Predigt zu Johannes 4, 19-28 von Bert Hitzegrad
4,19
Liebe Gemeinde,
es gibt Menschen, die haben eine nicht so  hohe Meinung von ihrer Verwandtschaft: „Freunde kann man sich aussuchen. Verwandtschaft hat man!“, heißt es kurz und vielsagend. Da klingt und schwingt viel an familiärer Distanz und verwandtschaftlichem Ballast mit. „Verwandtschaft hat man“ – die wird man nicht los, Bruder bleibt Bruder und Schwester bleibt Schwester …
Als Christen haben wir auch Verwandtschaft. Nicht nur die gläubige Geschwisterschar, die sich Sonntag für Sonntag in den weltweiten Kirchen trifft. Nein, wir haben noch ältere entferntere Verwandte. Oftmals kennen wir sie gar nicht persönlich, haben aber von ihrem Schicksal gehört. Und wir wissen, dass wir gemeinsame  Mütter und Väter des Glaubens haben. Es kann vorkommen, dass wir uns bei Trauerfeiern treffen – „immer nur bei traurigen Anlässen“, sagt der eine oder andere. Und dann kommt immer wieder die Idee: „Wir müssten uns auch mal zu anderen Gelegenheiten treffen, in den glücklichen Zeiten, wir müssten hören voneinander, mehr erfahren, wie geht’s dir, was macht dein Leben aus?“ Und: „Lass uns mal nach unseren gemeinsamen Wurzeln forschen …!“
Einmal im Jahr lädt der kirchliche Kalender zu solche einem Nachdenken über unsere Verwandtschaft ein. Doch wir müssen ehrlich sein: Es ist kein Gespräch, es ist kein Dialog, es ist einseitig. Aber es ist gut darüber nachzudenken, was uns – Christen und Juden - verbindet. Und es ist wichtig, nicht nur an den schweren Tagen wie am 9. November, dem Gedenktag an die Reichspogromnacht 1938, daran zu erinnern, was uns einst getrennt hat.
 Denn: Wie im richtigen Leben, es ist nicht immer leicht mit der Verwandtschaft – mit der leiblichen und mit der geistigen.   Wir haben es uns nicht immer leicht gemacht – und geschwisterliche Liebe war da selten zu spüren. Da gab und gibt es unendlich viele Konflikte, es gab und gibt Schuld und Scham. Das zeigt ein Blick in die Vergangenheit – und besonders unsere Geschichte, die deutsche Geschichte ist voll davon. Auch die Kirche und die, die in den Kirchen Verantwortung tragen, haben nicht immer eine „familienfreundliche“ Rolle gespielt. Dr. Martin Luther selbst hat bei allen richtigen und wichtigen Reformen seiner Zeit das schon zerrüttete Verhältnis nicht heilen können, sondern hat den Hass noch vertieft, der im Laufe der Jahrhunderte Millionen jüdischer Glaubensgeschwister das Leben kostete. Die Theologie hatte keine Mühe, sich von parteipolitscher Propaganda instrumentalisieren zu lassen:  „Die Kirche löst die jüdische Religion ab … " - ein altes Credo, das dem jüdischen Glauben alles Lebensrecht nahm. Noch viel mehr: Den Geschwistern im Glauben wurde die Schuld für den Tod Christi gegeben:  „Die Juden haben den Messias umgebracht" - dunkle Seiten der Geschichte, dunkle Seiten auch der biblischen Botschaft, dunkle Seiten in der Verwandtschaft, die sich gemeinsam auf Abraham, Issak und Jakob beruft.
Eine der dunkelsten Seiten in der Geschichte des jüdischen Volkes ist die mehrmalige Zerstörung ihres Heiligtums – der Tempel in Jerusalem, zuletzt im Jahre 70 n.Chr. durch die Römer. Mit dieser Zerstörung und Vertreibung hat eine Jahrtausende lange Odyssee des jüdischen Volkes begonnen. Lange galt der heutige „Israelsonntag“ als Tag des „Gedenkens an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem“.  Aber Gott sei Dank kann auch in die verwandtschaftlichen Beziehungen neue Bewegung kommen, neues Denken, neues Aufeinanderzugehen …  Deshalb ist dieser Sonntag zu einem Tag geworden, um neu aufeinander zu zugehen, um neu über das Verhältnis von „Kirche und Israel“ nachzudenken. Und dass das Verhältnis längst nicht klar bestimmt ist, zeigt die aktuelle Diskussion in der Synode der Hannoverschen Landeskirche zur Frage der Judenmission
„Verwandtschaft haben wir!“ Wenn wir schon einmal so weit sind, dass wir das im Blick haben, sind wir  einen guten Schritt vorangekommen. Die geistlichen Wurzeln des Christentums liegen in der jüdischen Religion. „Das Heil kommt von den Juden“, so lautet es in unserem heutigen Predigttext. Aber wie gehen wir mit dieser Verwandtschaft um? Ist die“ Judenmission“ ein Irrweg von gestern?  Haben die Juden einen „Sonderweg“ zum Heil? Sind sie uns als Glaubensgeschwister überhaupt gleichwertig oder sind sie eher „Stiefkinder des Glaubens“?
Der Predigttext für den „Israelsonntag“ macht Mut, macht vor allem Mut zum Dialog. Denn Jesus selbst führt ein Gespräch. Er, der Jude, führt das Gespräch mit der Samariterin. Beide, Juden und Samariter waren getrennt, haben sich verketzert, haben an unterschiedlichen Orten den gemeinsamen Gott, den Gott  Abrahams, Isaaks und Jakobs angebet – Verwandtschaft ja, aber Spinne feind.
Wir hören hinein in das Gespräch am Jakobsbrunnen das beide bei Johannes (Joh 4, 19-26) führen. 
 Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist.  Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll. Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet.  Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir wissen aber, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin's, der mit dir redet.
„Und Gott segne dieses sein Wort an uns und lass es auch durch uns zu einem Segen werden.“
Ein Dialog, in dem der Jude Jesus und die Frau aus Samaria spüren, dass sie mehr eint als trennt. Ein Dialog, der mit einem Paukenschlag endet: „Ich bin’s!“, der dem Gegenüber aber nicht die Wahrheiten um die Ohren haut – „nun glaube und bekenne!“  Die Frau spürt, dass hier eine besondere Begegnung stattfindet. Es geht nicht nur um das Wasser aus dem Jakobsbrunnen, das sie schöpft und von dem Jesus trinken möchte. Es geht um die Tiefe des Lebens, die Wurzeln, das  „lebendige Wasser“. Und am Ende der Doppeldeutigkeit die Eindeutigkeit: „Das Heil kommt von den Juden“ und das Heil schenkt Gott in seinem Messias – und der ist es, der mit ihr redet.
Die Autorität, mit der Jesus redet, steht von Anfang an fest. Für den Evangelisten Johannes steht das außer Frage. Wer Jesus begegnet, begegnet Gott selbst. Und der hat offenbar ein weites Herz. Denn er begegnet nicht nur einem Mitglied der verfeindeten Religionsgruppe, sondern auch einer Frau – undenkbar für seine Zeit. Das macht die Samariterin auch deutlich im Gespräch: „Wie, du bittest mich um etwas zu trinken, der du ein Jude bist und ich eine samaritanische Frau!“ (Joh 4,9)  Und von ihr lässt er sich nicht nur das Wasser reichen, sondern von ihr – nicht von den Jüngern oder den frommen Juden – sondern von ihr, der Samaritanerin, aktzeptiert er auch den Titel „Messias“ – „Ich weiß, dass der Messias kommt!“ sagt sie, und Jesus antwortet: „Ich bin’s“.
Wer ist diese Frau, mit der Jesus den hochtheologischen Diskurs führt? In den Augen der Männer ihrer Zeit nur eine Gehilfin, dem Manne untertan. In den Augen der Juden eine Ketzerin, weil sie dem Volk der Samariter angehört, die einen Sonderweg des jüdischen Glaubens gehen. Sie erkennen nur die fünf Bücher Mose an und versuchen danach ihren Glauben und ihr Leben auszurichten; ihr heiliger Ort ist nicht der Zion, sondern der Garizim; und sie meinen tatsächlich, sie seien besser und frommer und gottesgläubiger als ihre jüdischen Geschwister … Und doch, der Jude Jesus reist durch ihr Land und spricht mit dieser Frau und findet bei ihr tatsächlich ein tiefes Verständnis für die Wahrheiten.
Sie ist nicht die einzige Vertreterin ihrer Glaubensgemeinschaft, die für Jesus vorbildlich ist.   „Der „barmherziger Samariter“ ist durch Jesus und die Evangelisten weit über seine Landesgrenzen hinaus bekannt geworden. Sogar einfältige Konfirmanden würden ihn heute zu ihren Freunden bei Facebook adden, weil sie sein Verhalten gut und vorbildlich finden. Der Wanderer aus Samarien geht  auf dem Weg nicht – so wie es die frommen Vertreter des Judentums vor ihm getan haben - an dem Kranken vorüber, sondern die Not und das Leid des verletzten und kranken Menschen am Wege rühren ihn an. Er kümmert sich um den Notleidenden, bringt ihn in eine Herberge, wo er dem Wirt Geld für die Krankenpflege gibt. Kaum eine andere Geschichte ist noch heute so präsent im christlichen Abendland und hat den  Gedanken von sozialer Fürsorge in Europa geprägt hat. Das ist eine Geschichte aus dem -  wenn auch gespaltenen - Judentum. In dieser und in vielen anderen Erzählungen liegen unsere Wurzeln – und Jesus weißt immer wieder darauf hin: „Das Heil kommt von den Juden …“
Und heute? Es gilt und bleibt,  dass „christliche Kirche von dem göttlichen Erbarmen lebt, das mit der Erwählung Israels in die Völkerwelt eintrat" (Hans-Joachim Kraus) und  dass wir „als wilde Zweige dem edlen Ölbaum Israel aufgepfropft sind (Röm 11,17f)!
