Predigt zu Jesaja 62, 6-7.10-12 von Wolfgang Vögele
62,6
Der Predigttext für den Reformationstag steht Jes 62,6-7.10-12:
"O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«."
Liebe Schwestern und Brüder,
wer jubeln, wer eine heilige Stadt und festen Glauben bauen will, der muß wach und ausgeschlafen sein. Nur der aber, der sich sicher und geborgen fühlt, wird ohne Ängste einschlafen. Sorgen und Bedenken schaffen Unruhe und hindern den vom Tage ermüdeten Menschen am Schlaf.
Wer also in Ruhe einschlafen will, schaut nach, ob die Haustür geschlossen und das Fenster höchstens schräg gestellt ist. Wer einschlafen will, braucht Sicherheit und Geborgenheit. Beides gewährleisten die geschlossene Tür und  das Telefon, das für Notfälle bereitsteht. An die Stelle von Nacht-, Tor- und Turmwächtern ist in elektrifizierten und digitalen Gegenwart der Notruf getreten: Eins. Eins. Null. Bei verdächtigen Geräuschen am Fenster, bei plötzlichen Herzschmerzen oder bei einem Wasserrohrbruch wählen die Betroffenen die Notrufnummer. Je nach Bedarf klingeln zehn Minuten später Feuerwehr, Polizei oder Sanitäter und Notärzte.
Nachtwächter, die aufmerksam in den Straßen herumgehen, halten heute eher abendliche Führungen für Touristen ab. Ihre alte Aufgabe, im Ernstfall die Schläfer zu wecken und zu warnen, haben sie verloren. Diese Zuständigkeit hat sich zugunsten der Notfallbereitschaft verändert.
Nach Jesaja spricht Gott: Für die Stadt Jerusalem habe ich Wächter bestellt. Sie sollen auf den Mauern stehen, die noch nicht wieder fertiggestellt sind. Im Notfall sollen sie warnen, vor unkontrolliertem Feuer, vor dem Angriff feindlicher Fußtruppen, vor wilden Tieren und anziehenden Gewittern. Wächter müssen aufmerksam sein, wenn die anderen schlafen.
Aber auch die aufmerksamen Wächter überwältigt gelegentlich Müdigkeit. Darum sagt Gott: Die Wächter sollen die ganze Nacht und den ganzen Tag nicht schweigen. Sie sollen reden, rufen, singen. Wer singt, kann nicht schlafen. Deswegen kennen wir wunderschöne Lieder der Nachtwache. Das Volkslied sagt die Uhrzeit an: "Hört ihr Leut und laßt euch sagen, unsre Uhr hat Zwölf geschlagen." Der Choral erinnert an diesen Predigttext: "Wachet auf, ruft uns die Stimme. Wach auf, du Stadt Jerusalem." Und Johannes Brahms vermischt Zärtlichkeit und Sorge bei der Anrufung der Engel: "Ruhn Sie? rufet das Horn des Wächters drüben aus Westen, und aus Osten das Horn rufet entgegen: Sie ruhn. Hörst du, zagendes Herz, die flüsternden Stimmen der Engel? Lösche die Lampe getrost, hülle in Frieden dich ein!"
Reden und Singen hilft gegen das Einschlafen. Und wer die wachenden Sänger hört, der kann sich gewiß sein: Die, die auf der Mauer stehen, passen auch auf. Im Not- und Ernstfall schützen und warnen sie uns.
Liebe Gemeinde, jeder Mensch wird irgendwann müde, die meisten einmal am Tag. Der müde, schutzbedürftige Schläfer braucht andere Menschen, die auf ihn achten. Leben entwickelt sich nicht von selbst. Es braucht Aufmerksamkeit, um Gefahren zu begegnen, Risiken zu vermeiden und Torheiten auszuweichen. Die Bürger Jerusalems sahen die Wächter auf den Mauergängen. Heute reicht es zu wissen, wo im Ernstfall die Telefonnummer der Polizei oder der Feuerwache notiert ist.
