Predigt zu Jesaja 63,15-64,3 von Matthias Petersen
63,15
liebe schwestern und brüder
  
  es ist advent geworden
  endlich
  von den kaufleuten seit mitte oktober herbeidekoriert
  von den weihnachtsmarktbetreibern und glühweinverkäufern
  schon lange
  fieberhaft erwartet
  von den kindern ersehnt
  von den einsamen gefürchtet
  tannenduft und kerzenschein
  lebkuchen und stille-nacht-gedudel
  süßer die kassen nie klingen
  weihnachtliche vorfreude und
  gleichermaßen
  weihnachtlicher vorbereitungsstress
  
  da enttäuscht die
  biblische
  botschaft des advent doch ein wenig
  die ernüchternde erinnerung
  advent hat mit all dem nichts zu tun
  advent ist bußzeit
  nicht anders als die vierzig tage vor ostern
  vier wochen lang buß- und bettag
  innere einkehr
  vorbereitung
  neubesinnung
  offene augen für das elend der welt
  und
  gleichermaßen
  für die abgründe der eigenen seele
  
  auch im advent schmücken
  wie in der passionszeit
  violette paramente unsere kirchen
  violett
  die farbe der buße
  
  unsere alten adventslieder erinnern uns noch daran
  an diese zusammenhänge
  an selbstbesinnung und neuanfang:
  
  er kommt auch noch heute/ und lehret die leute/
  wie sie sich von sünden/ zur buß sollen wenden
  oder
  ach lieber herr, eil zum gericht!/
  lass sehn dein herrlich angesicht
  
  so haben wir es gerade gesungen
  in unserem wochenlied
  
  es passt also durchaus in diese zeit
  wenn wir
  angesichts von mißbrauchsenthüllungen
  und weltweiter gewalterfahrungen
  angesichts von hunger und klimakatastrophe
  wenn wir gerade im advent
  gerade in der erwartung der ankunft gottes
  unser tun selbstkritisch infrage stellen
  
  angesichts der erschütternden nazi-morde
  die uns in diesen wochen bewegen
  fragen wir nach unserer mit-verantwortung
  wo haben wir
  privat oder dienstlich
  in politik gesellschaft kirche
  durch vorurteile
  durch nicht-so-genau-hinsehen
  durch unbedachtes reden
  durch abfällige bemerkungen
  durch fremdenfeindliche gesetzgebung
  der entwicklung dieses
  abgrundtiefen
  fremdenhasses vorschub geleistet
  und dem braunen terror die bahn bereitet
  
  ich ahne
  damit macht man sich keine freunde
  weder bei den weihnachtsmarktbetreibern
  noch bei den gottesdienstbesuchern
  wie denn auch
  die sehnsucht nach licht und wärme ist groß
  in diesen dunklen wochen
  und  nach den stillen tagen innerer einkehr im november
  es muss doch irgendwann auch einmal gut sein
  mit sünde und tod und umkehr
  
  das stimmt sicherlich
  und dennoch
  gerade der zweite advent gibt dieser zeit
  den wochen der vorbereitung auf die christgeburt
  noch einmal einen ganz anderen blickwinkel
  
  unser heutiger predigttext drückt etwas aus davon
  er steht im buch des propheten jesaja
  im 63. und 64. kapitel
  dort heißt es
  
  15 So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.
  16 Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name.
  17 Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind!
  18 Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten.
  19 Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen,
  1 wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten,
  2 wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten - und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! -
  3 und das man von alters her nicht vernommen hat. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.
  
  jesaja erinnert uns
  und das ist das thema dieses sonntags
  zweifel an gott sind legitim
  sie können sogar äußerungen eines lebendigen glaubens sein
  erst wer mit gott rechnet
  der die leidet auch unter seiner abwesenheit
  
  ich glaube an gott den vater
  den allmächtigen
  den schöpfer des himmels und der erde…
  so haben wir es
  gerade eben
  im glaubensbekenntnis miteinander gesprochen
  
  aber dieses
  von uns auswendig
  oft gedankenlos
  oft viel zu selbstverständlich
  heruntergebetete bekenntnis
  es passt doch so gar nicht zusammen mit all dem elend
  das diese welt im griff hält
  mit der wirklichkeit
  die uns unmgibt
  
  wo ist der allmächtige gott
  wenn in syrien demonstranten zusammengeschossen werden
  warum greift er nicht ein
  wenn in somalia und kenia die menschen verhungern
  
  wo war gott
  als die furchtbare krankheit ausbrach
  als mir das liebste genommen wurde
  
  wo war gottes liebe
  als das unsägliche nazi-trio sich quer durchs land mordete
  und wo war er
  als wir anderen
  nachbarn mitbürger
  wegschauten und gleichmütig zur tagesordnung übergingen
  naja
  offensichtlich milieumorde
  was geht’s uns an?
  
