Predigt zu Jesaja 63,15 - 64,8 von Peter Haigis
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Predigt zu Jesaja 63,15 - 64,8 von Peter Haigis

Liebe Gemeinde,
„Advent ist im Dezember“! Mit diesem Slogan wirbt die evangelische Kirche seit Jahren dafür, die Adventszeit ernst zu nehmen. Die mit der Zeit des Advents verbundene Vorfreude auf Weihnachten soll nicht dadurch verdorben werden, dass sich Adventskalender, Adventsschmuck, Schokoladen-Nikolausfiguren und andere Leckereien bereits ab Oktober in den Einkaufsläden finden lassen. „Advent“ heißt Vorbereitung und freudige Einstimmung auf Weihnachten – und hat eben im Dezember seinen Platz und nicht schon Monate zuvor.
Dazu scheint nun allerdings der Predigttext für den zweiten Adventssonntag wenig zu passen. Mit den für die Adventszeit typischen Einstimmungsritualen auf Weihnachten hat er offenbar nichts zu tun. Er klingt so wenig nach Freude, viel mehr nach Klage. Und auch Selbstanklage ist dabei. Wie passt das mit Advent zusammen?
Die Fremdartigkeit der Worte Jesajas für unser „Lebensgefühl“ im Advent mag damit zusammenhängen, dass die Adventszeit in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren eine massive Verwandlung erfahren hat – selbst dort, wo man sich dem Sog des Geschäfts mit Weihnachten weitgehend zu entziehen vermag und der Adventszeit einen geistlichen, sagen wir: frommen Sinn abgewinnt, selbst da ist Advent heutzutage anders geprägt als zu früheren Zeiten. Heute verbinden wir die Zeit des Advents – abgesehen von der Vorbereitung aufs Weihnachtsfest – sehr stark mit dem Symbol des Lichts, mit einer Vorfreude auf das große Fest im Kirchenjahr, mit einem Glanz, der von Weihnachten her auf die dunkle Jahreszeit fällt. Die Adventssonntage sind eine Art Countdown aufs Weihnachtsfest geworden.
In älteren Jahrhunderten waren die Adventswochen im kirchlichen Kalender eine Zeit des Fastens, der inneren Einkehr, der Buße. Davon spiegelt sich auch etwas in dem Abschnitt aus den Schlusskapiteln des Jesajabuchs. Freilich, Buße und Fasten – sofern nicht Gesundheits-Fasten gemeint ist – sind aus der Mode gekommen. Wohl auch deshalb stehen uns die Worte aus Jes. 63 und 64 merkwürdig fremd in unsere Adventsstimmung hinein. Sie kommen ein wenig quer zu unseren adventlichen Erwartungen und Gepflogenheiten.
Doch ich gestehe: Nach einem ersten Widerstand („Wie? Was ist daran adventlich?“) höre ich beim zweiten Mal aufmerksam zu und die Formulierungen des Propheten beginnen, mich in den Bann zu ziehen. Was für eine fremde, aber doch auch gewaltige Sprache ist das! Welche ausdrucksstarken Bilder findet der Prophet, um die Beziehung zwischen Mensch und Gott, in diesem Fall zwischen dem Volk Israel und Gott zu umschreiben! Und welches erstaunliche Gespür bringt der Prophet dafür auf, dass mit dieser Beziehung etwas nicht stimmt, dass sie nicht im Lot ist. Zwischen Mensch und Gott ist etwas fremd geworden; eine Entfremdung ist eingetreten. Die Beziehung ist nicht mehr so, wie sie sein könnte und sein sollte. Sie ist nicht mehr so, wie sie anfangs war.
Ich kenne das aus zwischenmenschlichen Erfahrungen und Begegnungen. Doch Jesaja spricht in einer Unbekümmertheit und Offenheit im Blick auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott so. Seine Sprache ist lebensnah und lebendig. Sie fesselt mich, macht mich neugierig. Ich habe den Eindruck: so können wir, so kann ich heute gar nicht mehr von Gott und zu Gott reden. Mir hat es diesbezüglich buchstäblich die Sprache verschlagen und deshalb kann und will ich von Jesajas Psalm – denn ein Psalm, ein Lied ist es – lernen.
