Die Gnade Gottes unseres Vaters, die Liebe Jesu unseres Herrn und die lebensspendende Kraft des Heiligen Geistes seien mit uns allen. Amen.
Wir stehen, wie man so schön sagt, „mitten im Leben“. Wir arbeiten, planen unsere Ferien, wir haben Freunde und eine Familie, wir bewegen uns, wie auf einer Strasse, auf beiden Seiten Leitplanken, in der Mitte die weisse Linie, immer nach vorne. Das alles gibt uns den Anschein einer gewissen Sicherheit. Dass uns ein Ereignis ganz plötzlich und „unverhofft“ aus der Bahn werfen könnte, wissen wir, aber wir verdrängen es nur zu gerne...
In Europa ist jetzt Erntezeit, Erntedank-Zeit, hier bei uns in Argentinien beginnt der Frühling, die ersten Tulpen und Narzissen blühen, die Obstbäume verbreiten den Duft nach Leben, nach Aufbruch. Wer mag da an den Erzfeind des Lebens denken...
An einem Sonntagnachmittag bin ich unterwegs zu einem Gottesdienst in einer entfernten Filialgemeinde mitten in den patagonischen Anden. Da meldet sich mein Handy, in einer Gegend in der es eigentlich gar keinen Empfang haben sollte. Mein ältester Sohn ist dran und teilt mir mit, dass vor wenigen Stunden mein Onkel, ebenfalls Pfarrer, bei einem Autounfall tödlich verunglückte. Da ich sehr früh meinen eigenen Vater verloren hatte, war dieser Onkel ein Leben lang eine Art Ersatzvater für mich. Es war, als stürzte ich in einen Abgrund. Eine tiefe Traurigkeit, ein unglaublicher Schmerz breitete sich in mir aus. Und in einer Stunde sollte ich von der Kanzel aus das Evangelium verkündigen. Ich konnte nicht einmal zur Beerdigung fahren, mein Onkel lebte 3500 km entfernt, weit im Norden Argentiniens. Ich wäre auf jeden Fall „zu spät“ gekommen. Am nächsten Tag rief ich meine Tante an, wollte ihr etwas tröstendes sagen, aber ich brachte kein Wort heraus, ich konnte nur noch weinen. Dann tröstete mich die Tante, sie erzählte mir von seinem unerschütterlichen Glauben an die Auferstehung, von einem Gefühl der Geborgenheit, wie er es immer wieder selbst formulierte, und ich spürte diesen Glauben auch in ihr, diese Gewissheit die ihren Grund nur in einem tiefen Gottvertrauen haben konnte.
Ja, darum soll es heute gehen, um das Leben und die vielen Tode, die fast nie, wie wir es uns wünschen, als ein guter Freund durch die offene Haustüre hereinkommen, sondern fast immer wie ein Einbrecher durch die verschlossene Hintertüre.
Ich habe diesen Abschnitt schon so oft gelesen, auch ein paar mal über ihn gepredigt, sicherlich gehört er zu den „populärsten“ Geschichten aus dem Neuen Testament. Und noch immer bin ich tief bewegt...
Textlesung: Johannes 11, 1 – 4; 17 – 27; 40 - 45
1. Mitten im Leben klopft es an die Tür.
Hier wird der Tod nicht beschönigt, hier wird er so dargestellt, wie er ist. Wie viele ähnliche Situationen gehen uns durch den Sinn! Diese einfachen Worte nehmen uns mithinein, „mitten im Leben“. Unser ältester Sohn, noch klein, ein Baby, der Pseudokrupp der ihn schon seit Monaten plagt (und die Eltern zur schieren Verzweiflung bringt) scheint diesmal so schlimm wie noch nie..., hinzu kommt noch eine Lungenentzündung..., mitten im Leben, mitten in der Nacht..., der Arzt kann nicht kommen, er ist bei einem anderen Notfall, also fahren wir ins Krankenhaus und – hätten keine Minute länger warten dürfen -.
