Der wahre Weinstock
15 1 Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner.
2 Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringe.
3 Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.
4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt.
5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.
6 Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und sie müssen brennen.
7 Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.
8 Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.
Gott segne dieses, sein Wort, an uns und lass es auch durch uns zu einem Segen werden. Amen.
Liebe Gemeinde! Die Bibel kennt starke Bilder. Es sind Bilder voller Leben und Fülle. Voller Kraft und Dynamik. Sie lassen ganze Landschaften, alltägliche Szenen, blühende Wüsten im Kopf entstehen. Sie sprechen für sich ohne viele Worte. Der gute Hirte, das frische Wasser, der Weizen, der Frucht bringt, die Lilien, die schöner gekleidet sind als der König Salomo. Jedes Bild gefüllt mit Hoffnungen und Sehnsüchten, gefüllt mit Erinnerungen und Begegnungen. Auch die Bilder, die uns im heutigen Predigttext begegnen, sind Lebens-Bilder: Weinstock und Reben – da blitzt die Herbstsonne durch die reifen Trauben kurz vor der Ernte. Man möchte förmlich nach ihnen greifen und probieren, ob sie denn schon die saftige Süße erreicht haben. Die belebende Frische des Weines an einem Sommerabend lässt sich förmlich am Gaumen erahnen. Zurücklehnen und genießen.
Doch der gute Tropfen von den edlen Reben bekommt einen faden Beigeschmack. Es geht nicht um die sorglose Freude, die Jesus mit dem kostbaren Wein dem Brautpaar und seinen Gästen auf der Hochzeit zu Kana geschenkt hat. Es wird auch nicht dem Gott des Rausches und der Ekstase gehuldigt, wie die Griechen es mit ihrem Dionysos taten. Nein, Jesus nutzt die einleuchtenden Bilder, um die enge Verbindung von Weinstock und Reben, von Frucht und Lebensströmen deutlich zu machen. „Ohne mich könnt ihr nichts tun“: Wie die Reben auf den Weinstock angewiesen sind, so bekommen seine Jünger, so bekommt seine Gemeinde die Lebenskraft von ihm. Nur aus dieser Verbindung heraus wachsen und reifen Früchte. Vorausgesetzt, sie „bleiben“. Sie bleiben in ihm, sie bleiben an ihm – und Jesus an ihnen, so eng verbunden wie Frucht und Rebe, wie der Weinstock und jeder einzelne Trieb, der aus ihm wächst. Wenn nicht – dann wird der süße Rebensaft, den wir auf der Zunge schmecken, sogar bitter. Jesus erinnert an die Abläufe im Weinbau – und wird zum Mahner und Warner für seine Gefährten: Im Frühjahr muss der Winzer die Reben ausschneiden und reinigen, um die Pflanzen zu optimieren. Alles, was nichts bringt, was verdorrt, vertrocknet, leblos ist, nimmt dem Weinstock Kraft für die guten Reben. Also wird die Schere angesetzt und weg … Reicher Ertrag entsteht nur durch aufwendige Pflege. Christliche Existenz ist nur durch die enge Verbindung zu Jesus möglich. Lebenskraft einer Gemeinde kann nur durch die vitale Beziehung zu dem „Baum des Lebens“ kommen. Der tägliche Lebensstrom des Glaubens fließt nur wenn „wir in ihm bleiben und er in uns“. Da kann nicht alles bleiben wie es ist …
Die Bibel kennt starke Bilder. Bilder, die uns Farben in den Kopf, Gerüche in die Nase und sogar den Geschmack von wohlschmeckendem Wein auf die Zunge malen. Aber „Halt!“ und „Stop!“. Es sind nicht die kitschigen Bilder einer heilen Welt, sondern Bilder, die helfen, die Welt heil zu machen und uns Heilung zu schenken. Deshalb ist der so gern gewählte Konfirmationsspruch „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ nicht nur freundliche Beschreibung für einen fröhlichen Konfirmationstag, an dem auch mal ein Gläschen Wein probiert wird. Nein, es ist klare Aufgabe und Wegbestimmung. Es bedeutet für den jungen Konfirmanden, die Konfirmandin, dran zu bleiben am Glauben, den Fragen des Lebens weiterhin nachzugehen und immer wieder diesen Kontakt zu suchen, zu dem der gesagt hat „ohne mich könnt ihr nichts tun!“.
