“Rühmt Euch! Aus Eurer Gemeinde wird etwas werden! Freut Euch! Investiert, schafft euch Räume, breitet Euch aus! Fürchtet Euch nicht! Die Leute werden Euch achten und respektieren!”
Das klingt jetzt befremdlich in unseren Ohren, liebe Gemeindeglieder, und sogar ein wenig peinlich. “Sich rühmen” - das passt nicht zu unserem Selbstverständnis. Wir rühmen uns nicht. Eher gehen wir ab und an mit dem unguten Gefühl in den Gottesdienst, dass mit unserer Kirche nicht mehr viel Staat zu machen sei. Es plagt uns, dass wir nicht investieren können, sondern darum kämpfen müssen, Gebäude und Arbeitsfelder zu erhalten. Die Jüngeren unter uns spüren, wie sie für ihren Glauben nicht selbstverständlich geachtet werden, sondern im Freundeskreis begründen müssen, warum sie “noch” in unserer Kirche sind, manche Konfirmanden, warum sie sich in den nächsten Wochen konfirmieren lassen.
“Rühmt euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!”
Noch befremdlicher klingt das in den Ohren der ersten Hörer. Sie sind aus ihrem Land vertrieben. Sie sind im Exil in Babylon. Sie sind am Boden. Kein Staat mehr da und kein Staat zu machen mit Israel. Der Tempel in Jerusalem zerstört, ein erkennbarer, verlässlicher, zentraler Raum für ihr geistliches Leben fehlt. Statt geachteter Bürgerinnen und Bürger sind sie Deportierte, abhängig von den Launen ihrer neuen Herren, verstört auf der Suche nach einem neuen Leben, irritiert in ihrem Glauben. Und doch ruft ihnen der Prophet zu:
“Rühmt euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!”
Es ist kein verzweifelter Pfiff im Wald. Es ist mehr als ein haltloser Appell und für uns mehr als eine euphorische Unterbrechung der Passionszeit. Das werden wir sehen. Denn wir lesen jetzt die direkt anschließenden Worte des Propheten aus dem zweiten Teil des Buches Jesaja, im 54. Kapitel die Verse 7 bis 10.
“7Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. 8Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.
9Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. 10 Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.”
Herr, segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde,
I. “Rühmt Euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!” - Denn: “7Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. 8Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.
Es sind scharfe Kontraste, die hier einander gegenüberstehen: da “verlassen” - hier “sammeln”, dort “das Angesicht verbergen” - hier “erbarmen”, da “nur ein Augenblick” und hier die “Ewigkeit”, dort der “Zorn” und hier die “Gnade”.
Diese Kontraste spiegeln die Widersprüche zwischen dem Erleben dieser entwurzelten Menschen und dem Propheten, der diesen traumatischen Erlebnissen eine ganz andere Deutung gibt. Da steht das Vergangene, hier steht die neue Zeit. Da steht der Schmerz über den Verlust der Heimat, der geistlichen Mitte, da steht die Orientierungslosigkeit und wohl auch materielle Not, hier dagegen das intuitive Wissen, dass dieses babylonische Exil nur eine Episode, fast nur ein Ausrutscher, eigentlich nur ein Augenblick in der langen Geschichte des Gottesvolkes mit seinem Gott ist.
Aber wie lange kann so ein Augenblick dauern? Wie quälend kann es für Menschen sein, wenn sie den Eindruck haben, Gott habe sie in ihrer Not verlassen? Wie entmutigt fühlen wir uns, wenn Gott sein Angesicht verbirgt, nicht ansprechbar für unsere Bitten, für unser Klagen scheint?
Es kommt mir vor, als forderte der Prophet von seinen Zuhörern den Mut zum Unwahrscheinlichen, das Wagnis, schon jetzt mitten im Leiden das Neue zu sehen, jetzt die neu erwachte Liebe Gottes im eigenen verpfuschten Leben zu spüren. Und darauf zu hoffen, dass sich einmal im Rückblick die Zeit der Not als kleiner Augenblick erweist. Wie in der Geschichte von jenem Mann, der erzählt: “Das letzte Lebensjahr meines Vaters war furchtbar. Ich war am Rande meiner Kräfte und wusste oft nicht weiter. Was ihm in seinem Leben etwas bedeutet hatte, das hatte ihm die Demenz Schritt für Schritt genommen. Er war nicht mehr er selbst, nicht mehr der, der er immer gewesen war. Orientierung und Selbstkontrolle waren ihm entglitten.
