Predigt zu Jesaja 58,1 – 9a von Karin Klement
58,1-9

Predigt zu Jesaja 58,1 – 9a von Karin Klement

(1)  So spricht GOTT zum Propheten:
Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit. Und dem Hause Jakob seine Sünden!

(2)  Sie suchen mich täglich. Und begehren, meine Wege zu wissen. Als wären sie ein Volk, das die GERECHTIGKEIT schon getan und das RECHT seines Gottes nicht verlassen hätte.
Sie fordern von mir RECHT; sie begehren, dass Gott sich nahe.
(3)  „Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und du willst es nicht wissen?“

SIEHE, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach. Und bedrückt alle eure Arbeiter.  (4)  SIEHE, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr. Und schlagt mit gottloser Faust drein.
Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.

(5)  Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit:  Wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet?
Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem Gott Wohlgefallen hat?

(6)  Andersherum ist das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe:
Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast!
Lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast!
Gib frei, die du bedrückst; reiß jedes Joch weg!

(7)  -    Brich dem Hungrigen dein Brot,
und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!
Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn,
und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!

(8)  Dann wird dein LICHT hervorbrechen wie die MORGENRÖTE. Und deine HEILUNG wird schnell voranschreiten. Und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen. Und GOTTES HERRLICHKEIT wird deinen Zug beschließen.

(9)  Dann wirst du rufen, und GOTT antwortet dir. Wenn du schreist, wird er sagen: SIEHE, hier bin ich.


Liebe Gemeinde!
Morgen ist Rosenmontag – Höhepunkt im Karnevalstrubel und närrischem Verulken. Mit riesigen Figuren aus Pappmaché werden bei den Umzügen Berühmtheiten des öffentlichen Lebens oder ein aktuelles Ereignis witzig dargestellt. In Büttenreden nimmt man Politiker und Prominente kräftig auf die Schippe. Sie müssen es ohne Widerspruch ertragen, dass ihnen oft recht schmerzhaft eine Wahrheit gesagt wird, die sie selbst vermutlich ganz anders einschätzen.
Die aufwendig geschmückten Umzugswagen präsentieren, was dem einfachen „gemeinen“ Volk im Blick auf unsere Gesellschaft an die Nieren geht oder auf die Nerven. Mit viel Witz in der Übertreibung und treffendem Spott werden wunde Punkte unseres menschlichen Verhaltens offengelegt und unübersehbar vor Augen geführt.

Diese Offenheit in Fasching, Fastnacht, oder wie immer man es nennt, hat auch etwas sehr Entlastendes: Wer Kritik äußert, muss sich nicht um abwägende, vorsichtige Formulierungen bemühen. Im Gegenteil, je übertriebener, desto besser. Hinter der Maske des augenzwinkernden Spötters dürfen ehrlich gemeinte Ansichten deutlich ausgesprochen werden. Ja, im Karneval darf man sich auf Kosten einer oder eines anderen ungestraft lustig machen. Und die Verspotteten tun gut daran, den Witz und dessen verborgenen Tiefschläge über sich ergehen zu lassen. Fasching ist somit – neben anderem – auch eine Form genehmigter „Rache des kleinen Mannes“ für all das, worüber er sich bei den „Großen und Mächtigen in Politik und Gesellschaft“ geärgert hat. Dabei wird „Tacheles“ geredet, unverblümt ehrlich zumindest ein Stück Wahrheit zu Gehör gebracht.

Dies kann durchaus heilsam wirken, sofern die davon Betroffenen sich die Wahrheit sagen lassen und darüber ins Nachdenken kommen. Einfach ist es aber nicht. Und es gelingt wohl kaum ohne schmerzliche Selbsterkenntnisse. Das mag jeder/jede aus eigenen Erfahrungen kennen, wenn man unverhofft hinter der Sonntags-Maske mit dem wahren eigenen Gesicht konfrontiert wird. Mit Schattenseiten, die einem nicht gefallen. Doch der Lohn ist eine neue, freie Gelassenheit; ein Wegfall von anstrengender Selbstdarstellung. Man darf sich einfach so geben, wie man ist, und muss anderen nichts mehr vormachen. Ein Stück Wahrheit über sich selbst zu erkennen, das entlastet und befreit, um der eigenen Person ein Stück näher zu kommen.

