Predigt zu Jesaja 6, 1-13, Matthias Wolfes
6,1

„In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens, und das Haus ward voll Rauch. Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, daß deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei. Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich! Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet’s nicht; sehet und merket’s nicht! Verstocke das Herz dieses Volks und laß ihre Ohren taub sein und ihre Augen blind, daß sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen. Ich aber sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis die Städte wüst werden, ohne Einwohner, und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst daliegt. Denn der HERR wird die Menschen weit wegtun, so daß das Land sehr verlassen sein wird. Auch wenn nur der zehnte Teil darin bleibt, so wird es abermals verheert werden, doch wie bei einer Eiche und Linde, von denen beim Fällen noch ein Stumpf bleibt. Ein heiliger Same wird solcher Stumpf sein.“
Liebe Gemeinde,
in der Tat, ein gewaltiger Text! Besser wäre es, ihn mehrmals zu hören, bevor man sich überhaupt herausnimmt, dazu und darüber etwas zu sagen. Wie ein Bann liegt das „Heilig, heilig, heilig“ über ihm. Was hier gesagt wird, betrifft das Größte, Erhabendste, Unzugänglichste des Glaubens selbst, Gott in seiner Majestät, den „HERRN Zebaoth“, dessen Ehre „alle Lande voll“ sind.
Aber, wie es bei uns üblich ist, auch diesem Text wollen wir uns in ruhiger Besonnenheit nähern. Daß „die Schwellen beben und das Haus voll Rauch“ sein wird, wenn wir dem Wort Gottes nachdenken, das schätzen wir weniger.
Nun ist die Aufgabe allerdings heute etwas schwerer als sonst, und jene ruhige, nachdenkliche Besonnenheit verlangt hier wohl noch mehr Konzentration. Was sollen wir als ganz normale, protestantische, arbeitsethische Menschen damit anfangen, die wir ja doch weit davon entfernt sind, eine neue Identität annehmen zu wollen? Was wird gesagt, das für uns von Bedeutung sein könnte?
Eine Vielzahl von Besonderheiten zeichnet die Vision des Propheten Jesaja aus. Dieser Text erregt die religiöse Phantasie, er spricht das Sprachgefühl an, er weckt Erinnerungen. Aber es kommen auch Fragen auf nach Sinn und Verstand. Zahlreich sind die Punkte, über die man sich nähere Informationen beschaffen möchte oder zu denen Klärungsbedarf besteht, und lange könnte man sich mit diesen Versen beschäftigen.
Zunächst einmal will ich hervorheben, daß wir ihren Inhalt, die Vision als solche, nicht trennen können von der Art und Weise, wie sie dargestellt wird. Wir haben es bei dieser durch und durch exaltierten Gottesschau mit einem poetischen Kunstwerk zu tun. Das bedeutet: Die Bilder, derer sich Jesaja bedient – die Serafim, die glühende Kohle, die Sühnezeremonie, der Thron –, sie dienen ihm wirklich. Und auch Gott selbst läßt er ganz ausdrücklich in Bildern – die Eiche und die Linde – sprechen. Sie sollen es möglich machen, das eigentlich Unsagbare auszusagen, dasjenige in eine Form zu bringen, wofür es keine Worte gibt, und so eine Mitteilung über unmöglich Auszudrückendes doch zu erreichen. Das ist ja die Paradoxie aller religiösen Sprache und Redeweise. Das ist auch die Sonderbarkeit und das Geheimnis des Gebetes, daß wir uns an Gott wenden als wäre er ein persönliches Gegenüber, obwohl wir doch im selben Moment genau wissen können, daß alles, was wir sind und sagen, von ihm her stammt und ihm deshalb nie fremd oder auch nur unbekannt sein könnte.
