Predigt zu Jesaja 62, 6-7.10-12 von Jennifer Wasmuth
62,6
Liebe Gemeinde,
heute ist Reformationstag – wie feiern den Beginn der Reformation. Gibt es überhaupt aber einen Grund zum Feiern?
Mit dem heutigen Tag stehen wir in einer erstaunlich langen Tradition: Schon seit dem Jahre 1617 gibt es ein Reformationsfest am 31. Oktober! Die Schwerpunkte der Reformationsfeste haben sich im Laufe der Jahrhunderte allerdings stark verschoben, das jeweilige Erinnern war erkennbar von den historischen Umständen bestimmt. Was lässt uns heute an dieser Tradition festhalten? Was lässt uns diesen Tag heute feiern?
Angesichts des bevorstehenden Reformationsjubiläums 2017 sind dies Fragen, die z.Zt. ja intensiv diskutiert werden – in Wissenschaft, Kirche und Politik. Man mag positiv in der Vielstimmigkeit ihrer Beantwortung den Gewinn an Freiheit erblicken, den unsere Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts auszeichnet: eine Einmütigkeit darin, was eigentlich zu feiern – oder auch nur wessen zu gedenken – ist, zeichnet sich in jedem Fall nicht ab.
Strittig ist in den Diskussionen insbesondere die Frage, welche Bedeutung der Reformation für die Gegenwart zukommt – ob sich wesentliche Errungenschaften der Moderne im Kern auf die Reformation zurückführen lassen und es deshalb vor allem darum geht, die verbindenden Linien zwischen der damaligen und unserer Epoche aufzuzeigen; oder ob nicht im Gegenteil ein »garstiger« historischer Graben die Moderne von der Reformation trennt und es deshalb zunächst einmal darauf ankommt, die bisweilen geradezu verstörende Fremdheit der Gedanken- und Lebenswelt des reformatorischen Zeitalters vor Augen zu führen.
Von diesen oft hitzig geführten Diskussionen – es geht schließlich um Fragen der Identität des Protestantismus – führt uns der für den heutigen Tag vorgeschlagene Predigttext weit weg – in eine noch einmal völlig andere Zeit, irgendwann in das 6. bis 5. Jahrhundert vor Christus. Es handelt sich um Verse aus einem der letzten Kapitel des Jesaja-Buches, Kapitel, in denen eine heilvolle Endzeit verheißen wird.
Jesaja 62,6-7.10-12
6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen,
7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
11 Siehe, der Herr lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!
12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des Herrn«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.
Liebe Gemeinde, welche Gründe mögen es wohl gewesen sein, die zur Auswahl gerade dieser Verse als Predigttext für den Reformationstag geführt haben? Ich selbst kann tatsächlich viel mit den Versen anfangen, denn ich erkenne darin zentrale Anliegen der Reformatoren wieder. Die Reformatoren wollten doch eben dies: Wächter sein, Wächter, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen, weil sie die Stadt Gottes – seine Kirche – bedroht sehen; die sich aufgerufen fühlten, dem Volk den Weg zum Heil zu zeigen, die Steine aus dem Weg zu räumen, die ein Hindernis für Gottes Gemeinschaft mit den Menschen sind. Und ihre Botschaft war genau diese: »Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!«
Aus der Reformationszeit ist uns eine Druckgraphik überliefert, die diese Anliegen in der der Bildsprache eigenen Prägnanz zum Ausdruck bringt: In der Mitte des Bildes ist ein Altar zu sehen; auf dem Altar findet sich eine aufgeschlagene Bibel, auf der die Worte zu lesen sind: »Verbum Domini manet in aeternum« - »Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit.« Hinter der Bibel steht ein Altarkruzifix, rechts davon Melanchthon, der die Bibel mit einer Hand hält, links davon Luther, der mit einer Hand ebenfalls die Bibel hält, mit dem Zeigefinger der rechten Hand jedoch auf Christus verweist. Oberhalb des Kreuzes ist eine Taube dargestellt, darüber der Eigenname des Gottes Israel, das Tetragramm JHWH, von dem helle Lichtstrahlen auf den Altartisch heruntergehen. Die Reformatoren wollten Wächter sein – ihr ganzes Tun sahen sie im Lichte dieses Gottes, der sich für sie in dem gekreuzigten Christus erschloss, von dem die Bibel zeugt.
