Predigt zu Johannes 19,16-30 von Claudia Trauthig
19,16-30

Predigt zu Johannes 19,16-30 von Claudia Trauthig

„Es ist vollbracht“.
Mit diesen drei Worten beschließt Jesus sein Leben.
So jedenfalls führt es uns der Evangelist Johannes vor Ohren und das innere Auge.

„Es ist vollbracht!“ - Was für ein Satz am Ende eines dramatischen Lebensweges!?

Was für ein Schlussakkord, liebe Gemeinde, den ja -quer durch die Musikgeschichte- Komponierende immer wieder aufnahmen, nachklingen ließen?

Inmitten von Hass und Tod, am Ort offensichtlichster Gottesferne, Golgatha, sagt Jesus, DER Liebende, DER Lebendige:
„Es ist vollbracht“
– und stirbt.

Nur wenige derer, die doch etwas ganz Neues mit diesem Jesus anfangen wollten, sind an seiner Seite, als dies geschieht.
Gestern waren wir viele, heute sind wir allein. (Zitat von Schülerinnen und Schülern des Joseph-Königs-Gymnasiums Haltern, 25.03. 2015, am Tag nach dem Flugzeugabsturz)

Sterben mitanzusehen, Gewalt nicht aufhalten zu können, Sinnlosigkeit zu ertragen – das ist schwer: immer und überall. (Der schwerste Moment für den Vorstandsvorsitzenden von Lufthansa war es, so sagt er, den Angehörigen in die Augen zu schauen, denen der Tod das Liebste genommen hat.)
Doch jener merkwürdige Jünger, der keinen Namen im Evangelium hat, keine Identität aufweist, bleibt - sieht Jesu Tod mit an. Johannes nennt ihn: „Der Jünger, den Jesus liebte“.

Warum hat er keinen Namen? Meint der Evangelist sich selbst? Oder - meint er womöglich mich und Dich? Wollten wir nicht auch Jesus immer und überall nahe bleiben? Sind wir nicht auch Jüngerinnen, die Jesus liebt, Jünger, die ihn lieben? Aber halten auch wir mit ihm stand, wenn das Leid vor uns steht?

Und es bleibt auch Maria, die Mutter des erwachsen gewordenen Gottessohnes: eine –aus damaliger Sicht- alte Frau, die diesen Jesus geboren hat.
Ausgetragen in der ahnenden Gewissheit, dass ihr damit eine Aufgabe in den Schoß gelegt wurde, die kein Mensch wirklich begreift.

Maria - was hat sie mitgemacht mit diesem Kind? Höhen und Tiefen, Ängste, Hoffnungen und Stolz, Rätsel und Staunen…
Und doch ist Maria jetzt unter dem Kreuz zuallererst: eine Mutter: eine Mutter, die ihr Kind verliert, seinem Sterben zusieht und es überlebt.

Vermutlich ist das das schlimmste Schicksal, das eine Mutter, Eltern durchleiden können.
So ist Maria allen Müttern aller Zeiten und Orte, die dieses Schrecknis teilen, nah.
Nahe den Müttern, nahe den Angehörigen der 150 Passagiere und 6 Besatzungsmitglieder von Flug 4U9525, Barcelona – Düsseldorf.
Nahe den Müttern, deren Kinder von einer sinnlos wütenden Krankheit wie dem grauenvollen Ebola-Virus genommen werden.

Nahe den Müttern, deren Kinder mit einem Schlag aus ihrem Leben verschwinden: durch Unfälle, Mord und Gewalt, Krieg oder Unglück.

Maria und dem Jünger zur Seite sind noch Zwei, die leicht übersehen, überlesen werden:
Da ist zum einen Maria Magdalena. In der Theologiegeschichte nannte man sie „die große Sünderin“. Besser sollten wir sagen: die große Freundin: Jene, die sich nicht vertreiben lässt, sondern bis zuletzt die Treue hält.

Neben Maria aus Magdala, gibt es da noch „die andere Maria“, die Frau des Klopas, Schwester der Mutter Jesu und damit seine Tante. Sie steht der Mutter zur Seite.
Keine große Rolle spielt sie im Evangelium.
Keine große Rolle?

