Predigt zu Johannes 5, 39-47, Peter Wick
5,39

Predigt zu Johannes 5, 39-47, Peter Wick

Liebe Gottesdienstgemeinde,
der Bibeltext zur heutigen Predigt steht in Joh 5,39-47.
39 Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist’s, die von mir zeugt;a40 aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.
  41 Ich nehme nicht Ehre von Menschen;42 aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt.43 Ich bin gekommen in meines Vaters Namen und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen.44 Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?
  45 Ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft.46 Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben.47 Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?
Wir hören von einem Konflikt. Noch vor 40 Jahren wäre es kaum bestritten gewesen, dass dieser Text - geschrieben irgendwann vor dem Ende des 1. Jahrhunderts - zeigt, dass Christen und Juden zu dieser Zeit schon von einander getrennt sind. Vor 20 Jahren wären viele noch sicher gewesen, dass dieser Text ein Zeugnis dafür ist, dass die Wege von Christen und Juden angefangen haben, definitiv auseinander zu gehen. Heute sind solche historische Deutungen in die Krise geraten. Denn noch zweihundert Jahre später kämpft die Synode von Elvira in Spanien vehement dagegen, dass Christen ihre Felder von Juden segnen lassen. Dreihundert Jahre später wettert Chrysostomos in Antiochien dagegen, dass Christen die Synagoge besuchen. Diese Polemiken zeigen, wie nah Christen und Juden im Alltag noch zu einander stehen konnten. Nein, dieser Text ist zwar ein Konflikttext, aber ein Text von Konflikten mit den Nahen, nicht mit den Fernen. Wir Menschen geraten auch heute meist mit denen in Streit, die uns nahe stehen, nicht mit denen, die ferne sind. Wir streiten uns in der Familie oder in der eigenen Fakultät, aber viel weniger mit anderen Fakultäten. Jesus tadelt in diesem Evangelium seine Landsleute, die Mitjudäer, die Nahe, weil sie das Nahe nicht sehen wollen.
39 Ihr erforscht die Schriften, denn ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; und sie sind es, die über mich Zeugnis ablegen,40 aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.
Jesus wirft ihnen nicht vor, dass sie die Heiligen Schriften  erforschen. Er wirft ihnen auch nicht vor, dass sie darin das ewige Leben suchen. Im Gegenteil, sie richten ihre Aufmerksamkeit in die richtige Richtung und tun das mit dem richtigen Ziel. Ihr Ziel ist das Leben, das Leben ohne Ende. Der Vorwurf lautet: Wenn ihr in die Schriften schaut und nach dem Leben sucht und ich bei euch bin, dann müsstet ihr erkennen, dass ich es bin, auf den die Schriften weisen und ich es bin, der euer Ziel verkörpert: Das Leben. Der eigentliche Vorwurf lautet: Ihr wollt das Gute, aber nicht so, wie es ist und vor euch liegt. Ihr wollt das Gute, aber nicht so, wie Gott es euch nun gibt.
Aus der Fülle der Schätze, die dieser Text enthält, soll dieser Gedanke heute im Mittelpunkt stehen.
Johann Wolfgang von Goethe hat in „Erinnerung“ gedichtet:
Willst du immer weiter schweifen?
  Sieh, das Gute liegt so nah.
  Lerne nur das Glück ergreifen:
  Denn das Glück ist immer da.
Ihr sucht das Leben - sagt unser Text. Siehe, es steht vor euch. Ihr sucht bei Mose: Er spricht von mir.
Viele Menschen fragen nach Gott, sehnen sich nach religiösen Erfahrungen, wollen endlich einmal Gottes Stimme hören. Sicher, es gibt Erfahrungen der Gottes Ferne, es gibt das dunkle Erleben, dass Gott schweigt. Aber das ist das nicht Alltägliche, das ist der Kampf Hiobs mit Gott, der nach der Rahmenerzählung gerade nicht sein Leben war, sondern eine bestimmte Phase seines Lebens. Wir Protestanten vertrauen darauf, dass Gott durch sein Wort zu uns spricht, wenn wir die Bibel lesen, wenn wir das Wort in einem Gottesdienst hören. Doch dieser Glauben ist oft angefochten. Ist das Gottes Stimme? Oder ist das jetzt eine menschliche Stimme? Die exegetische Wissenschaft der letzten zweihundert Jahre hat viel Energie investiert, um zu zeigen, wie sehr dieses Wort menschlich und geschichtlich (eingebettet) ist, aber viel weniger geforscht, wie es trotz aller historischen Gräben doch immer wieder unmittelbar wirken kann. So wie Paulus an die Römer schreibt:
„Die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht so: … »Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.« Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen.“
 Sieh, das Gute liegt so nah! Es ist Aufgabe der Wissenschaft, beobachtende Distanz zu schaffen, aber es ist nicht ihre Aufgabe, Nähe, Unmittelbarkeit und Kraft zu verhindern.
Willst du immer weiter schweifen?
  Sieh, das Gute liegt so nah.