Für viele im 16. Jahrhundert war die Botschaft der Reformatoren offenbar überzeugend – so überzeugend, dass Luther schon bald nicht nur als gottbegnadeter Lehrer und Prediger, sondern auch als Prophet gesehen wurde. Selbst Wittenberg erhielt eine besondere Auszeichnung; sie galt als die neue Stadt Gottes, als neuer Zion.
Wie aber sieht es mit uns? Haben für uns die Reformatoren eine ähnliche Überzeugungskraft?
Meine eigene Erfahrung ist: Es gibt Schriften der Reformatoren, in denen derart problematische Aussagen formuliert werden, dass man sich abwenden und am liebsten nichts mehr damit zu tun haben möchte; bekannt sind Luthers Äußerungen zum Judentum, weniger bekannt die Äußerungen Melanchthons, mit denen er die Todesstrafe für einen seiner theologischen Hauptgegner, den Spanier Michael Servet, uneingeschränkt befürwortet hat. Es gibt Schriften, die bereiten allein aus stilistischen Gründen erhebliche Mühe, entweder weil sie von übermäßiger Polemik getränkt sind oder aber das immer Gleiche wiederholen. Dann aber gibt es auch Schriften, da reibt man sich die Augen, da fühlt man sich unmittelbar angesprochen – als wüssten die Reformatoren von den eigenen existentiellen Ängsten und Nöten, von den Zweifeln, die uns auch jetzt umtreiben, von der Sehnsucht nach einem Gott, der oft so ungreifbar, so fern scheint. Und dann begegnet dieser Fingerzeig, wie er auf der Druckgraphik zu sehen ist: ohne das Dunkle, die Finsternis um und in uns auszuklammern, nehmen diese Schriften mit und erschließen wieder neu, was der Gekreuzigte für uns bedeuten kann – inwiefern in ihm unser Heil begründet liegt, unsere Freiheit von der Sorge um uns selbst, unsere Freiheit für die Übernahme von Verantwortung. Und so können diese Schriften uns neu aus- und damit auch aufzurichten, sie bewirken, dass unser Herz wieder, wie Luther in der »Freiheit eines Christenmenschen« schreibt, »von Grund auf fröhlich wird«.
Luthers Vorrede zur Ausgabe seiner lateinischen Werke mag man in biographischer Hinsicht zu Recht anfragen, zugleich bietet sie aber anderes und mehr: Zunächst nimmt sie die Leser mit hinein in die Situation der Anfechtung:
»[…] ich liebte nicht, ja ich hasste diesen gerechten Gott, der Sünder straft; wenn nicht mit ausgesprochener Blasphemie, so doch gewiss mit einem ungeheuren Murren war ich empört gegen Gott […]«.