Der Bruder ist schwer erkrankt, die beiden Frauen tun, was getan werden muss: sie rufen nach dem „Arzt“. Gleich soll er kommen, Eile tut Not! Der Freund ist schlimm dran... Wir predigen von der Kanzel die Auferstehung, gleichzeitig sterben unsere Lieben. Jesus könnte eingreifen, aufhalten, tut es aber nicht. Er lässt sich Zeit, kommt wann es ihm in den Kram passt. Sein bester Freund ist dem Tode nahe und er hat keine Eile. Das ist fast schon grausam. Er tut nicht das, was wir wollen..., wir wollen, ich will..., dass..., sofort! Der Arzt, wo bleibt er denn!?
Als Jesus schliesslich ankommt, liegt Lazarus schon vier Tage im Grab. Damit ist die Grenze überschritten, innerhalb derer nach damaliger Überlieferung der Vorgang des Sterbens noch umkehrbar wäre. Man glaubte, dass die Seele sich noch drei Tage lang in der Nähe aufhalte. Nun aber ist es zu spät. Modern gesprochen: nun kann es keine Zweifel mehr geben, es handelt sich nicht um einen klinischen Tod. Die Beschreibung ist so realistisch, dass man den Tod förmlich riechen kann.
Dann kommt es zur Begegnung zwischen Jesus und Martha. In ihren Worten liegen nicht nur Schmerz und Trauer. Ich höre da auch einen Vorwurf heraus. Wer könnte sie nicht verstehen!?
Aber da ist noch etwas, etwas das sie vielleicht selbst nicht verstehen kann: Martha traut Jesus mehr zu, als die heilenden Fähigkeiten eines aussergewöhnlichen Rabbis. Was viele seiner Wunderheilungen betrifft, stand Jesus in guter jüdischer Tradition. Nein, in Martha schwingt noch ein anderer Ton mit: über aller Trauer, all dem tiefen Schmerz, auch dem Vorwurf, steht ihr Glaube, sie glaubt, wo es nichts mehr zu glauben gibt: „Aber auch jetzt weiss ich: was du bittest von Gott, das wird Gott dir geben.“ „Es kostet dich nur ein Wort!“ Was geschieht da? Martha verlässt die Trauergemeinde, etwas das man nicht tut, und läuft jenem entgegen, der dem Tod die Macht aus den Händen reissen kann. Die Trauernden im Haus „verneigen“ sich vor dem Tod und seiner Macht. Es ist die Anerkennung seiner Herrschaft. Damit gibt sich diese Frau nicht zufrieden. „Was kann das schon für ein Trost sein, wenn man den nicht kennt, der dem Tod die Macht genommen hat...?“, hörte ich einmal auf einer Beerdigung, das ging mir durch Mark und Bein. „Dein Bruder wird auferstehen.“
Was ist damit gemeint?
2. Die Lehre und der lebendige Glaube
Ja, was ist damit gemeint? Auch Martha kommt etwas durcheinander, auch sie greift auf das zurück, was sie im Konfirmandenunterricht gelernt (haben könnte). „Natürlich glaube ich an die Auferstehung, wo denkst du hin!?“ Und das ist auch nicht falsch!, ganz im Gegenteil: Lehre und Tradition sind wichtig, sie helfen uns eine Verbindung herzustellen zwischen unserer Lebenswirklichkeit und unseren geistlichen Fragen und Zweifeln. Aber man kann die Konfistunden intus haben und trotzdem untröstlich sein.
Und so spitzt sich die Situation zu, Jesus bringt das Thema auf den Punkt. „Dein Bruder wird auferstehen“, ¿bezieht sich das auf die Rückkehr aus dem Tode ins alte, irdische Leben? Dann müsste man Lazarus eigentlich bedauern, denn ihm stünde ja das Leiden eines zweiten Sterbens bevor. Nein, was mit Lazarus geschieht, hat nichts mit dem Glauben an die Auferstehung zu tun. „Dein Bruder wird auferstehen.“, ist eine Feststellung, sie weißt weit über unsere irdische Wirklichkeit hinaus und doch gleichzeitig auf den der da zu spät zu kommen scheint. „Ich bin es!, ich bin die Auferstehung und das Leben...“ Und da ist es wieder, das zentrale Thema des Evangeliums, ja der ganzen Bibel: an IHM kommen wir nicht vorbei, an Jesus!