Nun singen die Wächter auf den Jerusalemer Mauern nicht nur, um wach zu bleiben und die auf der Matte dösenden Schläfer zu beruhigen. Sie singen auch, so sagt es Jesaja, um Gott zu wecken. Sie erinnern den Gott des Zornes an die Verheißungen seiner Gnade. Menschen sind Gefährdungen ausgesetzt, gleich ob sie schlafen oder wach sind. Neben Kriege, Krankheiten und Naturkatastrophen treten auch der Zweifel des Menschen und der Zorn Gottes. Israel erlebte beides, Glaubenszweifel und Gottferne: die Zerstörung Jerusalems und den Abtransport der Bevölkerung ins babylonische Exil. Es folgen Jahrzehnte der Zwangsarbeit und des Heimwehs, der Sehnsucht nach der zerstörten Heimat.
Wächter passen auf, sie sind wachsam und schützen vor Anschlägen. Dazu kommt eine weitere, neue Aufgabe: Erinnerung. Die Wächter erinnern Gott daran, daß er Jerusalem, seine Stadt und seinen Tempel wieder aufbaut. Aufgeweckt aus dem Schlaf des Exils, wollen die Bürger wieder zum Lobe Gottes jubeln. Die Wächter machen Lärm, um dem Gedächtnis Gottes aufzuhelfen.
Jesaja hält seinen Bürgern dabei weniger die wirkliche Stadt vor Augen als vielmehr ein wunderbares, visionäres Bild für eine geschützte, in Zufriedenheit lebende Gemeinschaft von Menschen. Sie wappnen sich gegen Gefahren und leben friedlich mit ihren Nachbarn zusammen.
Im Bild der Gottesstadt Jerusalem kommen Gegenwart und Zukunft, Elend und Hoffnung zusammen. In Jerusalem nähern sich der barmherzige Gott und die unzuverlässigen Menschen einander an. Niemand hat Gott je gesehen, so sagt es die Bibel. Aber in Jerusalem spüren die Glaubenden seine Gegenwart. Jerusalem ist die Stadt des Zionsberges und des Friedens aller Völker, der Ort, wo Löwe und Lamm zusammenleben und wo Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet werden. Jerusalem – das ist der Berg und die Burg Zion, zu der alle Völker zusammenkommen, um dem Schöpfer der Welt zu huldigen. Jerusalem ist die leuchtende Stadt auf dem Berge, die zum unverbrüchlichen Zeichen für die Gemeinschaft von Gott und Menschen wird. 
Aber die triste Gegenwart von Jerusalem, in die Jesaja hineinspricht, zeigt vor allem anderen Unmengen von Trümmern, Asche und Schutt. „Räumt die Steine hinweg!“ Eroberung, Raub und Zerstörung haben ihre bedrückenden Spuren hinterlassen. Die Niederlage des Volkes Israels ist in jeder Gasse und Hütte noch mit Händen zu greifen. „Räumt die Steine hinweg!“ Gott läßt sich auf den Wiederaufbau der Stadt ein. Dort, wo noch Trümmer und Schutt liegen, kann nichts Neues gebaut werden. Trümmer, Asche und Schutt behindern den Neuaufbau. Die Vergangenheit verhindert gegenwärtiges und neues Leben. „Räumt die Steine hinweg!“ Wer Neues gestalten will, muß mit der Vergangenheit abgeschlossen haben. Manchmal raten Architekten dazu, baufällige Häuser nicht mehr zu renovieren, sondern vollständig abzureißen und neu zu bauen. In Jerusalem haben Trümmerfrauen und –männer angefangen, den Schutt der vergangenen Niederlage zu beseitigen. „Räumt die Steine hinweg!“ Das ist nicht nur eine Arbeitsanweisung, es ist auch göttliche Verheißung. Altes vergeht, Neues entsteht. Und wer neu baut, der stiftet auch neue Verhältnisse der Gemeinschaft.
Aus diesen starken, auf Zukunft gerichteten Worten gewinnt die Vision des Jesaja ihre architektonische, soziale und menschliche Sprengkraft. Denn auch die glaubenden Menschen, die  sich neu für Gott öffnen wollen, müssen vorher den Schutt der Vergangenheit beiseite räumen. Auf den seelischen Trümmern vergangenen Lebens lassen sich weder Glaube noch Hoffnung neu bauen. Und auch wenn es nicht nur Trümmer sind, die Vergangenheit seines Lebens kann einen Menschen bis zur Handlungsunfähigkeit einengen und seine Lebensspielräume verkleinern. Das habe ich schon immer so gemacht, und das war noch nie anders. Wo kämen wir denn da hin! So reden Menschen, die sich nicht mehr verändern können.
