Predigt zu Johannes 3, 22-30, Sven Evers (Tag Johannes des Täufers)
3,22
Ein Wort zuvor:
Schon im ersten Lesen bin ich am Schlußteil der Perikope hängen geblieben. „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen“ heißt es dort. Nähme ich das einfach so hin, wenn ich an Johannes’ Stelle wäre? Träte ich so ohne weiteres in die zweite Reihe zurück? Was macht das mit mir? Aber andererseits: Johannes hat seinen Ort gefunden. Er leidet nicht unter seiner Rolle Jesus gegenüber.
Diesen Gedanken spürt der folgende Predigtversuch nach, der – manchmal ist es ja gar nicht so leicht, eigene Worte zu finden – niemand anders als Johannes selber zu Wort kommen lässt.
Natürlich gäbe und gibt es mehr und anderes über den Text, über Johannes und auch über sein Verhältnis zu Jesus zu sagen. Allein: manchmal ist ja schon ein Gedanke mehr als genug.
Liebe Gemeinde,
ich danke Euch, dass ich auch einmal zu Wort kommen darf. Ja, sogar einen Festtag habt Ihr mir bereitet zum Tag meiner Geburt. Eure katholischen Schwestern und Brüder begehen ihn regelmäßiger und ausführlicher. Aber das macht nichts. Ich freue mich, dass Ihr hier versammelt seit. Ich freue mich, dass Ihr mich nicht ganz vergessen habt; nicht nur den in mir seht, der veraltet oder überholt oder nicht mehr up to date ist. Das ist gut. Denn ich glaube, ich habe Euch wichtiges zu sagen.
Johannes mein Name. Ihr kennt mich mit dem Beinamen „Der Täufer“. Ihr kennt mich als  den Vorläufer, den Wegbereiter Jesu. Und vielleicht fragt Ihr Euch, ob ich denn zufrieden sein kann mit dieser Rolle. Ob ich mir nicht mehr gewünscht haben mag, so wie Ihr Euch manches Mal wünschen mögt, mehr zu sein als nur Wegbereiter oder – böse gesprochen – „Wasserträger“ von...
Ich kann Euch sagen: ich bin gerne der, der ich bin.
Nicht nur, weil es keinen Sinn macht, jemand anders sein zu wollen – das würde nur dazu führen, das Leben zu verfehlen.
Nicht, weil ich mich etwa damit erst mühsam hätte abfinden müssen, dass ich kein anderer bin.
Nein, ich habe meine Aufgabe, ich habe meinen Platz in nichts geringerem als in der Geschichte unseres Gottes mit uns Menschen. Ich neide Jesus nicht seine Popularität. Ich neide ihm nicht seine Anhängerschaft. Ich bin ich. Und Jesus ist Jesus.
Findest Du es schwer, das zu glauben? Vielleicht leidest Du unter Deiner angeblichen Unbedeutsamkeit? Vielleicht möchtest Du gerne mehr oder anderes sein als Du bist? Vielleicht neidest Du anderen die Aufmerksamkeit, die sie auf sich ziehen? Oder ihr Können oder ihre Beredsamkeit oder anderes, was sie von Dir unterscheidet und aus Deiner Sicht über Dich hinaus hebt?
Ich weiß, dass in Eurer Zeit immer das Neueste wichtiger ist als das Alte. Ich weiß, dass in Eurer Zeit das Alte sehr schnell nicht nur alt wird, sondern veraltet, obsolet wird, und im Nichts der Vergangenheit zu versinken droht. Ich weiß, dass Ihr Euch immerzu nach Neuem sehnt – und doch zugleich Angst davor habt. Angst, dass auf einmal anders werden könnte, was vertraut ist und gewohnt. Angst, dass mit dem Vergehen von Altem auch vieles Gute vergehen könnte, das Ihr gerne bewahren wollt. Es ist nicht leicht, den rechten Ort zu finden im Lauf der Welt. Weder persönlich noch auch für die Verhältnisse um uns herum, die wir geschaffen haben und die uns bestimmen. Auch zu meiner Zeit war es nicht leicht.
Ja, und ich weiß auch, dass in Eurer Zeit oftmals der nur etwas gilt, der in der ersten Reihe steht. Im Rampenlicht. „No Time for Losers“ – nur der Gewinner zählt. Und auch das nur, bis er das nächste Mal verliert. Nur der Superstar gilt etwas. Und auch das nur, bis er im Sumpf der Mittelmäßigkeit versinkt. Vergessen. Abgeschrieben. Nicht mehr auf den Titelseiten; nicht einmal mehr auf Seite drei... Es ist nicht leicht, den rechten Ort zu finden im Lauf der Welt. Weder persönlich noch auch für die Verhältnisse um uns herum. Auch zu meiner Zeit war es nicht leicht.