Jesus hat die starken Bilder seiner Predigten im Alltag gefunden – beim Beobachten einer Schafherde, beim Gang über ein Weizenfeld oder beim Pflücken einer reifen Traube im Weinberg. Mit welchen Bildern aus dem Alltag würde er heute predigen? Wie würde er den jungen Konfirmanden, wie würde er uns allen die tiefe und segensreichen Verbindung mit ihm heute deutlich machen – „ohne die wir nichts tun können!“ Luther hat „dem Volk auf’s Maul geschaut“ und daraus Lieder und Predigten gemacht. Er tat es, weil Jesus es tat. Was würde Jesus Menschen sagen, die weit weg von Weinbergen leben und die aus der 10. Etage ihres Wohnhausblockes keinen „guten Hirten“ beobachten können.
Ich denke an eine Situation, die ich mit unserer Tochter erlebt habe. Sie ist mit dem Zug von ihrem Studienort aufgebrochen und wollte nach Hause kommen. Sie hatte Bescheid gegeben, dass sie kommen würde, aber nicht wann. „Ich melde mich von unterwegs per Handy!“ Nun war sie unterwegs, aber sie hatte vergessen, ihr Handy aufzuladen. Der Ladezustand sank auf 1% und schon schaltete sich das kleine elektronische Gerät von selbst ab. Kein Lebenszeichen mehr. Und auch kein Lebenszeichen von unserer Tochter. Sie stand am Bahnhof und niemand erwartete sie, niemand lud ihre Koffer ins Auto, niemand nahm sie herzlich in den Arm. Keine Sorge – sie ist dann doch noch abgeholt worden, hat sich ein Handy geliehen und uns erreicht. Aber sie hatte sich das alles einfacher vorgestellt.
Keine Energie mehr, kein Strom – kein Lebensstrom, um die Verbindung zu halten. Getrennt wie die abgeschnittene Reben vom Weinstock. Das Handy, das nicht rechtzeitig aufgeladen wurde und so wertlos wurde – die Kommunikation am Ende. Mir ist klar, dass die Bilder, die Jesus nutzt, voller Leben und Dynamik sind und dass der Lebensstrom eines Handys kaum an die Fülle des Saftes heranreicht, der durch den Weinstocks fließt, um dann Reben und Früchte wachsen und reifen lässt. Aber: Dieses Bild ist dicht dran an uns, am Leben, aber auch an der Kraftlosigkeit vieler Menschen.
Denn ich beobachte: Wir machen alle viel zu viel und verzehren uns dabei selbst. Bei vielen sind die Akkus wie ausgelaugt, ausgelutscht. Nicht nur die Kommunikation ist am Ende, der ganze Körper reagiert. Viele haben Depressionen. Sie müssen etwas bringen, sie müssen Leistung, Ertrag, Frucht bringen, denn wer nichts bringt, ist auch nichts. Aber sie haben das Gefühl, sich abzuarbeiten, ohne dass es eine Frucht hervorbringt. Sie fühlen sich wertlos, ausgebrannt und verdorrt, wie eine tote Rebe, saft- und kraftlos.