  warum hat gott es geschehen lassen
  warum hat er uns gewähren lassen
  warum hat er nicht eingegriffen
  
  dorothee sölle hat diese erfahrung
  vor vielen jahren
  in dem satz zusammengefasst
  lobe den herren der alles so herrlich regieren
  das kann man nach auschwitz einfach nicht mehr sagen
  
  warum hat gott das zugelassen
  es ist gängige theologische praxis
  zu recht wie ich meine
  diese frage nach dem warum schlicht als unangemessen
  weil nicht beantwortbar
  zu verweigern
  stattdessen lieber nach dem wozu zu fragen
  wozu können sollen solche erfahrungen mich bewegen
  
  aber das verweigern der warum-frage löst das problem nicht
  die schlimmen erfahrungen bleiben ja doch
  und die frage nach dem schweigen gottes wird nur umso dringlicher
  bis hin zu dem furchtbaren schrei des jesus von nazareth
  dem schrei in die schreckliche finsternis der gottesferne
  mein gott mein gott
  warum hast du mich verlassen
  
  der prophet erspart sich selbst und gott diese fragen nicht
  er schreit seine klage über gottes schweigen hinaus
  und sehr nachdrücklich erinnert er gott an seine pflichten
  wie ein kind seinen pflichtvergessenen vater ins gebet nimmt:
  
  warum schweigst du
  das darfst du doch nicht zulassen
  du kannst doch nicht einfach zuschauen
  wie diese welt vor die hunde geht
  wie selbst in deiner kirche keiner mehr mit dir rechnet
  du hast einfach die pflicht uns zu seite zu stehen
  o heiland reiss die himmel auf
  herab herab vom himmel lauf…
  
  wir christinnen und christen glauben
  was jesaja erhoffte
  einklagte erbetete
  und da sind wir nun wirklich ganz dicht dran am thema des advent
  das sollte
  jahrhunderte später
  in der judäischen kleinstadt bethlehem
  in einem stall
  tatsächlich wirklichkeit werden
  
  gott brach sein schweigen und gab antwort
  nicht die antwort
  die jesaja erwartet hatte
  keine antwort auch auf die frage nach dem warum
  gottes antwort ging viel weiter
  denn sie kam nicht aus der ferne eines göttlichen himmels
  sondern sie kam aus den
  ernüchternden
  niederungen der menschlichen existenz
  
  und die antwort hieß
  ich bin bei euch
  das ist
  so vermuten wir
  die übersetzung des hebräischen gottesnamens
  jahwe
  ich bin bei euch
  und das wort wurde
  greifbar
  wurde wirklichkeit
  wurde fleisch
  in einem armeleutekind
  in einem menschen
  der
  mit unerklärlicher vollmacht
  seine mitmenschen gottes nähe spüren ließ
  der
  vom heiligen geist der liebe geleitet
  etwas ahnen ließ
  von der gegenwart des heiligen
  mitten in einer unheiligen welt
  der an und mit dieser unheiligen welt litt
  bis zur letzten und bittersten konsequenz
  dem eigenen sterben
  und der seinen zeitgenossen
  der uns
  die augen öffnete
  für die begegnung mit gott
  in den schwachen
  in den leidenden
  und sie sendet
  nun ihrerseits anderen zur gottesbegegnung zu werden
  
  advent
  das heißt darum nicht
  bald ist weihnachten
  sondern advent heißt
  gott kommt
  endlich
  und er kommt auch zu mir
  und er kommt auch durch mich
  er kommt in mir zur welt
  
  wär christus tausendmal zu bethlehem geboren
  doch nicht in dir
  du wärst in ewigkeit verloren
  so schreibt angelus silesius
  theologe mystiker lyriker im 17. jahrhundert
  
  der prophet endet sein gebet
  seine vorwurfsvolle
  seine verzweifelte klage
  mit der gewissheit dass gott uns nicht im stich lassen wird
  uns gar nicht im stich lassen kann
  
  Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen,
  2 wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten - und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! -
  3 und das man von alters her nicht vernommen hat. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.
  
  allem zweifel zum trotz
  allem schweigen zum trotz
  allen bitteren erfahrungen zum trotz
  wir rechnen mit dir
  du wirst deinen kindern wieder nahe sein
  du bist immer für überraschungen gut
  
  in der tat
  was wäre das für eine überraschung
  wenn wir
  als von christus beauftragte
  gott tatsächlich in uns zur welt kommen ließen
  wenn wir die not der sterbenden und der trauernden
  der hungernden und der unterdrückten
  uns zur aufgabe werden ließen
  
  wenn wir eine asylgesetzgebung beschließen würden
  die diesen namen tatsächlich verdient
  wenn wir die gastfreundschaft fremden gegenüber
  zum erkennungsmerkmal einer
  menschenfreundlichen
  gesellschaft machten
  wenn
  statt fremdenfeindlichkeit
  bündnisse für „fremdenfreundlichkeit“ entstünden
  landauf landab
  bis hin auf die inseln und halligen
  bis hin in die entlegensten bergdörfer der alpen
  
  seht auf und erhebt eure häupter
  weil sich eure erlösung naht
  mit diesem wort haben wir unseren gottesdienst eröffnet
  es ist der wochenspruch
  aus dem lukasevangelium
  für die woche des 2. advent
  das wort erinnert uns
  die mitte der nacht ist der anbruch eines neuen tages
  
  nirgendwo ist uns gott näher
  als in der erfahrung der absoluten gottesferne
  auch wenn wir das vielleicht gar nicht ahnen
  da wo wir nicht mehr
  vielleicht schon lange nicht mehr
  mit ihm rechnen
  gerade da gilt
  als antwort auf die schmerzlichen erfahrungen des jesaja
  die ermutigung unseres wochenspruches
  
  seht auf und erhebt eure häupter
  weil sich eure erlösung naht
  
  amen
Perikope
04.12.2011
63,15