Sagte ich nicht gerade: „Sie steht zur Seite“? Sie ist also einfach da, wo Leid zum Himmel schreit. Einfach da, weil sie mit dabei ist, mit leidet.
Tiefes und echt empfundenes Mit-leid ist eine Begabung und eine Gnade und vor allem ein Liebesdienst. „Die andere Maria“ steht für alle, die so zur Seite stehen, mit-leiden, einfach „da“ sind.

Sie steht für die Notfallseelsorger und Notfallseelsorgerinnen, die in der vergangenen Woche in Düsseldorf und Haltern, in Barcelona und Südfrankreich einfach da waren.

Sie steht für die Rettungskräfte, die alles Menschenmögliche versuchten, schlicht den Opfern verpflichtet waren. Sie steht auch für die Politiker, die sich das Grauen eines Fluges über die Unglücksstelle zumuten ließen, um Beistand zu geben: Trost.

Selig sind, die Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.

Erinnern wir uns?
Vom Berg der Seligpreisungen hat Jesus diesen seltsamen Satz gesagt. „Glücklich im höchsten Sinne, unüberbietbar – also selig“, sagt Jesus, „sind die, die Leid tragen“?

Im tiefen Leid ruht, keimt vollkommene Seligkeit? Das ist ein zunächst ganz unglaublicher Satz - ein Satz, der aus dem Himmel herabgestiegen ist.

Denken wir zurück an die andere große Tragödie, die Europa in diesen Wochen zwischen dem Jahreswechsel und Ostern erschüttert hat, an das Attentat von Paris. Nur zwei Tage (am dritten Tage!) nach dem Anschlag nahmen die überlebenden Redakteure ihre Arbeit wieder auf:
„Der Zeichenstift wird immer der Barbarei überlegen sein.“

Ich bin Charlie – dieser Satz umkreiste die Welt.

7 Millionen Mal wird das Produkt ihrer Arbeit in Windeseile, in 16 Sprachen der Erde, verkauft.
In den ersten zwei Monaten nach dem Attentat erzielt Charlie Hebdo allein durch Zeitungsverkäufe einen Gewinn von über 20 Millionen Euro, zusätzlich gehen viele Spenden ein. Während die Einnahmen durch Spenden allein den Hinterbliebenen der Getöteten zugutekommen, soll der Verkaufserlös unter anderem dafür verwendet werden, eine Stiftung zum Thema Meinungsfreiheit zu gründen. (Wikipedia: Charlie Hebdo)

Liebe Gemeinde,
in das Dunkel fließt ein Lichtstrahl,
in die Leere strömt etwas Neues.
Wie das leise Zwitschern der Vögel auf den Gräbern. Ein neues Lied stimmt an: „Wer Ohren hat zu hören, der höre.“

Können wir es hören?

Ich jedenfalls kann so und nicht anders beginnen zu begreifen, warum Jesus sagt: Es ist vollbracht.

Nicht nur die Schrift, die hier reichlich zitiert wird, hat sich erfüllt. Sondern Jesu Weg hat sich vollendet. Es ist der Weg der ewigen und bedingungslosen Liebe. Einer Liebe, die sich durch nichts und niemanden aufhalten lässt. Keine Machthaber und keine Mächte des Todes können diese Liebe zerstören.

In den bunten Teppich unseres Lebens, der immer wieder voller Grau und Schwarz und leider Gottes erneut auch wieder braun ist, webt Gott sich selbst ein… seine Lichtfarbe der Liebe: Sein Weiß oder Gold oder Rot – wie auch immer wir uns diese unzerstörbare Farbe göttlicher Liebe vorstellen…

Und weil das, liebe Gemeinde, die Botschaft von Karfreitag ist, ist Karfreitag ein Tag tiefer Trauer, aber auch ein Tag keimender Hoffnung. So versteht es und schildert es Johannes.
Es ist ein Tag der Widerstandskraft Liebe, die alles übersteigt, was wir verstehen und die in Ewigkeit bleibt.