„Verwandtschaft hat man!“ Wie gut und wichtig ist, dass wir von diesem Erbe leben und  auf diese Wurzeln unseren Glauben gründen  können. Manchmal hat es allerdings den Anschein, als solle diese Verwandtschaft geleugnet werden, lieber neue Freunde in Esoterik und fremden Religionen finden als das Gespräch und den Dialog mit der eigenen Familie wagen.
Und manchmal tun sich dann ganz neue Einblicke auf. Einen Blick in eine Synagoge habe ich vor kurzem gewagt – in Riga/Lettland. Gleich neben der reformierten Kirche dort  steht das von außen unscheinbare Gebäude. Aber von innen strahlt dieser Raum die Freude eines Festsaals aus – die leuchtenden Farben der Bibelworte an den Wänden, die bunten Rosetten, die spielerisch die Bänke säumen, das kostbare Gold der Säulen, die groß und erhaben wie im Tempel Salomos stehen … Und dazu der freundliche Küster, der das Gespräch sucht, ohne Berührungsängste den Gästen aus Deutschland gegenüber, und der quirlig und witzig von seinem Glauben, von seinem Volk, von seiner Synagoge erzählte. Und der zum Schluss auch die ängstliche Frage der Besucher aus dem Land des Pogroms beantwortet: „Und ist auch diese Synagoge in den Flammen der Nazis aufgegangen?“ „Nein, nein!“ lächelt der Küster mit seiner schiefsitzenden Kippa, „das ist an uns vorüber gegangen, Gott sei Dank! Beschützt hat uns der Einspruch unserer Geschwister von nebenan, die reformierte Kirche. Sie sagten, wenn die Synagoge brennt, dann brennt unsere Kirche mit ab … Und die Nazis haben es nicht mehr gewagt …!“
Was hätte alles verhindert können, wenn es mehr gewagt hätten, wenn mehr gesagt hätten: „Wenn ihr unsere jüdischen Geschwister angreift, greift ihr uns an!“ Steht eine Familie nicht füreinander ein?
Für mich ist der  heutige Sonntag, der Israelsonntag mit dem Nachdenken über das Verhältnis von Christen und Juden  eine Gelegenheit, sich zu erinnern: Unser Gott ist der Gott Israels, der „Gott Abrahams, (der) Gott Isaaks, (der) Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten" (Blaise Pascal). Zu uns spricht der gleiche Gott wie zu unseren Geschwistern aus Israel, die gleichen Verheißungen machen unsere Herzen weit und glücklich und Menschen durch alle  Generationen sprechen die  Verse der Psalmen und finden Trost und Kraft und Hoffnung in Ihnen.  Aus Israel kommt unser Erlöser, das Heil kommt von den Juden  und die himmlische Stadt heißt Jerusalem, Stadt des Friedens, und nicht Rom oder Wittenberg, nicht Berlin oder New York.
Unser gesamter christlicher Glaube ist aus dieser Tradition hervorgekommen, aus der Tradition, in der auch Jesus lebte. Paulus hat diesen Glauben von der jüdischen Welt in die nichtjüdische Welt übersetzt. Aber auch er blieb den Wurzeln immer treu: „… so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel, sondern die Wurzel dich trägt!“ (Röm 11,18)
Ich  gestehe gern: Ich weiß zu wenig von diesen Wurzeln, ich weiß zu wenig von den Geschwistern im jüdischen Glauben. Ich möchte mit ihnen ins Gespräch kommen, hören, was es für sie bedeutet nach den Geboten zu leben, fragen, wie Gott ihnen in den Gottesdiensten begegnet und wie der Glaube im Alltag immer wieder sichtbar wird. Schon jetzt glaube ich, dass wir uns auch in diesen Fragen näher sind als wir ahnen.
„Verwandtschaft hat man“ – ich habe das Gefühl, dass diese „alte Verwandtschaft“ eher „ neue Verwandtschaft“  ist und dass wir uns ganz neu auf einen gemeinsamen Weg machen müssen, um uns dann  darin auch immer wieder zu bestärken, dass wir Kinder unseres gemeinsamen himmlischen Vaters sind, der sich sein Volk, seine Familie, seine Menschen ausgesucht hat, um ihnen, um uns nahe zu sein. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Seelen in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.
Perikope
04.08.2013
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