Liegt es am Druck von außen, an den Erwartungen anderer – oder auch an dem Maßstab, den sie selbst an sich anlegen? Noch einmal meine Tochter, die eigentlich darauf achtet, dass der Akku ihres Handys immer aufgeladen ist. Denn sonst könnte sie etwas verpassen in der digitalen Welt zwischen Facebook und WhatsApp, zwischen Twitter und einer Eilmeldung unter Tagesschau.de. Immer mit der Welt verbunden, immer online, immer „unter Strom“. Manchmal habe ich das Gefühl, wenn sie da ist, ist sie gar nicht da und anwesend, sondern schwirrt, wenn das Handy vibriert, durch die digitalen Welten mit der Angst, etwas verpassen zu können. Und in der unendlichen Fülle der News und der Mails verpasst sie garantiert etwas. Bis die Erschöpfung da ist. Ob es dann mit einer neuen Akku-Ladung getan ist?
Das starke Bild vom Weinstock lädt ja fast zum Nichtstun ein. Die Rebe, die Frucht muss den Lebensstrom nur fließen lassen und schon ist alles am Wachsen und Reifen. Also nur die Poren öffnen und die Herzen nicht verschließen, dann keimt, was keimen soll, dann wächst, was Kraft bekommt zum Wachsen. Dann nehmen wir uns selbst den Druck, gute Früchte zu bringen, um den Erwartungen zu genügen oder der falschen Einschätzung, möglichst alles selbst machen zu müssen. Lassen wir doch den Winzer an uns heran, um den Druck, den wir aufbauen, zurückzuschneiden. Wehren wir uns nicht, wenn falsche Erwartungen, wenn Resignation und das Gefühl, fruchtlos zu sein, gekappt werden, damit wir wieder aufatmen können, damit der Strom des Lebens wieder fließen kann. Damit Zeiten des Gebetes wieder möglich sind, weil nicht dieses oder jenes noch zu erledigen sind, weil noch 148 Mails zu checken sind und wir eben noch die Welt retten müssen … Und wir schaffen es doch nicht. Wir schaffen es vor allem nicht, wenn wir es mit eigener Kraft versuchen und nicht mit dem, der die Welt schon längst gerettet hat. „Viel Frucht“ – das klingt nach Massenware und nach menschlichen Maßstäben immer nach „zu viel Frucht“. Die verdirbt den Preis und auch die Qualität. Denn nicht nur für den Winzer, sondern auch für Jesus kommt es auf den guten Wein an. Nicht nur auf der Hochzeit in Kana, sondern auch beim Abendbrot mit dem verachteten Zachäus. Jesus hat sich Zeit genommen, Zachäus hat einen guten Tropfen aus dem Weinkeller geholt und die beiden haben ein intensives Gespräch geführt, das damit endet, dass der Zöllner sein Leben ändert hat und nach den vielen faulen Früchten nun gute Frucht unter die Menschen bringen will. Jesus hat an diesem Abend nicht die Welt gerettet, aber einen Menschen wieder in den Lebensstrom Gottes zurückgeholt.
„Ohne mich könnt ihr nichts tun!“ Das ist ein Stück Befreiung und zugleich eine Einladung, den falschen Leistungsdruck abzulegen. Es geht nicht darum, dass wir literweise dünne Brause mit einem Schuss Traubensaft der Werkgerechtigkeit produzieren, sondern darum, dass unsere Trauben den köstlichen Wein hervorbringen, der etwas von Gottes Ewigkeit widerspiegelt und Herz und Lippen hoch erfreut. Diese Qualität braucht die tiefe Verbindung mit dem, der uns den Kelch gefüllt hat und ihn uns reicht mit den Worten „Für dich vergossen“. Aus seiner Liebe können wir leben. Sie ist der Saft, die Kraft, die reifen und wachsen lässt. Sie durchströmt uns und lässt die Früchte reifen. Hoffen wir auf einen guten Wein, vollmundig, mit tiefem, reinen Geschmack, vom felsigen Boden die Schwere, von der Sonne am Himmel mit leichter Süße verwöhnt.
Können Sie ihn schon schmecken? Starke Bilder, ein wohlschmeckender Tropfen. Geeignet für ein großes Fest. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben.