Predigt zu Jesaja 66,13 (Jahreslosung 2016) von Sven Keppler
66,13

I. Auch ich liebe Paris. Die Boulevards. Die Straßencafés. Die Boutiquen und die Konzerthäuser. Die Anschläge vom 13. November haben auch mich getroffen. Vor einem Jahr habe ich „Je suis Charlie“ gesagt. Auch ich war „Charlie Hebdo“, das Satiremagazin, dessen Redaktion zum Opfer von Islamisten wurde. Und seit dem vergangenen November sage ich: „Je suis Paris“. Auch ich bin irgendwie ein Teil von Paris.

Im Netzwerk Twitter wurde ein mutmaßliches Bekennerschreiben der Terroristen verbreitet. Dort heißt es: „In einer gesegneten Attacke nahm eine Gruppe von Gläubigen die Hauptstadt der Abscheulichkeit und der Perversion zum Ziel, Paris.“ Die Konzerthalle Bataclan, wo sie mehr als 80 Menschen töteten, war für die Islamisten ein Ort, „wo sich hunderte Götzendiener in einer perversen Feier versammelt hatten.“

Viele haben die Anschläge als Angriff auf unsere westliche Lebensweise verstanden. Ein Fußballspiel. Pulsierende Restaurants am Freitag Abend. Ein Rockkonzert. Für die Islamisten ist das der Ausdruck eines perversen Lebensstils, abscheulicher Götzendienst. Trotzig haben viele dagegen gehalten: Genau das sind die Symbole unserer Freiheit!

Paris ist für mich noch viel mehr als Fußball und Rockkonzerte. Die Freiheit von Paris ist nicht nur die Freiheit zum Abtanzen und Flirten. Paris ist die Stadt, wo unsere demokratische Freiheit erkämpft wurde – in der französischen Revolution. Saint Denis, wo das Fußballstadion Stade de France steht, ist mit seiner Kathedrale der Geburtsort der gotischen Baukunst.

Paris ist die Stadt der 143 Museen, vom Centre Pompidou über Picasso bis zur Kunst der arabischen Welt. Und in Paris schrieb Marcel Proust den vielleicht faszinierendsten Roman der Weltliteratur. All das ist ein Teil meines Lebens. Und deshalb: Ich liebe Paris. Paris ist ein Teil von mir und ich bin ein Teil dieser Stadt.

II. Liebe Gemeinde, der islamische Terrorstaat und die Fluchtbewegung aus dem Gebiet des fruchtbaren Halbmonds nach Europa – diese beiden Ereignisse haben das Jahr 2015 geprägt. Heute beginnt ein neues Jahr. Und es beginnt unter dem Vorzeichen der Liebe. Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.

Dieser Vers aus dem letzten Kapitel des Jesajabuches soll die Überschrift für das Jahr 2016 sein. Die Jahreslosung. Sie löst große Freude aus. Endlich einmal ein eindeutig weibliches Gottesbild! Nicht patriarchal. Nicht strafend. Nicht voller harter Gerechtigkeit. Sondern tröstlich. Kuschelig. Kurz vorher steht sogar die Verheißung, dass alle saugen und sich satttrinken dürfen an den Brüsten des Trostes.

Aber mal im Ernst, liebe Gemeinde. Fallen wir bei der Begeisterung über diese Losung nicht in Geschlechterbilder zurück, die längst überwunden sein sollten?! Weiblich, das ist eine tröstliche Mutterbrust? Und männlich, das bedeutet patriarchale Härte und strafende Grausamkeit? Dann wäre die Gleichung einfach: Männerwelt, das ist der islamische Terrorstaat. Frauenwelt, das ist die Aussicht auf Frieden und Versöhnung.

Wie bei jedem Klischee kann man natürlich sagen: Da ist ja etwas Wahres dran! Es gibt natürlich abschreckende männliche Gottesvorstellungen. Wie im Hebräerbrief, der das Buch der Sprüche zitiert: „Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er, und er schlägt jeden Sohn, den er annimmt.“ (Hebr 12,6; vgl. Spr 6,12 LXX) Und natürlich sind Gotteskrieger im Allgemeinen männlich. Amazonen wie Tashfeen Malik, die Killerin beim Anschlag im kalifornischen San Bernardino, sind die Ausnahme, die die Regel bestätigen.

Und doch möchte ich als Mann genauso wenig auf gewalttätige Männerbilder festgelegt werden wie eine emanzipierte Frau auf ihre nährende Mutterbrust. Worin liegt aber dann der große Reiz unserer Jahreslosung – auch diesseits der archaischen Rollenbilder?

III. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Wie tröstet einen seine Mutter? Tröstet sie anders als ein Vater? Mann möchte das meinen. Denn in den modernsten Familien gibt es ja immer wieder diese Szene:

Das Kind bricht in Tränen aus. Ein Unfall ist geschehen. Ein Sturz. Oder der mühsam aufgebaute Turm ist von der Schwester zum Einsturz gebracht worden. Schluchzen. Klagen. Der Vater kommt. Nimmt das unglückliche Kind in den Arm. Wiegt es. Tröstet es. Das Kind hört auf zu weinen. Beruhigt sich, kommt zu sich. Der Vater drückt es erleichtert an sich. Und das Kind fragt: „Wo ist Mama?“

Wahrscheinlich hat der Vater nichts anders gemacht als die Mutter es getan hätte. Sie hätte das Kind genauso an sich geschmiegt. Ihm genauso zugesprochen. Es genauso geherzt. Ich würde behaupten: Eine Mutter tröstet nicht anders als ein Vater. Und doch ist etwas anders. Etwas, das gar nichts mit der Art des Tröstens zu tun hat. Nichts mit dem Verhalten. Sondern mit der Art der Beziehung.

So sehr sich die Rollenbilder auch angleichen, so sehr Männer von traditionell weiblichen Verhaltensmustern gelernt haben und Frauen von traditionell männlichen – eines werden die Mütter den Vätern immer voraus haben: Sie haben das Kind während der Schwangerschaft unter ihrem Herzen getragen. Die Mutter und der Embryo haben monatelang eine körperliche Einheit gebildet. Waren in ihrem Blutkreislauf verbunden. Haben jede Bewegung voneinander gespürt. Und beim Stillen hat sich diese Bindung fortgesetzt.

Daraus erwächst eine andere Qualität der Beziehung. Im Laufe des Lebens kann sie sich zwar verändern. Aber ich glaube, das Besondere des müttlerichen Trostes hat hierin seine Wurzel: Wenn einen seine Mutter tröstet, dann ist das eine kleine Heimkehr in die ursprüngliche Einheit. Ein Geborgensein im Ursprung.

IV. Liebe Gemeinde, zu Beginn der Predigt hatte ich an zwei Parolen aus dem vergangenen Jahr erinnert: „Je suis Charlie“ und „Je suis Paris“. Nach dem Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins war die zivilisierte Welt geschockt. Ein Meer von Blumen und Lichtern wurden an den Orten des Terrors niedergelegt. Genauso nach Freitag, dem 13. November.

„Je suis Charlie“, auch ich bin Charlie Hebdo. Ich identifiziere mich mit den Opfern. Sie stehen für meine Werte. Für die Freiheit des Denkens und Redens. Das heißt nicht unbedingt, dass ich den Stil des Magazins mag. Aber ich identifziere mich trotzdem mit ihm. Weil ich von denselben Rechten lebe wie die Zeichner.

Identifikation ist der Schlüssel zur Solidarität. Wenn die Mutter tröstet, zeigt sie dem Kind: Wir sind eins. Natürlich darfst Du selbständig werden. Natürlich will ich Dich nicht vereinnahmen. Aber wenn Du Trost brauchst, darfst Du zu Gast sein in unserer ursprünglichen Einheit.

Und wenn ich sage: „Ich bin Charlie“, dann bringe ich zeichenhaft eine solche Einheit zum Ausdruck. Eine Gemeinschaft der Humanität. Wir lassen uns von religiös vernebelten Killern nicht unterkriegen! Wir sind geschwisterlich verbunden und geben uns so gegenseitig Trost.

V. Und genau hier liegt für mich die Faszination der Jahreslosung. Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Gott (!) spricht. Gott ist es, der mir diese Qualität des Trostes vermittelt. Er tröstet mich, indem er mir zeigt: Wir sind eine Einheit. Wir sind ursprünglich miteinander verbunden. Er identifiziert sich mit mir.

Meine Beziehung zu Gott ist so ursprünglich wie die zu einer Mutter. Ja, ursprünglicher noch. Er hat mich nicht nur unter dem Herzen getragen. Er hat mich ursprünglich gedacht und gewollt. Aus seinem Gedanken, aus seinem Wort bin ich entstanden. In seiner Welt bin ich herangewachsen. Von ihm bin ich getragen. Aus ihm atme ich jede Sekunde neu. Sein Geist ist in mir lebendig. Denn in ihm leben, weben und sind wir, wie Paulus in der Apostelgeschichte sagt (Apg 17,28).

Auch wenn ich mich von Gott emanzipiere, wie ich mich von meiner Mutter emanzipiere. Auch wenn ich mich von ihm abwende, weil ich „Ich“ sagen will und muss. Auch wenn Gott mir diese Freiheit lässt und ich meine eigenen Fehler machen darf. Dennoch bleibt diese Bindung bestehen.

Durch Jesus, unseren Bruder, hat Gott sie unzerstörbar erneuert: Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen. (Mk 1,11) Warum diese Worte nicht als Bekenntnis einer Mutter hören? Als Identifikation des müttlerlichen Gottes auch mit mir. Und mit Dir. Amen.

Perikope
01.01.2016
66,13