  Der Alltag ist voller Zeichen.  Gott führt uns nicht nur in den Alltäglichkeiten, sondern auch durch diese, wenn er uns überhaupt führt. Denn wir kommen in diese oder jene Umstände und verändern uns - anders als wenn wir in andere Umstände geraten würden. Wir wählen diesen Beruf und sind zuletzt nicht genau derselbe, als wenn wir einen anderen gewählt hätten. Wir ziehen in diese Stadt oder Land, und unsere Identität verändert sich anders als wenn es anders gekommen wäre. Vieles, was uns betrifft, haben wir nicht im Griff, anderes beeinflussen und gestalten wir durch unsere Entscheidungen. Beides prägt uns. Wenn Gott uns führt, und das tut er, wenn er denn  sich nicht ganz von seiner Schöpfung zurückgezogen hat, dann führt er uns auch durch viele Alltäglichkeiten und noch mehr durch unsere Mitmenschen.
Willst du immer weiter schweifen?
  Sieh, das Gute liegt so nah.
  Unser Text sagt, dass nicht alles gut ist. Es gibt Streit und Zwist. Auch nicht alles, was uns umgibt und was wir hören ist gut: Wir müssen zwischen gut und bös unterscheiden, im hier und jetzt. Doch wir können das Gute nicht in die Ferne verlagern: Wenn wir jetzt an einem schönen Strand wären, dann könnten wir vielleicht wieder Gottes Stimme oder auch uns selbst wahrnehmen. Nein, das Gute liegt so nah. Das Gute liegt auch nicht einfach in der Vergangenheit oder in der erhofften Zukunft. Nein, wenn Gott an uns wirkt, dann wirkt er jetzt an uns.
Ein Pfarrer besucht zu Fuss das Nachbardorf. Unterwegs gerät er in einen Sumpf, aus dem er sich nicht mehr befreien kann. Voller Vertrauen bittet er Gott um Hilfe. Da erklingt das Sirenenhorn und die Feuerwehr fährt vor bei. Er lehnt ihre Hilfe dankend ab. „Ich habe gebetet, Gott wird mir helfen, fahrt zu eurem Einsatz“. Als die Feuerwehr zurückkommt, steckt er schon bis zum Bauch im Schlamm. Wieder lehnt er die Hilfe ab, schließlich will er seinen vorbildlichen Glauben in Gottes Hilfe demonstrieren. Als die Feuerwehr für den nächsten Einsatz vorbeikommt, steckt er schon bis zum Hals im Sumpf. Wiederum lehnt er die Hilfe ab, denn sein Glauben in Gottes rettendes Eingreifen ist unerschütterlich. Als die Feuerwehr wieder zurückkommt, ist er verschwunden. An der Himmelspforte wird er von Petrus herzlich empfangen. Doch der Pfarrer will zuerst ein ernstes Wörtchen mit ihm sprechen: Ich habe so gebetet und geglaubt, und doch bin ich umgekommen. Was ist eigentlich mit euch im Himmel los?
Petrus zuckt die Schultern und antwortet: Tut uns leid, aber mehr als dreimal die Feuerwehr vorbeischicken, können auch wir nicht.
Das Gute liegt so nah. Wie oft hat Gott - vielleicht heute - durch andere und durch Umstände zu uns gesprochen? Welche Naturschönheit hat er uns in den Weg gelegt, um uns zu beglücken? Wie oft hat er uns ein Lächeln geschenkt, um uns aufzuheitern? Haben wir es bemerkt? Haben wir darauf geachtet? Mit welchen Abwehrstrategien haben wir manches verhindert? Von diesem Menschen nehme ich prinzipiell nichts an, er ist viel zu unbedeutend oder zu nervig … was soll eine Blume auf meinem Weg, bei den wichtigen Projekten, die ich gerade verfolge … Ein Kinderlächeln ist zwar gut und recht, aber jetzt habe ich keine Zeit, dieses wahrzunehmen.
Am Rande der Kirche und außerhalb von ihr gibt es einen riesigen Boom von östlicher Spiritualität: Yoga, Qigong, Taichi und weitere östlicher Meditationsformen oder asiatisch-europäische Neo-Adaptionen alter Traditionen und Mixformen bieten religiös suchenden Menschen attraktive Angebote. Es gibt Ashrams in Deutschland, in denen jedes Jahr hunderte von Yogalehrern ausgebildet werden. Die Kirchen reagieren bis jetzt, wenn sie diese Entwicklungen überhaupt wahrnehmen, eher hilflos darauf. Ich beobachte zwei besonders attraktive Angebote, die in diesen verschiedenen Bewegungen sehr zentral sind und zugleich Schwächen der Kirchen und der Theologie anzeigen. Erstens spielt der Körper eine ganz wichtige Rolle. Ob dies das Atmen beim Yoga und die diversen Asanas, die Körperstellungen sind, oder das Achten auf den Energiefluss in chinesischen Traditionen oder anderes bewusstes wahrnehmen des Körpers, der Leib erhält in der Praxis etwas von der Würde, die ihm in der Bibel zwar zugesprochen wird, aber oft nicht in der Theologie und kaum in Formen der kirchlichen Spiritualität.