Bis heute lässt die Vorrede die Verzweiflung spürbar werden, die Luther angesichts des Verses Röm 1,17 gepackt hat, geradezu den Wahn, der ihn besessen hat:
»So raste ich in meinem wütenden, durch und durch verwirrten Gewissen und klopfte rücksichtslos bei Paulus an dieser Stelle an, mit heißem Durst zu wissen, was Sankt Paulus damit sagen will.«
Am Ende aber wird ein Ausweg gezeigt, eine Lösung aus der quälenden seelischen Not:
»Da habe ich angefangen, die Gerechtigkeit Gottes als die zu begreifen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus Glauben. […] Nun fühlte ich mich ganz und gar neugeboren und durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten.«
Auch Schriften von Melanchthon ist diese Grundbewegung eigen: auf das hinzulenken, was Sinn und Ziel christlicher Existenz ist. Bei ihm geschieht das auf gänzlich unerwartete Weise, denn Melanchthon, der große Lehrer, ist zugleich auch ein großer Beter. Was er in seinem frühen Hauptwerk, den »Loci communes« von 1521, formuliert hatte, dass die Geheimnisse der Gottheit lieber angebetet als erforscht werden sollten, wird so in seinen späteren akademischen Schriften wie auch Vorlesungen Programm: Immer wieder fügt Melanchthon in abstrakt theologische Gedankenführungen Gebete ein und lässt auf diese Weise keinen Zweifel daran, was allein Antrieb christlicher Existenz sein kann:
»O allmächtiger, weiser, wahrhaftiger, gerechter und gnädiger Gott, ewiger und einziger Vater unseres Heilandes Jesu Christi […] Ich bitte dich von Herzen: Erbarm dich meiner und vergib mir alle meine Sünden und sei mir gnädig ewiglich um deines lieben Sohnes willen, Jesu Christi, […] erleuchte meine Seele und mein Herz, mache mich heilig und regiere mich mit deinem Heiligen Geist und erhalte dir eine Kirche in diesem Volk und ein seliges Regiment, dass wir deine große Gnade ewiglich preisen. Amen.«
Liebe Gemeinde, wenn wir heute den Reformationstag feiern, dann um dieser Bewegung willen, in die die Reformatoren uns mit hineinzunehmen vermögen: weg von uns selbst hin zum Lobpreis Gottes; wenn wir heute den Reformationstag feiern, dann weil die Reformatoren – nach ihrem jeweiligen Vermögen – ihr Wächteramt wahrgenommen, den Weg bereitet und Steine hinweg geräumt haben, sodass die Botschaft hörbar wird: »Siehe, dein Heil kommt!«, und wir gestärkt werden mit der Zuversicht, dass auch für uns gilt: »Man wird sie nennen ›Heiliges Volk‹, ›Erlöste des Herrn‹, ›Gesuchte‹ und ›Nicht mehr verlassene Stadt‹«.
Amen
heute ist Reformationstag – wie feiern den Beginn der Reformation. Gibt es überhaupt aber einen Grund zum Feiern?
Mit dem heutigen Tag stehen wir in einer erstaunlich langen Tradition: Schon seit dem Jahre 1617 gibt es ein Reformationsfest am 31. Oktober! Die Schwerpunkte der Reformationsfeste haben sich im Laufe der Jahrhunderte allerdings stark verschoben, das jeweilige Erinnern war erkennbar von den historischen Umständen bestimmt. Was lässt uns heute an dieser Tradition festhalten? Was lässt uns diesen Tag heute feiern?
Angesichts des bevorstehenden Reformationsjubiläums 2017 sind dies Fragen, die z.Zt. ja intensiv diskutiert werden – in Wissenschaft, Kirche und Politik. Man mag positiv in der Vielstimmigkeit ihrer Beantwortung den Gewinn an Freiheit erblicken, den unsere Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts auszeichnet: eine Einmütigkeit darin, was eigentlich zu feiern – oder auch nur wessen zu gedenken – ist, zeichnet sich in jedem Fall nicht ab.
Strittig ist in den Diskussionen insbesondere die Frage, welche Bedeutung der Reformation für die Gegenwart zukommt – ob sich wesentliche Errungenschaften der Moderne im Kern auf die Reformation zurückführen lassen und es deshalb vor allem darum geht, die verbindenden Linien zwischen der damaligen und unserer Epoche aufzuzeigen; oder ob nicht im Gegenteil ein »garstiger« historischer Graben die Moderne von der Reformation trennt und es deshalb zunächst einmal darauf ankommt, die bisweilen geradezu verstörende Fremdheit der Gedanken- und Lebenswelt des reformatorischen Zeitalters vor Augen zu führen.
