Idee, Gott sei in unseren Guttaten bei uns. Meinen, Gott sei uns in unseren Abgründen fern. Das Gegenteil ist wahr.

Aber neben den verstörenden Bildern von dem unansehnlichen, abstoßenden Knecht Gottes sind es die Worte, die uns verstören. Worte, die unsere Ruhe und unsere Selbstsicherheit stören. Denn der Knecht Gottes, Jesus, so deuten es die Jünger, sieht nicht auf sich selbst. Er sieht auf Gott. Und das heißt: Er vertraut nicht auf sich, er vertraut auf Gott. Und darum kann er uns sehen, wie wir sind, verstrickt in alles, was wir sein wollen und nicht sind, was wir vorspielen und niemals sein werden, was uns belastet und bedrängt und die Kraft raubt. Er sieht auf unser selbstgemachtes zerbrechliches Glück. Und nun kann es uns so gehen wie den Menschen im Lied aus vom Gottesknecht. Wir erkennen: Er leidet ja für uns! Er nimmt das alles, Hohn und Spott, Verachtung und Schmach, Tod und Grab auf sich, allein für uns, ohne eigene Schuld. Unsere Krankheit und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen. „Die Strafe Gottes liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Sofort werden einige einwenden: das geht doch gar nicht. Da kann sich doch keiner für uns opfern. Wenn wir schuldig sind, dann müssen wir das auch verantworten. Kann denn ein anderer für uns Schuld und Strafe tragen? Ja. Aus Verantwortung und aus Liebe. „Eltern haften für ihre Kinder“, lesen wir an jeder Baustelle. Und hier, vor den Trümmern unseres Lebens, ist es unser himmlischer Vater, der für uns haftet, der zu uns in unser Leben herunterkommt, sich selbst in seinem Sohn am Kreuz hingibt. Weil er uns liebt.

Eine verstörende Botschaft, eine Botschaft, die unsere Sicherheiten stört und zerstört. Denn sie sagt: Es ist notwendig, dass wir gerettet werden. Wir können es nicht allein. Und zugleich eine heilende Botschaft. Die heilende Botschaft für uns: Gott liebt uns so sehr, dass er uns daraus retten will. So gibt er sich für uns aus Liebe in Leid und Schuld und Tod. Alle Bilder von Jesus, die wir in uns tragen, sind zusammengefasst in dem einen: Christus, Gottes Sohn, Gott selbst am Kreuz. Für uns.

Wir feiern den Karfreitag. Können wir das überhaupt feiern? Ja. Mit einem Herzen, das auf unseren Gott am Kreuz sieht. Was ist das nur für ein heruntergekommener Gott, an den wir glauben! Gott sei Dank. Amen