Das Zweite ist die Konzentration auf die Gegenwart. Alle diese Bewegungen wollen das Leben in der Gegenwart fördern. Es geht um Präsenz. Ein Wort, dass ich bis vor kurzem kaum je gehört habe, ist in diesen Bewegungen zu einem zentralen Begriff geworden, der nun als Modewort in unsere Gesellschaft bis in die Managerliteratur hinein Eingang findet und nun vor den Pforten der Kirche steht: „Achtsamkeit“. Sei achtsam auf deinen Körper, auf deine Atmung. Lebe mit Achtsamkeit. Lebe ganz in der Gegenwart, nimm das wahr, was Dich umgibt. Das ist dein Leben, nicht die Vergangenheit und nicht die Zukunft. Dein Leben kannst Du nur im Jetzt leben.
Unser Glaube beruht auf den vergangenen großen Taten Gottes. Unsere Hoffnung ist darauf ausgerichtet, dass es eine Zukunft mit Gott geben wird, die besser ist als jede Gegenwart. Und doch wollen Glauben und Hoffnung ganz unser Leben jetzt prägen. Haben wir in Kirche und Theologie immer wieder das Perfekt und das Futur zu stark betont? Sind wir Gegenwartsvergessen? Vielleicht ist dies für uns Theologinnen und Theologen, für Wissenschaftler überhaupt eine besonders große Herausforderung. Denn wir können nicht über die Gegenwart nachdenken. Denken wir darüber nach, ist sie sofort und immer wieder schon unmittelbare Vergangenheit oder doch noch Zukunft. In der Gegenwart können wir nur leben. Ist das vielleicht eine der größten Wahrheiten, die im Hebräischen selbst und so in der Hebräischen Bibel liegt? Es gibt im Hebräischen nur Zukunfts- und Vergangenheitsformen von Verben: Über die Vergangenheit und über die Zukunft kann direkt gesprochen und sprachlich nachgedacht werden, über die Gegenwart nicht. Diese wird nicht gesprochen und nicht gedacht, sondern gelebt.
Gegen diese neuen ost-westlichen Wege bekennen wir, dass unsere Gegenwart immer von der Vergangenheit geprägt ist und durch die Zukunft herausgefordert wird. Aber demütig müssen wir uns befragen lassen, ob wir nicht vernachlässigt haben, ganz in der Gegenwart zu leben. Sind wir achtsam darauf, was Gott jetzt zu uns sagt, wann immer auch dieses jetzt ist? Sind wir achtsam darauf, wie sehr wir beschenkt werden im Alltag, durch Kleinigkeiten, ohne die wir gar nicht sinnvoll leben können? Durch unseren Atem, durch unseren Körper, durch unsere Mitmenschen, durch Gottes Schöpfung, durch jedes gute Wort, durch das Bibelwort?
Vielleicht müssen wir sogar das Wort „Achtsamkeit“ in unseren Sprachgebrauch übernehmen. Doch dann werden wir nicht bei einer selbstbezogenen Achtsamkeit stehen bleiben. In unserem Text steckt ein ganz großer Schatz der jüdisch-christlichen Tradition, der zugleich das Skandalon ist. Werden wir achtsam, merken wir, dass wir von lauter „Dus“ umgeben sind. Es geht nicht darum, sich selber immer mehr wahrzunehmen, sondern den Mitmenschen, der und die Du. Jesus tadelt die, die ihm so nahe sind, dafür, dass sie ihn, der neben ihnen steht, nicht als „Du“ wahrnehmen, nicht als den, den sie suchen, weil sie eine so nahe, eine so präsentische und eine so personale Lösung nicht wollen oder nicht für möglich halten.
Liebe Gemeinde, Leben in der Gegenwart öffnet uns für die vielen Gaben, die Gott uns täglich gibt, für die vielen Hinweise, die er uns schenkt, für die Wunder seiner Schöpfung, von denen jeder Mitmensch auch ein Zeugnis ist. Und mancher Mitmensch ist auch ein Zeugnis dafür, dass der Geist Gottes durch Menschen wirken will. Doch diese nahen Zeugnisse gilt es täglich ganz neu zu entdecken. Leben in der Gegenwart führt uns nicht nur zu uns selbst, sondern vor allem auch zu unserem Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat, und der immer bei uns ist: Jetzt! Nur „leben in der Gegenwart“ heißt wirklich leben und ist das geschenkte Leben, dass wir suchen. „Leben in der Gegenwart“ lässt uns im richtigen Tempus für die Liebe leben. Denn die Liebe will jetzt gelebt werden. Das Gute liegt so nah. Lassen sie uns achtsam sein auf das Leben und die Liebe. Amen.
Lied: Gott ist gegenwärtig

  
  
    a Lk 24,27. 44; 2. Tim 3,15-17