Aber wenn ich heute auf dieses schlimme Jahr zurückblicke, dann denke ich auch an die vielen glücklichen Jahre, die ich mit ihm als Kind gelebt habe. Wie mir mein Vater die Welt gezeigt und erschlossen hat, wie er mir Vorbild war und meinen ganzen Lebensweg mit so viel Liebe begleitet hat. Da ist dieses schlimme Jahr doch nur ein kurzer Abschnitt gewesen im Vergleich zu der langen, schönen Zeit, die wir miteinander in größerer Nähe und weiterem Abstand miteinander geteilt haben.”
Es stärkt uns, wenn Menschen von solchen Erfahrungen erzählen. Sie ermutigen uns, in den schwierigen Zeiten unseres Lebens doch mit Gott zu rechnen, darauf zu hoffen, dass auch uns eine bedrückende Gegenwart einmal nur als Augenblick erscheinen könnte. Der Prophet fügt noch eine biblische Erfahrung hinzu:
II. “Rühmt Euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!” - Denn: “9Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.”
Wir reden nicht gerne vom zornigen Gott. Der Gedanke ist uns unangenehm. Einige spüren hier die destruktiven Kräfte, die jeder Glaube, auch ein religiöser, auch der christliche, haben kann. Manche erinnern sich vielleicht daran, wie Ihnen Angst vor Gott gemacht wurde, um sie zu disziplinieren. Uns gefällt die Vorstellung eines zornigen Gottes nicht, der sich von Menschen enttäuschen lässt. Ein Gott, der nicht mehr souverän ist, der die Kontrolle über sich verliert und “eine Flut von Wut”, wie man das hebräische Wortspiel hier nachahmen könnte, über die Menschen ergießt. Und doch machen Menschen solche Erfahrungen mit Gott, erklären Menschen ihr Scheitern mit dem Zorne Gottes.
Die Sintflutgeschichte, an die der Prophet uns hier mit dem Namen Noahs erinnert, verschweigt die Erfahrung des zornigen Gottes nicht. Aber sie gibt dieser Erfahrung eine grundlegende Wendung. Viel wichtiger als Gottes Zorn ist das Versprechen, das Gott in dieser Geschichte gibt: dass er sich selbst eine Grenze setzt. Dass er seinem Zorn eine Grenze setzt. Dass er einen Schwur leistet: “Ich will meine Versprechen niemals brechen.” Nicht den Bund mit Noah für die ganze Welt, nicht den Bund mit Israel, dessen Verheißungen bleiben, nicht den neuen Bund, den er durch Jesus Christus mit uns gestiftet hat. Indem Gott seinem Zorn eine Grenze setzt, verspricht er zugleich, dass er Schuld vergeben wird, Gnade schenken wird, neue Anfänge, neues Leben immer wieder möglich machen wird - auch für uns, so wie wir sind. Deshalb:
III. “10Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.”
Wir haben die tröstende Kraft dieses Bibelwortes erfahren. Viele Menschen hat es in tragischen Momenten mehr getröstet, als es jedes andere Wort gekonnt hätte. Hier hat der Prophet uns sein poetisches Talent, das Bibelwort seine große Kraft, Gott sein Treue gezeigt. Mögen Berge herabstürzen, Hügel wanken, Hoffnungen erschüttert werden, Lebensträume zerbrechen, Lebensentwürfe scheitern - Gottes Gnade und sein Friedensbund bleiben. Die Beziehung Gottes zu seinen Menschen bleibt intakt.
“Rühmt Euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!”
Lesen wir das Wort zusammen mit der Einleitung, die der Prophet diesem ganzen Abschnitt gegeben hat, so weitet sich unser Blick. Das Trostwort wird zu einem Impuls, das ganze Leben mit Höhen und Tiefen im Licht von Gottes Gnade, gehalten in seinem Friedensbund, zu begreifen. Darum rühmt euch des Gottes, der mit seiner Gnade bei uns bleibt, freut euch auch im Leide und fürchtet Euch nicht!
Liebe Gemeinde,
“Freut Euch mit Jerusalem” heißt der Leitvers für unseren heutigen Sonntag Lätare, “Freut euch”. Vielleicht liegt im Mit-Freuen mit Jerusalem das Geheimnis dieses Sonntags für uns Christen, in der Mitte der Passionszeit. Denn ich glaube aus dem Mit-Freuen mit Jerusalem wird ein Mit-Hoffen mit dem Gottesvolk erwachsen und der Mut, auf das zu vertrauen, was uns manchmal als das Unwahrscheinliche erscheinen mag - Gottes Treue. Amen.