Jesaja besitzt ein erstaunliches Gespür dafür, dass etwas in der Beziehung zwischen Mensch und Gott nicht stimmt. Ich frage mich zuallererst, ob es in unserer Zeit überhaupt noch so etwas wie ein Sensorium für die Beziehung zu Gott gibt. Wenn wir von Beziehungen sprechen, sie in den Blick nehmen, dann sehen wir wohl zunächst uns selbst und unsere Mitmenschen – genau in dieser Reihenfolge. Unsere Beziehungsoptik ist geprägt von Spiegeln und Masken. Das sind die Medien, in denen wir uns selbst und einander wahrnehmen und begegnen. Für Gott ist in dieser Optik offenbar kein Platz. Vielleicht deshalb weil zur Beziehung zu Gott etwas entscheidend gehört, das wir kaum – und wenn, dann nur unangenehm – empfinden: das Angesehen-Werden. Es spielt in der Beziehung zu Gott die entscheidende Rolle; denn hier sind es nicht wir Menschen, die schauen und sehen und im Schauen und Sehen einordnen; hier ist es Gott, der sieht, und wir sind die von ihm Angesehenen. Nicht ich sehe mich und die anderen, sondern Gott sieht mich, sieht uns. Die Optik Gottes beginnt nicht mit dem menschlichen Sehen, sondern mit einem von ihm Angesehen-Werden. Um unser Ansehen bei Gott geht es – und Jesaja weiß, dass es darum nicht zum Besten steht. Dennoch oder gerade deswegen beginnt er seinen Psalm mit der Aufforderung an Gott: „schau herab“.
Aber selbst wenn und wo wir unseren Blick auf Gott richten, bleibt das, was wir sehen, doch relativ blass und blutleer. Wo wir heute unseren Blick auf Gott richten, da erscheint entweder der allgegenwärtige und nichts sagende „liebe Gott“, dieses aus kindlicher Erinnerung herrührende Hintergrundrauschen. Es gleicht mehr einem Dekor von Stern, wie wir ihn ins adventlich geschmückte Fenster kleben, als einem wirklichen Himmelslicht.
Oder wir sehen den schmerzlich vermissten, den abwesenden Gott, die Leerstelle, weil dort, wo wir Gott vermuten oder ihn uns wünschen, vermeintlich nichts ist. Nach einem solchen Gott kann man nur noch fragen: „Wo warst du?“, oder (nicht einmal als Anrede formuliert): „Wo war Gott eigentlich?“ Die Frage drückt auf entscheidende Weise unsere Sicht auf Gott aus – dass es dort offenbar nichts zu sehen gibt.
Es geht mir hier nicht um falsche Alternativen: Beides hat ja sein Recht, der so genannte „liebe Gott“ ebenso wie die gequält hervorgebrachte, oft aus einer echten Verzweiflung rührende Frage: „Wo war Gott?“ Ich wüsste jedenfalls nicht, warum Kinder nicht lernen sollten, an den „lieben Gott“ zu glauben, zu ihm zu beten und von ihm zu sprechen. Und ich wüsste auch nicht, warum man in Krisenzeiten die Warum-Frage nicht sollte stellen dürfen?
Beides findet sich übrigens auch in Jesajas Klagepsalm: Der „liebe Gott“ ist bei ihm der „unser Vater-Gott“ („von alters her ist das sein Name“); ein Gott, zu dem Menschen in kindlicher Einfachheit, ja Naivität beten, in dessen Schutz und Macht sie sich zu bergen suchen. Und den schmerzlich vermissten, abwesend scheinenden Gott kennt Jesaja ebenfalls; er fragt nach ihm, stellt die Warum-Frage, klagt seine Zuwendung und Nähe ein.