Das führt uns auf eine weitere Schwierigkeit: Ist in der Gottesschau des Jesaja von Gott die Rede oder nicht eher von demjenigen, der meint, Gott zu schauen? Handelt es sich nicht letztlich doch nur um Phantasien eines sprachmächtigen und in Gottesdingen einbildungsstarken Menschen? Es ist der biblische Text selbst, der diese Überlegung hervorbringt. Unübersehbar steht allem weiteren, wie eine Überschrift, das „Ich sah“, sogar samt Datierung, voran. Jesaja jedenfalls erlebt, was er sieht; er fühlt sich mitten ins Herz getroffen, und es wird für ihn diese Stunde zum alles entscheidenden Moment. Er erfährt eine für ihn reale Begegnung mit Gott, die zum Ausgangspunkt seines ganzen Daseins als Prophet wird: „Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!“
Für uns aber erschließt sich der Sachverhalt nicht ohne weiteres. Es ist eben so, daß es unter den verschiedenen Möglichkeiten, Zugang zum biblischen Wort zu finden, auch diejenige gibt, die eher in der Distanz verharrt, die nach religionsgeschichtlichen oder auch psychologischen Anhaltspunkten fragt, um dann Motiv für Motiv sich zu erschließen. Und warum nicht? Was sollte dagegen sprechen, wenn Hörer und Leser auch beim Hören und Lesen der Heiligen Schrift sie selbst bleiben wollen? Wer sich auf diese Weise mit der Thematik beschäftigt, der wird sicherlich gerade bei der Passage aus Jesaja 6 nicht enttäuscht werden. Vieles gäbe es, wie gesagt, zu entdecken. Allein schon der Reichtum, den dieses Prophetenwort in der Kunstgeschichte hervorgebracht hat, ist der Anstrengung wert.
Worin aber liegt das Faszinierende der Szene? Es ist nicht die sprachliche und bildliche Kraft allein. Auf einer tieferen Ebene geht es um das Erlebnis selbst. Jesaja erklärt nicht und legt nicht dar. Er spricht davon, daß er den Herrn sitzen sieht „auf einem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel“. Er ist dabei. Es geschieht um ihn herum. Und auf kaum nachvollziehbare Weise gehört er selbst zum Geschehen.
Nur so kann überhaupt von Gottes Herrlichkeit gesprochen werden. Wollte man über sie wie einen feststehenden Sachverhalt referieren: „So und so ist sie beschaffen“, dann ginge es bereits um etwas ganz anderes. Gott in seiner Unendlichkeit läßt sich nicht durch die Mittel bezeichnen, die uns zu Gebote stehen. Das Sein, an dem wir mit unserem Dasein Anteil haben, bleibt gebunden an alle möglichen Einschränkungen und Bedingtheiten, die eben für Gott nicht gelten und deren Überschreitung alle Rede von Gott nun einmal nicht nachahmen, allenfalls mehr oder weniger unbeholfen abbilden kann. Denn auch die Nachahmung und Abbildung unterliegen den Beschränkungen alles menschlichen Fühlens, Denkens und Sprechens. Selten sehen wir uns diese Unzulänglichkeit des Sprechens von Gott so klar vor Augen gestellt, wie angesichts dieser Vision des Jesaja.
Bleibt uns dann aber am Ende schlicht nur, in das „Heilig, heilig, heilig“ einzustimmen, das von Engelsseite ertönt? So tun wir es ja tatsächlich, wenn bei der Feier des Abendmahles das „Sanctus“ gesungen wird, jener Gebetsgesang, der stets die Antwort der Gemeinde auf das Präfationsgebet des Geistlichen bildet und dessen Anfangsworte eben aus Jesaja 6 stammen. Ich möchte dazu dies sagen: Zu bestimmten Zeiten ist das in der Tat der richtige Weg, bisweilen auch der einzige. Nicht immer müssen wir uns mit unseren Erkenntnissen und Auslegungen hervordrängen.
  Aber es gibt dann doch auch andere Zeiten. In ihnen genügt das Einstimmen in überlieferte Wendungen nicht. Es ist dann nicht das Angemessene, und das gilt für unser Sprechen von und über Gott genauso wie bei allen anderen Themen und Gegenständen, mit denen sich unser Geist beschäftigt.
Die andere Möglichkeit wäre nun nicht etwa, den vermessenen Versuch zu unternehmen, unmittelbar über Gott zu sprechen. Vielmehr steht es uns offen, etwas von dem auszusagen, was uns aus der Begegnung mit ihm bewegt, was uns beflügelt und ermutigt – hier und da auch beunruhigt, wenn wir also von unseren Erfahrungen mit Gott Zeugnis geben. Das aber führt dann weiter darauf, daß von vornherein alle mythische oder auch pantheistische Rede unzulänglich bleiben muß. Jede Begegnung mit Gott, von der sich irgendwie Zeugnis geben läßt, ist ein persönliches Geschehen. Sie findet nur statt, sofern sie sowohl Bedeutung hat für mich wie auch für Gott. Denn einem Gott, dem die Begegnung mit mir nicht bedeutsam wäre, könnte ich nicht begegnen. Das ist doch leicht einzusehen.
