Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Dieter Splinter
58,1-9

Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Dieter Splinter

Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!Sie suchen mich täglich und begehren meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe.»Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst's nicht wissen?« Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

I.

Liebe Gemeinde!

Der Tempel hat keinen König. Das war lange anders. Wir erinnern uns.  Geschichte ist aufschlussreich.

Der erste Tempel in Jerusalem geht auf König Salomo zurück. So berichtet es die Bibel. In diesem Tempel wurde nicht nur der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs  verehrt. Der König hatte darin eine besondere Rolle. Er repräsentierte das Volk vor Gott. So wurde er im Gottesdienst in Psalmen besonders gewürdigt. Der 21. Psalm etwa fasst das in diese Worte: „Herr, der König freut sich deiner Kraft, und wie sehr fröhlich ist er über deine Hilfe! Du erfüllst ihm seines Herzens Wunsch und verweigerst nicht, was sein Mund bittet. Denn du überschüttest ihn mit gutem Segen, du setzt eine goldene Krone auf sein Haupt.“

Nun aber ist es anders. Der erste Tempel wurde 587 bzw. 586  v. Chr. zerstört, das Volk Israel in das babylonische Exil verschleppt. Dort saß es an  den Wassern zu Babylon und weinte. Ihre Harfen hängten sie in Trauerweiden. Und sie sagten sich: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.“ (Psalm 126, 1-2)

Eines Tages war es soweit. Die Erlösung geschah. Nach etwa 50jährigem Exil konnten die  Israeliten zurückkehren. Viele waren in der Fremde geboren worden. Viele dort gestorben. Nun waren sie wieder im gelobten Land. Bald nach ihrer Rückkehr nach Jerusalem machten sie sich daran, den zerstörten Tempel wieder aufzubauen. Unter Mühen. 515 vor Christus wird der zweite Tempel eingeweiht. Er hat keinen König mehr. Ihm steht nun ein Priester vor. Aber vor allem gehen die Rechte und Pflichte des Königs auf die Gemeinde und jeden einzelnen und jede einzelne darin über.

II.

Der Tempel hat keinen König mehr. Aber er hat eine königliche Gemeinde. Jede darin ist eine Königin, jeder darin ist ein König. Wie so oft nehmen Entwicklungen in der Religion ihren Anfang. Hier – in den Worten Jesajas - deutet sich nämlich ein Übergang an: Von der Monarchie zur Demokratie, von der Theokratie zu einem Gemeinwesen, das Glaube und Recht in gegenseitigem Respekt aufeinander zu beziehen weiß. Entscheidend ist, dass schon bei diesem Übergang die solidarische Hilfe als eine königliche Aufgabe aller beschrieben wird.

Der Prophet Jesaja sagt es so: „Brich den Hungrigen dein Brot, und die im Elend  und ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Der Tempel hat keinen König. Er braucht ihn auch nicht mehr, denn er hat ja eine königliche Gemeinde. Wenn die sich ihrer Bestimmung gemäß verhält, dann ist sie „wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“ (Jesaja 58,11) Dann – so Jesaja in einem großartigen Bild voller Verheißung – wird ihr „Licht hervorbrechen wie die Morgenröte“, ihre „Heilung wird schnell voranschreiten“, und ihre „Gerechtigkeit wird vor ihr hergehen“. Worte voller Bewegung. Am Ende dieser Prozession wird gar „die Herrlichkeit des Herrn“ ihren „Zug beschließen“.

III.

Stimmt das? Verheißungen haben immer einen voraus laufenden Charakter, sonst wären sie keine. Die Wirklichkeit sieht jedoch oft anders aus. Das war schon zu Jesajas Zeiten so. Und so bekommt der Prophet den Auftrag, dem Volk die Leviten zu lesen: „Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem  Hause Jakobs seine Sünden!“

Das Volk bemüht sich ja, seinem königlichen Auftrag gerecht zu werden. Sie wollen Gott nahe sein. „... sie begehren, dass Gott sich nahe.“ Und darum fragen sie ihn : „Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum  kasteien wir unseren Leib und du willst's nicht wissen?“

Die Antwort ist eindeutig. Das innere Bestreben durch Fasten Gott nahe sein zu wollen, passt nicht zum äußeren Verhalten. Da ist etwas auseinander gebrochen, was eigentlich zusammen gehört: „Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.“

IV.

„Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.“ Passt dieser Satz ins Heute? Und – wenn ja – wie?

In einer Predigthilfe habe ich dazu folgende Feststellung gefunden: „In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ist nicht nur eine breite Palette von Nahrungsmitteln unabhängig von der Jahreszeit und den regionalen Bedingungen der Landwirtschaft verfügbar. Auch Genussmittel sind frei erhältlich. Bis in die Fernsehgewohnheiten hinein fordert die Konsum-gesellschaft dem Einzelnen ein gehöriges Maß an Selbstdisziplin ab, um zu wissen, was ihm selbst als Einheit von Seele  und Leib eben nicht nur zu essen und zu trinken, sondern auch zu sehen guttut, und wo die Grenze zu problematischer Gewöhnung und Abhängigkeit überschritten ist. In einer solchen Situation hat die Praxis des Fastens verständlicherweise neue Freunde und Freundinnen gefunden.“ Soweit diese Predigthilfe. (Christian Nottmeier/Hans Martin Dober: Jesaja 58, 1-9a: Unterwegs zu den Quellen des Selbst, in: Predigtstudien für das Kirchenjahr 2007/2008, Perikopenreihe VI – Erster Halbband, hrsg. von Volker Drehsen et al., Stuttgart 2007, S. 137)

Für die Freunde und Freundinnen des Fastens geht es um Herrschaft. Genauer: Es geht darum, sich selbst zu beherrschen. Man möchte erreichen, dass man von Äußerem nicht abhängig ist. Man möchte erfahren, dass man ganz und gar dazu fähig ist, über sich selbst zu bestimmen. Diese Selbstbestimmung hat etwas Königliches. Kein Wunder, dass man nicht nur in der säkularen Welt, sondern auch in der evangelischen Kirche das Fasten (wieder-)entdeckt hat. Wir nennen das  „Sieben Wochen ohne“.  Da kann man zeigen, dass die Rechte und Pflichten des Königs auf die Gemeinde übergegangen sind. Schließlich hat der Tempel längst keinen König mehr.

Im Fasten kommen so auch evangelische Christen durchaus ihrem Auftrag nach. Ein Christenmensch ist schließlich ein freier Herr aller Dinge und nichts und niemandem untertan. Zugleich ist ein Christenmensch aber auch ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Nur der ist ein guter König, der seinem Volk, also anderen und nicht bloß sich selbst, zu dienen weiß.

Jährlich werden in Europa und den USA  Lebensmittel im Wert von 100 Milliarden Euro weggeworfen. Damit ließen sich die in dieser Welt von Hunger Bedrohten oder tatsächlich Hungernden, also etwa eine Milliarde Menschen, leicht ernähren. So lange es keinen gerechten Ausgleich zwischen Arm und Reich gibt, so lange die einen hungern, weil sie zu wenig haben – und die anderen hungern, weil sie zu viel haben - so lange das so ist, stimmt der Satz, den Jesaja uns über viele Jahrhunderte hinweg in unser Ohr posaunt: „Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.“

V.

Der Tempel hat keinen König mehr. Schon zu Jesajas Zeiten, also vor langer Zeit, wurde das festgestellt. Die Rechte und Pflichten des Königs sind auf die Gemeinde übergegangen. Daraus folgt nicht bloß das Recht zur Selbstbe-stimmung, sondern auch die Pflicht zur solidarischen Hilfe. Das schreibt uns Jesaja über die Jahrhunderte hinweg ins Stammbuch. Mehr noch: Er posaunt uns diese Mahnung ins Ohr.

Doch lässt er uns auch nicht ohne eine Verheißung und ohne einen Zuspruch Gottes. Dem nämlich, der nicht müde wird, Selbstbeherrschung und Solidarität miteinander zu verbinden und in einer Gemeinde zu leben sucht, ruft Jesaja mindestens genauso laut ins Ohr: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie eine Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HER wird dir antworten. Wenn du schreist wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“

Amen