Glaube bezieht sich gleichermaßen auf die Zukunft und die Vergangenheit. In Richtung der Vergangenheit zieht Glauben die Überzeugung nach sich: Keine Vergangenheit kann so schlimm sein, daß sie einen Menschen hindert, sich Gott anzuvertrauen. Fröhlichen Herzens und mit aller Kraft seiner Seele kann jeder den Schutt seiner vergangenen Niederlagen beiseite räumen. Gott sieht die Vergangenheit, und er verurteilt Fehler, Versäumnisse und Sünden. Aber er begnadigt den Sünder. Er ermöglicht ihm immer wieder einen Neuanfang.
Der Glaube, der in die Vergangenheit blickt, räumt allen Schutt weg, weil der Schutt begrenzt und einengt. Trümmer verhindern, daß Neues entsteht. Der Glaube, der in die Zukunft blickt, läßt sich auf den ebenso unsichtbaren wie barmherzigen Gott ein. Gott hilft dem Glaubenden, sich zu verwandeln. Neues entsteht. Glaube entsteht der Verheißung Gottes, der sich mit den Verhältnissen der Gegenwart nicht abfinden will. Dieser Glaube ist einem Samenkorn zu vergleichen. Er ist kein Schatz, den der einzelne eifersüchtig in seinem Herz hüten muß, damit andere nicht erhalten, was ich mir selbst so mühsam erworben habe.
Glaube wächst nur, wenn er mit anderen geteilt wird. Darum jubelt der Prophet Jesaja über die Stadt Jerusalem, über eine Gemeinschaft von glaubenden Menschen, über Tempel, Burg und Berg zur Ehre Gottes, über ein Netz von Beziehungen, über einen lebendigen Organismus, zu dem jeder sein Teil beiträgt. „Siehe, dein Heil kommt.“
Glaube stellt Beziehungen her. Und Glaube schafft Neues. Beides gehört zusammen. Glaube stiftet eine Beziehung zu Gott. Ja, man kann so weit gehen zu sagen: Glaube erinnert Gott an seine Verheißungen für die Menschen, für das Volk Israel zuerst und dann für alle anderen, die glauben. Glaube ist Wachsamkeit für Verheißungen, Zusagen und Segen Gottes. Glaube verläßt sich auf Gottes Verheißungen. Er stiftet Beziehungen zu anderen Menschen, zu denjenigen, die auch glauben, zu denjenigen, die zweifeln und auch zu denjenigen, die das Glauben ablehnen. Glauben und Reden über den Glauben gehören zusammen. Beides zusammengenommen stiftet eine Gemeinschaft von Menschen, die sich oft nicht kennen, die aber dennoch die Überzeugung teilen, daß Gott zu seinen Verheißungen steht. „Siehe, dein Heil kommt.“
Liebe Gemeinde, wir feiern heute den Gedenktag der Reformation. Der Prophet Jesaja und der Reformator Martin Luther haben eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Jesaja wurde geprägt von der verheerenden Niederlage des Volkes Israel gegen die übermächtigen Babylonier. Er sah diese Niederlage als einen Ausdruck des Zornes Gottes. Trotzdem hielt er an der Hoffnung fest, daß Gott zu seinen Verheißungen steht. Die zerstörte Gottesstadt wird wieder aufgebaut, nachdem die Trümmer beiseite geschafft worden sind. Martin Luther sah den verheerenden Zustand der Kirche seiner Zeit: die überzogenen Machtansprüche des Papstes und der römischen Kurie, die Frömmigkeit, die sich Gnade gegen Geld erkaufen wollten, die geistliche Enge, die keine Glaubensfreiheit zulassen wollte. Auch Martin Luther hielt an der Hoffnung fest, daß Gott letztendlich gnädig ist. Und er war überzeugt, daß die Kirche sich den Verheißungen Gottes nicht in den Weg stellen darf, um ihre eigenen kleinlichen klerikalen Interessen zu verfolgen.
Liebe Gemeinde, wir lernen von Jesaja: Glauben ist eine Medizin mit sehnsüchtig erwarteten Wirkungen und Nebenwirkungen. Er weckt auf, er macht aufmerksam für die Verheißungen Gottes, er räumt den Schutt der Vergangenheit weg, er lehrt den Blick auf Gott und auf die Mitmenschen, er beseitigt den Zweifel. Und nicht einmal um die Nebenwirkungen muß man sich Sorgen machen. Steht jedenfalls auf der Packungsbeilage des wachsamen Jesaja. Amen.
Perikope
31.10.2013
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