Von diesen oft hitzig geführten Diskussionen – es geht schließlich um Fragen der Identität des Protestantismus – führt uns der für den heutigen Tag vorgeschlagene Predigttext weit weg – in eine noch einmal völlig andere Zeit, irgendwann in das 6. bis 5. Jahrhundert vor Christus. Es handelt sich um Verse aus einem der letzten Kapitel des Jesaja-Buches, Kapitel, in denen eine heilvolle Endzeit verheißen wird.
Jesaja 62,6-7.10-12
6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen,
7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
11 Siehe, der Herr lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!
12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des Herrn«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.
Liebe Gemeinde, welche Gründe mögen es wohl gewesen sein, die zur Auswahl gerade dieser Verse als Predigttext für den Reformationstag geführt haben? Ich selbst kann tatsächlich viel mit den Versen anfangen, denn ich erkenne darin zentrale Anliegen der Reformatoren wieder. Die Reformatoren wollten doch eben dies: Wächter sein, Wächter, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen, weil sie die Stadt Gottes – seine Kirche – bedroht sehen; die sich aufgerufen fühlten, dem Volk den Weg zum Heil zu zeigen, die Steine aus dem Weg zu räumen, die ein Hindernis für Gottes Gemeinschaft mit den Menschen sind. Und ihre Botschaft war genau diese: »Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!«
Aus der Reformationszeit ist uns eine Druckgraphik überliefert, die diese Anliegen in der der Bildsprache eigenen Prägnanz zum Ausdruck bringt: In der Mitte des Bildes ist ein Altar zu sehen; auf dem Altar findet sich eine aufgeschlagene Bibel, auf der die Worte zu lesen sind: »Verbum Domini manet in aeternum« - »Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit.« Hinter der Bibel steht ein Altarkruzifix, rechts davon Melanchthon, der die Bibel mit einer Hand hält, links davon Luther, der mit einer Hand ebenfalls die Bibel hält, mit dem Zeigefinger der rechten Hand jedoch auf Christus verweist. Oberhalb des Kreuzes ist eine Taube dargestellt, darüber der Eigenname des Gottes Israel, das Tetragramm JHWH, von dem helle Lichtstrahlen auf den Altartisch heruntergehen. Die Reformatoren wollten Wächter sein – ihr ganzes Tun sahen sie im Lichte dieses Gottes, der sich für sie in dem gekreuzigten Christus erschloss, von dem die Bibel zeugt.
Für viele im 16. Jahrhundert war die Botschaft der Reformatoren offenbar überzeugend – so überzeugend, dass Luther schon bald nicht nur als gottbegnadeter Lehrer und Prediger, sondern auch als Prophet gesehen wurde. Selbst Wittenberg erhielt eine besondere Auszeichnung; sie galt als die neue Stadt Gottes, als neuer Zion.
Wie aber sieht es mit uns? Haben für uns die Reformatoren eine ähnliche Überzeugungskraft?
Meine eigene Erfahrung ist: Es gibt Schriften der Reformatoren, in denen derart problematische Aussagen formuliert werden, dass man sich abwenden und am liebsten nichts mehr damit zu tun haben möchte; bekannt sind Luthers Äußerungen zum Judentum, weniger bekannt die Äußerungen Melanchthons, mit denen er die Todesstrafe für einen seiner theologischen Hauptgegner, den Spanier Michael Servet, uneingeschränkt befürwortet hat. Es gibt Schriften, die bereiten allein aus stilistischen Gründen erhebliche Mühe, entweder weil sie von übermäßiger Polemik getränkt sind oder aber das immer Gleiche wiederholen. Dann aber gibt es auch Schriften, da reibt man sich die Augen, da fühlt man sich unmittelbar angesprochen – als wüssten die Reformatoren von den eigenen existentiellen Ängsten und Nöten, von den Zweifeln, die uns auch jetzt umtreiben, von der Sehnsucht nach einem Gott, der oft so ungreifbar, so fern scheint. Und dann begegnet dieser Fingerzeig, wie er auf der Druckgraphik zu sehen ist: ohne das Dunkle, die Finsternis um und in uns auszuklammern, nehmen diese Schriften mit und erschließen wieder neu, was der Gekreuzigte für uns bedeuten kann – inwiefern in ihm unser Heil begründet liegt, unsere Freiheit von der Sorge um uns selbst, unsere Freiheit für die Übernahme von Verantwortung. Und so können diese Schriften uns neu aus- und damit auch aufzurichten, sie bewirken, dass unser Herz wieder, wie Luther in der »Freiheit eines Christenmenschen« schreibt, »von Grund auf fröhlich wird«.