Unser Problem liegt nicht darin, dass wir diese Bilder von Gott haben – immerhin haben wir sie noch. Unser Problem liegt darin, dass wir nur noch diese Bilder von ihm haben; dass sich unsere Beziehung zu ihm – wenn überhaupt – dann nur noch so ausdrückt. Unser Problem liegt in der Dürftigkeit, die in unserem Glauben und Beten damit alles schon gesagt sein lässt.
Dem steht ein Reichtum an Bildern und Ausdrucksformen gegenüber, in denen Jesaja die Beziehung zwischen ihm selbst, seinen Volks- und Glaubensgenossen einerseits und Gott andererseits beschreibt. Es ist dieser Reichtum, der mich an Jesajas Klagepsalm anspricht.
Jesaja fragt nicht (nur): „Wo bist du, Gott?“ oder „Wo warst du?“ Er fragt: „Wo ist nun dein Eifer?“ Darin schwebt die Erinnerung, dass die Beziehung einmal anders gefärbt war – heißer, stürmischer, inniger – wohl von beiden Seiten. Oder ist es nur die menschliche Gefühlskälte gegenüber Gott, die nun auch die Wärme auf Gottes Seite vermisst. Jesaja spricht eine Gottesbeziehung von erhöhter Temperatur, erhöhtem Temperament an.
Er nennt Gott nicht nur bei seinem von alters her gebrauchten und bekannten Namen „unser Vater“, sondern sagt auch: „Du, unser Erlöser.“ Einmal abgesehen davon, ob die Vaterbezeichnung wirklich so alt ist, wie Jesaja vorgibt (sie erscheint im Alten Testament so gut wie nirgendwo). Jedenfalls können Traditionen leer und unverständlich werden. Sie können sich abnutzen. Sie können irritieren, wenn etwas anders erlebt wird als man es „von jeher“ gewohnt ist. Dann kann die Erinnerung an das doch von jeher Gebrauchte zum kläglichen Wiederbelebungsversuch geraten. Davon weiß auch Jesaja bereits ein Lied zu singen. Aber er kennt mehr als einen Namen Gottes – und das macht in sprachfähig in vielen Situationen.
Und dann die andere Seite, denn zu einer Beziehung gehören ja immer zwei: In wie vielen Formulierungen bringt Jesaja zum Ausdruck, dass sicher nicht nur Gott den Menschen fremd geworden ist in der gegenwärtigen Lage? Dass es vielmehr auch auf Seiten der Menschen Entfremdung gibt, zum Beispiel: „Israel kennt uns nicht.“ Das heißt so viel wie: Wir sind Fremdgänger, Irrläufer in der Geschichte Israels geworden; wir passen nicht mehr zu diesem Erbe.
Neben die Anklage an Gott tritt die Selbstanklage, ja sie mischt sich in diese hinein: „Warum lässt du uns abirren, unser Herz verstocken?“ Als ob mit der einen Seite nur die halbe Wahrheit gesagt wäre! Und so ist es ja auch, meistens und mindestens. Vielleicht ist die Anklage des anderen – psychologisch gesehen – nur der Versuch, die eigene Schuld zu kaschieren. Jesaja scheint diese Psychologie der Beziehungen gut zu kennen und er versteht es, sie auf die empfindliche Beziehungsstörung zwischen Mensch und Gott anzuwenden – schonungslos, entwaffnend.
Schließlich das Bekenntnis, das ganz modern klingt: „Wir sind wie die, über die du niemals herrschtest.“ ... „Wie solche, die dich nicht kennen, benehmen wir uns. Als ob es keine Erfahrungen zwischen uns gäbe.“ Gottvergessen!
Mutige Worte! Mutige Bilder! Sie reichern die Sprache an, in der Jesaja von der Beziehung zwischen Gott und Mensch zu reden weiß, vor allem von den Beziehungsstörungen. Jesajas Worte ziehen mich in Bann, weil sie aus der Gleichgültigkeit und Einförmigkeit unseres heutigen Redens von und mit Gott reißen. Weil sie von einer hohen Sensibilität für die neuralgischen Punkte der Beziehung zwischen Mensch und Gott zeugen. Weil sie aus einer Lebendigkeit geboren sind, die engagiert und widersprüchlich ist. Und weil sie von einer entwaffnenden Ehrlichkeit sind.