22  Jesus kam mit seinen Jüngern in das Land Judäa und blieb dort eine Weile mit ihnen und taufte. 23 Johannes aber taufte auch noch in Änon, nahe bei Salim, denn es war da viel Wasser; und sie kamen und ließen sich taufen. 24 Denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis geworfen.
25 Da erhob sich ein Streit zwischen den Jüngern des Johannes und einem Juden über die Reinigung. 26 Und sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: Meister, der bei dir war jenseits des Jordans, von dem du Zeugnis gegeben hast, siehe, der tauft, und jedermann kommt zu ihm. 
Merkt Ihr’s? Neid und Missgunst. Vielleicht aber auch nur Unsicherheit und die Frage, wo denn nun eigentlich unser Ort ist. „Wie kann es denn sein, dass der, den doch Du getauft hast, auf einmal selber tauft? Wie kann es denn sein, dass Dein Schüler sich auf einmal anmaßt, Lehrer zu sein? Wie kann es denn sein, dass der, der doch vor Dir niederkniete, sich nun so über Dich erhebt.“ Das waren die Fragen meiner Jünger. Wie kleine Kinder verhielten sie sich. Oder besser: wie Eltern vielleicht, die nicht einsehen mögen, dass das Kind auf einmal eigene Wege geht, dass es auf einmal die stützende Hand der Mutter oder des Vaters nicht mehr braucht.
Wer selber nicht fest steht, wo er oder sie steht, dem fällt es wohl schwer anzuerkennen, dass andere das tun; dass andere auf einmal eine wichtigere Rolle spielen als man selber. Selbst-ständigkeit – ja, die braucht es wohl, um den anderen als anderen und nicht als Bedrohung oder Infragestellung des eigenen zu betrachten.
Ich habe meinen Jüngern geantwortet:
Ein Mensch kann nichts nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben ist. 
Das ist doch das Entscheidende. Ihr sagt, man müsse etwas aus seinem Leben machen. Aber mal ehrlich: was hast Du denn, das Du nicht empfangen hast? Was hast Du in Deinem Leben erreicht – bei aller Wertschätzung für Deine Leistung! –, das Du, wenn Du ehrlich bist, nicht vielen und vielem anderen verdankst? Deinen Eltern, die Dich gefördert haben; den Freundinnen und Freunden, die an Dich geglaubt und Dich aufgebaut haben, wenn Du am Boden lagst; Deinem Umfeld, in das Du hineingeboren wurdest und das Du nicht selber gewählt. Du kannst nichts nehmen, was Dir nicht vom Himmel gegeben ist. Und Dir ist vom Himmel so viel gegeben! Schau nicht immerzu auf die anderen; schau nicht immerzu auf das, was Du nicht hast und nicht bist, sondern schau doch einmal auf das, was Du hast und bist und Du wirst sehen: Du bist so reich beschenkt! Du hast einen Ort in der Geschichte. Du spielst eine Rolle! In jeder Begegnung mit anderen Menschen, in jedem Gespräch, in jedem Lachen und Weinen, in jedem guten Wort und natürlich auch in jedem Streit: Du hinterlässt Spuren im Leben all derer, denen Du begegnest auf Deinem Weg! Du bist nicht nichts, Du bist ein Mensch, der in der großen Geschichte Gottes mit uns Menschen mitspielen darf. Laß Dir also nicht einreden, Du seist unwichtig oder unbedeutend und rede es auch Dir selber nicht ein! Du kannst nichts nehmen, was Dir nicht vom Himmel gegeben ist. Aber nimm das, was Dir vom Himmel gegeben ist!
28 Ihr selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht der Christus, sondern vor ihm her gesandt. 29 Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dabeisteht und ihm zuhört, freut sich sehr über die Stimme des Bräutigams. Diese meine Freude ist nun erfüllt. 30 Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.
 Ja, es ist so: meine Freude ist nun erfüllt. Ich habe Zeit meines Lebens auf ihn gewartet, der unser Volk erlösen wird. Nicht so, wie manche meinen, von der Herrschaft der Römer. Viel weiter, viel tiefer, viel umfassender: von der Herrschaft dessen, was wir Alten „Sünde“ nennen. Von dem ewigen Kreisen um sich selber; von der ewigen Sucht nach mehr und immer noch mehr; von dem Versuch, höhere und noch immer höhere babylonische Türme zu errichten mit unserem Wissen, unserer Macht, unserer Wissenschaft; von unserem: wie Gott sein wollen.
Als er dann damals vor mir stand am Jordan, da wusste ich: er ist es. Und ich darf mit dem Finger auf ihn zeigen. Ich darf – manch eines Eurer Altarbilder stellt es genau so dar – ich darf auf ihn weisen, darf Euch Wegweiser sein.