Luthers Vorrede zur Ausgabe seiner lateinischen Werke mag man in biographischer Hinsicht zu Recht anfragen, zugleich bietet sie aber anderes und mehr: Zunächst nimmt sie die Leser mit hinein in die Situation der Anfechtung:
»[…] ich liebte nicht, ja ich hasste diesen gerechten Gott, der Sünder straft; wenn nicht mit ausgesprochener Blasphemie, so doch gewiss mit einem ungeheuren Murren war ich empört gegen Gott […]«.
Bis heute lässt die Vorrede die Verzweiflung spürbar werden, die Luther angesichts des Verses Röm 1,17 gepackt hat, geradezu den Wahn, der ihn besessen hat:
»So raste ich in meinem wütenden, durch und durch verwirrten Gewissen und klopfte rücksichtslos bei Paulus an dieser Stelle an, mit heißem Durst zu wissen, was Sankt Paulus damit sagen will.«
Am Ende aber wird ein Ausweg gezeigt, eine Lösung aus der quälenden seelischen Not:
»Da habe ich angefangen, die Gerechtigkeit Gottes als die zu begreifen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus Glauben. […] Nun fühlte ich mich ganz und gar neugeboren und durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten.«
Auch Schriften von Melanchthon ist diese Grundbewegung eigen: auf das hinzulenken, was Sinn und Ziel christlicher Existenz ist. Bei ihm geschieht das auf gänzlich unerwartete Weise, denn Melanchthon, der große Lehrer, ist zugleich auch ein großer Beter. Was er in seinem frühen Hauptwerk, den »Loci communes« von 1521, formuliert hatte, dass die Geheimnisse der Gottheit lieber angebetet als erforscht werden sollten, wird so in seinen späteren akademischen Schriften wie auch Vorlesungen Programm: Immer wieder fügt Melanchthon in abstrakt theologische Gedankenführungen Gebete ein und lässt auf diese Weise keinen Zweifel daran, was allein Antrieb christlicher Existenz sein kann:
»O allmächtiger, weiser, wahrhaftiger, gerechter und gnädiger Gott, ewiger und einziger Vater unseres Heilandes Jesu Christi […] Ich bitte dich von Herzen: Erbarm dich meiner und vergib mir alle meine Sünden und sei mir gnädig ewiglich um deines lieben Sohnes willen, Jesu Christi, […] erleuchte meine Seele und mein Herz, mache mich heilig und regiere mich mit deinem Heiligen Geist und erhalte dir eine Kirche in diesem Volk und ein seliges Regiment, dass wir deine große Gnade ewiglich preisen. Amen.«
Liebe Gemeinde, wenn wir heute den Reformationstag feiern, dann um dieser Bewegung willen, in die die Reformatoren uns mit hineinzunehmen vermögen: weg von uns selbst hin zum Lobpreis Gottes; wenn wir heute den Reformationstag feiern, dann weil die Reformatoren – nach ihrem jeweiligen Vermögen – ihr Wächteramt wahrgenommen, den Weg bereitet und Steine hinweg geräumt haben, sodass die Botschaft hörbar wird: »Siehe, dein Heil kommt!«, und wir gestärkt werden mit der Zuversicht, dass auch für uns gilt: »Man wird sie nennen ›Heiliges Volk‹, ›Erlöste des Herrn‹, ›Gesuchte‹ und ›Nicht mehr verlassene Stadt‹«.
Amen
Perikope