Die meisten Menschen glauben an ein „Leben“ danach. Jeder hat seine eigene Vorstellung vom „ewigen Leben“, die einen eingebettet in kirchliche Lehr-und Glaubenssätze, die anderen begeistern sich für fernöstliche Vorstellungen vom „danach“, oder „immer wieder“. Es gibt also so etwas wie eine allgemeine und globale Auferstehungssehnsucht.
Hier wird all das, was und woran wir glauben, an Jesus ausgerichtet. Er ist das Nadelöhr, in ihm wird alles aufgehoben, in ihm wird die Macht des Todes gebrochen.
Ich bin das, was ihr sucht, ersehnt, erhofft!, sucht es nicht woanders und sucht es nicht ohne mich, an mir vorbei! Indem ihr an mich glaubt, habt ihr es! Ein alter Mann aus unserer Gemeinde sagte mir einmal: „ein ewiges Leben ohne Christus wäre die Hölle, eine Auferstehung in eine Wirklichkeit ohne ihn..., dann würde ich lieber den ewigen Tod bevorzugen...“
3. „...nur über meine Leiche!“
Ja, genau das ist es: jenseits aller Zeichen die Jesus tut, die durch und in ihm geschehen, führt ihn sein Weg unaufhaltsam auf seinen eigenen Tod zu. Dort am Kreuz liefert sich Gott selbst jener Macht aus, die sogar die Zeit in ihren Händen zu halten scheint. Jesús, verlassen von den Menschen, Jesus verlassen von seinen Freunden, Jesus von sich selbst verlassen, Jesus, vollkommen (im wahrsten Sinne des Wortes!) ausgeliefert, ohne die geringste Verteidigung, die totale Resignation!
Und jetzt das Entscheidende: während Lazarus zum irdischen Leben wieder erwacht, also seinen letzten Tod noch vor sich hat, ist Jesus der Erste derer, die in die Ewigkeit, also absolute Zeitlosigkeit, auferstehen. Jesus kam nicht in die vergängliche, kränkelnde, chaotische Weltwirklichkeit zurück. Er ist die Tür durch die wir einst eintreten werden in jene Wirklichkeit nach der wir uns so sehr sehnen. Also: nur über „seine Leiche“, am Kreuz, d.h. an Jesus kommen wir nicht vorbei!
Warum ist das so wichtig?, weil das ewige Leben ein Leben in Gemeinschaft mit Gott ist. Und weil Jesus der menschgewordene Schöpfergott ist. In Christus sein heisst also, in Gemeinschaft mit Gott, dem Schöpfer und Erhalter unseres Lebens. Wenn wir also in Christus sind, haben wir heute schon Anteil an jenem Leben das die Macht des Todes nicht mehr fürchten muss. Mein Grossvater lehrte mich: „...glauben ist nichts anderes, als wirklich alles, alle Sorgen und Zweifel, alle Fragen, alle Ängste und Hoffnungen, in Gottes gute Hände legen...“, also auch meine Hoffnung auf Auferstehung.
Jesu Machttat in Bethanien ist „Zeichen“, Botschaft: Christus lässt, die er liebt, nicht im Tode. Er selber ist die Auferstehung und das Leben.
„Glaubst du das?“, das ist das Kleingedruckte, das wir gerne übersehen. Aber darin steht immer das entscheidend Wichtige. Es geht darum, ob wir uns wirklich, von ganzem Herzen auf Jesus einlassen können und wollen. Bleibt es bei auswendig gelernten Glaubenssätzen, oder trifft mich deren Inhalt – und damit Jesu Worte -, in meiner Existenz?
Martha, die Frau, die schon längst, vielleicht ohne es zu begreifen, über die Tradition, Ritus und Lehre hinaus glaubt, jene Frau, die sich, wenn es darauf ankommt, nicht um Formen kümmert, sagt: „Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes...“
Der Christus, der Sohn Gottes, der vom Himmel in die Welt gekommene, steht vor Martha. Wer sonst könnte das Leben und die Auferstehung sein?
Amen