Und übrigens: ich glaube, genau das ist auch Eure Aufgabe als einzelne und als Kirche: auf Jesus zu zeigen, anderen Menschen zu erzählen von ihm, auf ihn zu weisen, der Leben wirklich lebenswert, sinnvoll, lebendig zu machen vermag.
Und sagt nicht, es sei eine einfache Aufgabe, das zu tun. Wie oft erlebe ich, dass der Wegweiser sich auf einmal zum Zielort erhebt. Wie oft begegne ich Menschen, die vorgeben, etwas zu zeigen und doch im Grunde nur sich selber darstellen. Wie oft begegne ich Leuten, die in geheuchelter Demut nichts anderes im Sinn haben, als hochmütig sich über alle und alles zu erheben, was nicht ihrer persönlichen Meinung entspricht. Nein, einfach ist es vielleicht nicht. Wer stellt sich denn gerne hin, weist auf den, der da kommen soll und sagt: Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen? Auch ich musste meine Rolle erst lernen, musste den Boden, auf den Gott mich stellte, erst als den Boden erkennen, auf dem ich nicht nur stehen soll, sondern auf dem ich gerne stehe, weil ich weiß: hier stehe ich und anderes macht keinen Sinn, wenn ich ich bleiben will, wenn ich mich nicht verlieren, nicht verfehlen will. Auch ich habe mich natürlich gefreut über die Menschen, die zu mir kamen, habe mich gefreut, wenn meine Predigt auf offene Ohren und Herzen traf und mir wohl manches Mal im stillen auf die Schulter geklopft über die gelungene Rede. Das ist ja auch gar nicht schlimm. Aber es ist eben nicht das eigentliche, nicht das Entscheidende, nicht das, worauf es letztlich ankommt.
Denke daran, wenn Du mal wieder vor Dir weglaufen willst. Denke daran, wenn Du Gefahr läufst, von Gott zu reden aber doch Dich selber zu meinen. Denke daran, wenn Du die Hand zur Hilfe reichst und nur den Dank im Blick hast, der Dir zuteil werden mag.
Denkt auch daran, Ihr, die Ihr Euch Kirche Jesu Christi nennt, wenn ihr in Eurem Bemühen um Reformen, um „Zeitgemäßheit“, um Zahlen und um Geld Euch selber in den Mittelpunkt zu stellen droht und Gott verdrängt, der doch allein in den Mittelpunkt gehört und um dessentwillen übrigens die Menschen Eure Häuser und Eure Gottesdienste aufsuchen. Gottes-Dienst. Nehmt das Wort ernst in Eurem tun. Gottes Dienst an uns und unseren Dienst an Gott – darum geht es und um nichts anderes. Und genau darin werden wir doch gerade die, die wir sind.
Sage aber vor allem nicht, es sei keine würdige Aufgabe, hinzuweisen auf den, der da kommt im Namen des Herrn. Sage vor allem nicht, das Abnehmen um dessentwillen, der wachsen muss, sei Duckmäuserei vor dem Leben, sei ein Sich-Klein-Machen und selbst erniedrigen um der Selbsterniedrigung willen. Ich weiß, dass Generationen vor Euch lange so gesprochen haben – der Mensch möge klein werden in seiner Sünde, damit die Gnade Gottes nur umso leuchtender erstrahlen könne.
Nein, das genaue Gegenteil ist doch der Fall!
Wenn ich nicht krampfhaft versuche zu sein, der ich nicht bin, werde ich frei zu sein, der ich bin.
Wenn ich nicht verbittert schaue auf das, was anderen gegeben ist, werde ich frei zur Freude über das, was ich habe.
Wenn ich nicht mit fressendem Neid dem anderen missgönne, was ihm gegeben ist, werde ich frei zu gemeinsamer Freude.
Wenn ich um des anderen Willen zurücktrete, um ihn ins Rechte Licht zu rücken, werde ich auch allererst im rechte Licht da stehen und strahlen können.
Vielleicht mag Euch meine Geschichte helfen. Vielleicht ist es gut, dass Ihr heute hier zusammengekommen seid, um meine Geschichte zu hören.
Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen. Aber ich freue mich über die Stimme dessen, der da gekommen ist im Namen des Herrn. Ich habe meinen Ort. Und merkt Ihr etwas: so ganz unbedeutend kann dieser Ort ja kaum sein, wenn Ihr noch in Euren Tagen von mir sprecht und mich zu Wort kommen lasst.
Stellt Euch neben Jesus. Stellt Euch unter ihn. Zeigt auf ihn. Und dann: seid Ihr selbst.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
Perikope
26.06.2013
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