Damit haben wir auch einen Ansatzpunkt, um die Vision und Beauftragungserfahrung des Jesaja wenigstens von einer Seite her zu verstehen. Die Umstände im einzelnen und die Schreckensbilder, die sich ihm hier offenbaren, sollen uns dabei nicht weiter beschäftigen. Was uns angeht, ist dies: Die Erfahrung Gottes ist verknüpft mit einer Forderung. Jesaja wird berufen, dem göttlichen Auftrag zu folgen. Er soll sein Leben in den Dienst der Aufgabe stellen, die ihm jetzt von Gott zugeteilt worden ist, und dies geschieht im Ton unbedingter Forderung. Es scheint mir von wesentlicher Bedeutung zu sein, daß Jesaja sich dieser Forderung Gottes nicht widersetzt – und zwar nicht einmal auch nur ansatzweise, kein Zögern und Zagen, kein Hinweis auf Hindernisse und Unmöglichkeiten. Vielmehr bietet er sich selbst als sein Werkzeug dar: „Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!“ Mit seiner ganzen Existenz stellt Jesaja sich in den prophetischen Dienst.
Die Erfahrung des Jesaja mit Gott besteht zwar in einer Überwältigung. Insofern ist hier von einer Wahrheit die Rede, die sich in unser Welt- und Selbstbild nur schwer fügt. Welcher Realitätsgehalt ihr entspricht, und was wir aus ihr, jenseits der psychotherapeutischen Perspektive, für die Deutung unseres eigenen geistlichen Weges entnehmen können, wird für Viele fraglich bleiben. Mit Gott verhält es sich wie mit der Wahrheit auch: Sie erscheint nicht unmittelbar, wir müssen ihn (sagt Goethe in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“) „aus seinen Manifestationen erraten“.
Aber zugleich läßt sich auch erkennen, daß wir uns nicht zu scheuen brauchen, solche Erfahrungen tatsächlich mit dem Wirken Gottes in Verbindung zu bringen. Dazu gehört in einer gottfremden Umwelt schon einiger Mut, und es ist gewiß so, daß man immer wieder diesen Mut nicht aufbringt. Von einer Forderung an uns ist hier in dem Sinne die Rede, daß wir uns mit unserem geistlichen Leben nicht verstecken.
Wir sind uns der Nähe Gottes bewußt und ihrer sicher. Davon können wir Zeugnis geben, und das ist unser Auftrag. Mit ihm sollen wir in die Welt gehen, nicht als aufdringliche Missionare und penetrante Heilsbeglücker. Sondern als solche Boten Gottes, die ernstgenommen werden können, deren Wort etwas gilt, die auch mit ihrem Verhalten in allen anderen Dingen, ihrem ganzen Tun und Lassen das Zeugnis von Gott nicht unglaubwürdig machen, weil ihr Leben mit ihrem Glauben in Einklang steht.
  Liebe Gemeinde, für mich ist es dies, was mir aus der Prophetenberufung des Jesaja heute wichtig ist. Es geht nicht um ein Nachahmen des Dramatischen in der Begegnung mit Gott; es geht nicht um Überwältigtwerden durch das Bild eines übermächtigen Gottes, das bei uns dann ein Gefühl der Ohnmacht und unwürdigen Kläglichkeit erzeugt und uns in Schrecken und Finsternis führt. Schrecken und Finsternis sind nicht der Sinn des Glaubens an Gott.
Statt im Angesicht eines Gottesbildes, dessen Herrlichkeit kein Mensch ertragen könnte, bewegen wir uns im Bereich der Erfahrung, und so wie der Prophet von seiner Vision sprechen wir von dieser Erfahrung. Das ist der Ort, an dem wir glaubwürdig sind und glaubwürdige Boten und Zeugen Gottes sein können. Lassen Sie uns diese eindrucksvolle Erzählung von der Berufung eines der größten Gotteskünder aller Zeiten ganz einfach und schlicht zum Ausgangspunkt nehmen für einen neuen Anlauf, nämlich: unserer Erfahrung von der Liebe Gottes Worte zu verleihen.
Amen.
Verwendete Literatur:
  Johann Wolfgang Goethe: Aus Makariens Archiv, in: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Band 8. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz, Hamburg 1950.

Perikope
19.06.2013
6,1