Doch Jesajas Klagepsalm wäre kein Wort für einen Adventssonntag, wenn Anklage, Selbstanklage und Bußbereitschaft das letzte Wort hätten. Dahinter dämmert auch bei ihm ein Hoffnungslicht. Es geht auf über dem Scherbengericht der Verzweiflung an Gott und an sich selbst. Es ist das Licht von Weihnachten her, das nicht Gottes Ankunft kündet, sondern sein Dasein, denn was ist Weihnachten anderes als das Fest über Gottes Da-sein in unserem Dasein.
„Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab...“ Der fern und fremd erscheinende, der herbeigesehnte Gott – er ist schon gegenwärtig. Untilgbare Spuren seiner Gegenwart kennt der Prophet. An sie klammert er sich. Drei dieser Spuren will ich nennen:
„Wir alle sind deiner Hände Werk“: Das Bild vom Ton in der Hand des Töpfers erinnert an die Schöpfungserzählung. Gott nahm Erde vom Ackerboden und formte daraus den Menschen. Das klingt für heutige Ohren etwas einfach, ja primitiv. Doch immerhin weiß die biblische Schöpfungserzählung etwas vom Grundgesetz allen Daseins in diesem Universum – aus einer materiellen Basis heraus entstanden zu sein. Da macht auch der Zellhaufen, der der Mensch ist, keine Ausnahme. Was jedoch entscheidender ist: Ganz gleich, woraus der Mensch besteht, dass er überhaupt besteht – das ist kein Werk des Zufalls, sondern Gottes Schöpferwille. Ich kenne den biologischen Ursprung meines Daseins, doch dass ich bin und dieses Leben habe und noch jeden Tag friste, verdanke ich alleine Gott. Jeder Atemzug kann mir dafür zum Gleichnis werden.
„Wir alle sind dein Volk“: Israel, das „alte Bundesvolk“, gilt als Gottes Volk, von ihm erwählt. Später haben sich die Christen ebenfalls als zu diesem Volk zugehörig verstehen dürfen – nicht als Ersatz für das Volk des ersten Bundes, sondern als die in Christus später Hinzugekommenen, als Seiteneinsteiger gewissermaßen. Vielleicht klingt das Wort „Volk“ für unsere Ohren heute zu politisch, zu sehr ethnisch und kulturell geprägt. Für mich kann als gleichbedeutend das Bild der „Familie Gottes“ daneben treten. Durch die Taufe werden wir in diese Familiengemeinschaft Gottes aufgenommen, quasi von ihm adoptiert. In der Taufe empfangen wir das Zeichen der Zugehörigkeit zu ihm und seiner weltumspannenden Familie. In ihr gewinnen wir die Zuversicht, ihn „unseren Vater“ nennen zu dürfen – was doch „von alters her“ sein Name ist.
„Gedenke nicht ewig der Sünde“: Jesaja traut Gott etwas zu, vielleicht ist es das Größte in diesem Psalm. „Nicht gedenken“ ist etwas anderes als „vergessen“. Das Vergessen geschieht einfach, das Nicht-Gedenken aber ist ein bewusster Vorgang, zu dem man sich entscheiden kann. Dann heißt die Devise, auf die Jesaja Gott anspricht, aber nicht: „vergeben und vergessen“, sondern: „vergeben und unwirksam gemacht“. Was vergeben ist, soll keine Macht mehr über die Beziehung haben; es soll die Beziehungsgestaltung nicht mehr beeinflussen. Es stellt keinen besonderen Merkposten mehr dar zwischen Gott und Mensch. Jesaja traut Gott zu, dass er sich so bewusst entscheiden kann und auch entscheiden wird. Von dieser Hoffnung lebt seine ganze entwaffnende Offenheit.
Liebe Gemeinde, „Advent ist im Dezember“ und er verspricht, erfüllt von diesen Worten und Gedanken Jesajas, sehr verheißungsvoll zu werden. AMEN.