Wahre Worte zu sprechen, unabhängig davon, ob sie gefallen oder nicht, war auch eine Aufgabe der Propheten des Alten Testaments. Sie hielten oftmals eine recht harte, schmerzhafte Wahrheit dem Volk Israel wie einen Spiegel vor die Augen. Doch es ging ihnen nicht darum, ihre Mitmenschen zu verdammen, vielmehr ihnen einen heilsamen Weg zu eröffnen. Indem sie ihren Finger auf den wunden Punkt legen, zeigen sie, wie zwischenmenschliche Beziehungen und unsere Beziehung zu Gott gesunden können. Hören wir, was ein Prophet – rund 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung – im Auftrage Gottes zu verkündigen hat:
T E X T

Ein harsches, radikal kritisches Wort soll der Prophet seinen Zeitgenossen verkündigen. Schonungslos offen, ohne jede Zurückhaltung soll er die Wahrheit ausposaunen: „Ihr befindet euch im Irrtum, wenn ihr glaubt, es reiche aus, Gott zu dienen, ohne eure Mitmenschen im Blick zu haben. Ihr verfallt einer Illusion, wenn ihr glaubt, Gott erfreue sich daran, dass ihr religiöse Rituale einhaltet, fastet und euch vor Gott demütigt. Auf der anderen Seite jedoch unterdrückt ihr eure Mitmenschen, lasst eure Nächsten schonungslos leiden. GOTT will dir nahe sein, Mensch! Aber nicht ohne deine Nähe zu deinem Mitmenschen. Die Art und Weise, wie du anderen begegnest, berührt Gottes Herz.“

Historisch gesehen spricht der als Trito-Jesaja benannte Prophet vermutlich in eine triste Situation seines Volkes Israel. Die Zeit der Verbannung ins Exil ist überwunden. Doch die Heimgekehrten finden ein immer noch verwüstetes Land vor. Grundlegende Aufgaben stehen ihnen bevor: Häuser und Straßen bauen, eine schützende Mauer um Jerusalem schließen. Der zerstörte Tempel – Ort göttlicher Nähe und Zentrum für ihre Opfergottesdienste –muss neu errichtet und wieder aufgebaut werden. Aber alles braucht lange Zeit, und die Mühsal ermüdet die Menschen.
Ich stelle mir vor, wie die schlimmsten Hungerzeiten vorübergehen. Doch die wirtschaftliche Lage bleibt schwierig; die Kluft zwischen Arm und Reich verbreitert sich. Die Ordnungen des Lebens, öffentlich wie privat, gelingen nur ansatzweise und bruchstückhaft.
Über verordnete Fastentage versucht man das Gedächtnis an die Schrecken des Krieges zu bewahren und gleichzeitig Voraussetzungen für eine Umkehr und Erneuerung zu schaffen. In Klagegottesdiensten wendet sich das Volk an Gott; von IHM erhofft es eine Veränderung zum Guten. Aber erkennbare Verbesserungen bleiben lange Zeit aus, und mancher fragt sich schon, ob die ganze Mühe überhaupt etwas bringt.
Es scheint, als versage der Himmel seinen Segen zu allem, was die Menschen aufbauen. Harte Plackerei bringt nichts Ansehnliches hervor. Erfolge versickern, und auch das Leben jenseits aller Mühen und Arbeit gelingt nicht festlich. Kein Wunder also, dass sich Enttäuschung ausbreitet, und die Vergeblichkeit Zorn und Zweifel auslöst. Mit Gewalt wollen die Menschen ein Heil erzwingen, das sich durch Fasten und Beten nicht einstellen will.

„Wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein!“ klagt der Prophet. Der Umgang miteinander wird härter, die zwischenmenschlichen Beziehungen leiden. Der Zusammenhalt des Volkes bröckelt; die ganze Gemeinschaft leidet unter wachsender Rücksichtslosigkeit. Religiöse Rituale, wie Gebet und Fasten, verwandeln sich in Instrumente ihres Durchsetzungswillens. Nicht Demut, Umkehr, Einsicht bestimmen die Fastenden, sondern ein Geist von Bemächtigung: Es muss uns doch irgendwie gelingen!
„Es muss nicht“, widerspricht der Prophet. „Es würde vielleicht, wenn ihr aufhören könntet, alles selbst erzwingen zu wollen.“ Öffnen, lösen, freigeben – sind Handlungsweisen, denen die Morgenröte folgt. In kleinen Schritten, in persönlicher Zuwendung gegenüber dem Nächsten kann jede/jeder von uns am Heilwerden der Gemeinschaft mitarbeiten. Und dabei die große Wende zum Guten vertrauensvoll Gott überlassen. „Gottesdienst im Alltag“ könnte man das nennen, der genauso wichtig ist, wie das Singen, Beten und Gottloben in gottesdienstlicher Gemeinschaft.

 Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe“, erklärt Gott: 
Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, z.B. jene Menschen, von denen du glaubst, dass sie dir etwas schuldig sind, und die du nicht freigeben magst. Wer sagt dir denn, dass nur deine Ansichten die Richtigen sind?
Lass frei, auf die du das Joch der Unterdrückung gelegt hast! Überlege dir, wer von dir abhängig ist, und wie sich das anfühlt für diese Person. Vielleicht fällt es dir dann leichter, den anderen frei zu geben, und dich selbst auch viel freier zu fühlen.
Teile mit den Hungrigen dein Brot! Lass niemanden neben dir verhungern. Wo du das Bedürfnis eines anderen verspürst, gehe darauf ein, antworte mit dem, was du geben kannst und willst. Teile das, wovon du selbst lebst, dein Lebensmittel.
Führe die Ob­dachlosen in dein Haus! Gib ein Stück Heimat jenen, die draußen vor bleiben: vor den Grenzen Europas oder vor der Gemeinschaft in einem Stadtteil, einer Straße.
Bekleide den, der nichts anzuziehen hat. Nimm wahr, wo Menschen entblößt und bloßgestellt werden, und schütze sie in ihrer Scham.
Entzieh dich nicht deinem Fleisch. Kümmere dich um deine Mitmenschen, die dich brauchen.

Mitmenschlichkeit ist gefragt, Solidarität und Freigabe all jener, die du abhängig von dir hältst. Ein achtsamer Umgang mit allen, damit niemand Not leiden muss – eine ethische Forde­rung, die uralt ist, und dennoch in jedem Zeitalter immer wieder neu gestellt werden muss. Eine spezielle Art von Fasten fordert Gott: Verzicht auf Bereicherung, die zu Lasten oder auf Kosten anderer geht.

Fasten als Rücksichtnahme, anstelle rigoroser und ausschließlicher Selbstsucht. Es darf nicht sein, dass wir Menschen in reichen Ländern alles daran setzen unsere Körper per Fitnesstraining und Selbstkasteiung schön und gesund zu erhalten; andererseits gleichgültig die Ausbeutung unserer Mitmenschen ignorieren. Sei es, dass Models im perfiden Schlankheitswahn sich fast zu Tode hungern. Oder dass Menschen in armen Ländern aus Not ihre Nieren oder ihre Kinder verkaufen müssen. Wir profitieren auch von der Ausbeutung der Hilfsarbeiter in Katar, die für die Fußball-WM 2022 unter völlig unmenschlichen Bedingungen Stadien bauen.
GOTT aber gefällt ein Fasten, das ein Verzichten einübt in jene Dinge, die anderen Menschen sonst fehlen würden. Ein Fasten, das für sozialen Ausgleich sorgt und für ein gelingendes Miteinander.