Es ist vollbracht!
Bevor Jesus das sagt, wendet er sich jenen beiden noch einmal zu: Frau und Mann, dem namenlosen Jünger und der Mutter: seiner Vergangenheit und der Zukunft seines Dienstes.
Jenen, die das geliebte Kind oder ihren Herrn verlieren, deren eigenes Lieben Gefahr läuft, beziehungslos zu werden, eröffnet er Zukunft: „Frau, siehe, das ist dein Sohn. (…) Siehe, das ist deine Mutter.“
Noch im Sterben ermöglicht Jesus lebendige Liebesbeziehungen, die das Reich Gottes im hier und jetzt kennzeichnen. Jünger und Mutter stehen nicht zuletzt auch für das Volk Israel und uns Heiden. In verwandtschaftlicher Liebe sollten wir einander begegnen.
Es ist vollbracht.

Liebe Gemeinde,
wir sind der namenlose Jünger.
Jeder Karfreitag mutet auch uns zu, unter dem Kreuz zusammenzukommen.
Jeder Karfreitag stellt uns das Leid vor Augen.
Als jene, die sich zu Jesus halten, auf ihn sehen, ihm gehören wollen, können wir weder Augen noch Ohren, weder Hände noch Geldbeutel vor diesem Kreuz und den Kreuzen dieser Welt verschließen. (Sie aufzuzählen ist in der Kürze der Zeit überhaupt nicht möglich.)

In diesen Tagen musste ich immer wieder auch an die Ereignisse vor sechs Jahren in Winnenden denken. Die Bilder aus Frankreich, erst recht nachdem die Hintergründe klar wurden, müssen in den Überlebenden den eigenen Verlust wieder schmerzlich aufgedeckt haben…

Doch ich erinnerte auch ein Hoffnungszeichen, das mich 2009 sehr bewegt hat: Schülerinnen und Schüler der Albertville-Realschule brachten bunte, ganz individuell gestaltete Symbole zum Altar.
Diese Symbole veranschaulichten die Träume der Verstorbenen.
Nachdem die Symbole zum Altar getragen waren, man sich als Betrachterin eine kleine Zeit an ihrer vielfältigen Farbigkeit erholen konnte, wurden sie –wie mit einem Schlag- ganz und gar verdeckt. Der Traum vom Leben der jungen Leute verschwand unter einem schwarzen, schweren Tuch: Karfreitag.
Anschließend folgte eine weitere Rede. Ich konnte kaum folgen, so gebannt war ich von dieser alles gleich machenden Schwärze, unter der die Träume verschwanden…

Sollte es damit enden?

Nein!!! Vor dem Auseinandergehen der Menschen ((nicht nur in Winnenden, sondern an vielen Orten,)) kamen die Mitschülerinnen und -schüler mit der Rektorin wieder zum Altar.
Behutsam, fast zärtlich deckten sie ein Symbol nach dem anderen wieder auf. Nicht vollständig. Das schwarze Tuch war nicht mit einem Mal verschwunden. Aber es beseitigte ihn nicht – den Traum vom Leben:
„Wir verpflichten uns diesen Träumen. Wir beleben sie.“ – so versprachen diese jungen Menschen einmütig.

Frau, siehe, das ist dein Sohn. Siehe, das ist deine Mutter.“ Verpflichtet Euch meinem Leben und Sterben und Auferstehen…
Mit Gottes Hilfe. Mit Gottes Hilfe, liebe Gemeinde, beleben auch wir die Träume vom wahren Leben, verpflichten uns der Hoffnung.

Mit Gottes Hilfe erkennen wir im Antlitz des Gekreuzigten die unzerstörbare Liebe.
Mit Gottes Hilfe halten wir die Lücke zwischen den Lebenden und den Toten. Zwischen dem Gekreuzigten und allen mütterlichen Jüngern oder brüderlich Nachfolgenden. Mit Gottes Hilfe erkennen wir in dem ans Kreuz Erhöhten den himmlischen Herrn der Herrlichkeit.
Ja, liebe Gemeinde, „es ist vollbracht“ –
und es bleibt uns noch soviel zu tun –
bis ans Ende der Zeit!

Amen.