Enthalt­sam sein kann man auch im weiteren Sinne: In Solidarität mit den Hungernden in der Welt, indem man Geld, das man durch Verzicht auf luxuriöse Güter spart, den Armen spendet. Oder als sym­bolhaftes Verzichten und Sich-Verweigern gegenüber dem Zwang zum Immer-mehr-haben-müssen.

Fasten bedeutet nicht nur Verzicht auf etwas! Man hat auch etwas davon. Sich einzuüben in Enthaltsamkeit erschließt gute Erfah­rungen von geistigem und leiblichen Wohlbefinden. Ich gewinne ein Mehr an Lebensqualität, wenn ich Zeit finde für einen besseren Kontakt zu meinen Mitmenschen, wenn ich über meinen eigenen Tellerrand hinausschaue und Anteil­ nehme an den Sorgen und Freuden der anderen. Ich empfinde Lebenszuwachs durch die befriedigende Er­fahrung, dass ich helfen kann, dass ich ge­braucht werde von meinen Nächsten. Ich bin zufriedener, gelassener, wenn ich unabhängig werde von dem permanenten Drang nach immer mehr.
Wenn ich mich – ab und zu – ein wenig zurücknehme, auf die Durchsetzung meines Willens oder meiner Wünsche verzichte. Dann kann ich erfahren, wie sich eine Situation entspannt, und mein Gegenüber ebenfalls locker und entspannt reagiert.
Der Verzicht auf etwas schenkt mir auch eine neue Sichtweise auf Gottes Schöpfung und Dank­barkeit für seine Gaben. Weniger zu besitzen ist auf einmal viel mehr!! Die vorher so selbstverständlich und gering geschätzten Dinge gewinnen ihre Einmaligkeit und Kostbarkeit zurück: Dass ich atmen und leben darf! Dass ich Menschen in meiner Nähe weiß, die mir lieb und wichtig sind.

„Wenn ihr einander helft, die Not des Nächsten seht und nicht achtlos daran vorübergeht“, lässt Gott den Propheten verheißen, „dann strahlt euer GLÜCK auf wie die Morgenröte und eure inneren und äußeren Wunden (vielleicht entstanden durch Unzufriedenheit, Neid und Konkurrenzverhalten) heilen schnell.
Eure guten Taten gehen euch voran; und meine Herrlichkeit folgt euch nach wie ein starker Schutz. Dann werdet ihr zu mir rufen, und ich werde euch ant­worten. Wenn ihr um Hilfe schreit, werde ich sagen: „Hier bin ich!“

Gottes Nähe lässt sich entdecken, wenn ich bereit bin, mich selbst und meine Mitmenschen gleichermaßen wichtig zu nehmen. Wenn ich bereit bin, andere Wahrheiten anzuerkennen – nicht nur meine eigenen. Auch, wenn es schmerzt. Dann kann die Maske abfallen, und ich schaue wie in einem Spiegel mein wirkliches Gesicht – ungeschminkt und unverzerrt.

GOTT lässt sich entdecken – in jedem Men­schen, der neben und mit mir lebt, in der Gemeinschaft mit allen Menschen. Auch in jenen, bei denen es mir persönlich schwer fällt. Ich habe selbst sehr viel davon, wenn mir das gelingt! Ich darf so sein, wie ich bin, und kann darüber lachen, wenn beim Fasching meine Schwächen offensichtlich werden. Oder, wenn mir jemand einen Spiegel der Wahrheit vorhält. Denn, was immer es auch Kritisches an mir zu entdecken gibt, EINER ist da, der mir liebevoll den Rücken stärkt und spricht: „Siehe, hier bin ich!“
AMEN