Predigt zu Johannes 5,24-30 von Jasper Burmester
5,24-30

Predigt zu Johannes 5,24-30 von Jasper Burmester

Liebe Gemeinde -

wo verläuft die Grenze unseres Lebens? Wo endet das Leben, wo beginnt der Tod? Viele unter uns haben das Erreichen und Überschreiten dieser Grenze erlebt, als ein Ihnen naher Mensch starb. Die Endlichkeit unseres Lebens, die Begrenztheit unserer Zeit und unserer Kräfte wurde Ihnen dabei erschreckend oder auch erlösend und befreiend deutlich.

In für uns vielleicht recht ungewohnter Weise spricht Jesus im Johannesevangelium über diese Grenze zwischen Leben und Tod, ja, er definiert sie in gewisser Weise neu und jedenfalls anders, als wir es in unserem eigenen Erleben wohl tun. Ich lese aus dem 5. Kapitel die Verse 24-30:

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben. Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber; und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.

Wundert euch darüber nicht. Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts. Ich kann nichts von mir aus tun. Wie ich höre, so richte ich und mein Gericht ist gerecht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.

Jesus zeigt eine ganz andere Grenze zwischen tot und lebendig auf: „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und ist vom Tod zum Leben hindurch gedrungen.” Hier bestimmt nicht ein biologisches Verfallsgeschehen, hier bestimmt er, bestimmt sein Wort die Grenze zwischen Tod und Leben. Sein Wort hören und glauben bewirkt Leben, und dann gleich: ewiges Leben. Es nicht hören, überhören, weghören, nicht glauben bewirkt vielleicht nicht  den Tod, wohl aber das Gericht.

Liebe Gemeinde -

diese Worte können uns erschrecken. Sie passen so gar nicht zu dem Bruder Jesus, den wir gerne hören und an dessen heilende Wohltaten wir gerne denken. Ein Richter, der dereinst Rechenschaft von jedem von uns fordert, ist nicht die Botschaft, die wir gerne hören. Dabei sprechen wir es Sonntag für Sonntag im Glaubensbekenntnis aus: „von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten“. Es handelt sich also keineswegs um eine Randnotiz, sondern um einen der Kerngedanken unseres Glaubens.

Das Ende von Zeit und Welt und die Auferweckung der Toten zusammen mit dem Gericht, mit einer Scheidung von Gut und Böse zu denken ist im gegenwärtigen Protestantismus ein selten gehörter Gedanke. So gibt es zum Beispiel kaum Literatur zu dieser Textstelle und in den branchenüblichen Predigtvorbereitungsbüchern kommt dieser Abschnitt, obwohl regulärer Predigttext zum Totensonntag, nicht vor.

Hier spricht nicht Jesus, unser Menschenbruder, der zur allgemeinen Geschwisterlichkeit anstiftet, auf den wir den Gottessohn weitgehend reduziert haben, sondern der Christus „sitzend zur Rechten Gottes“, der unser Richter zu sein beansprucht. Ob er dabei auch unser Retter sein wird, bestimmt er allein, souverän und endgültig. Heil oder Unheil, Leben oder Gericht liegen so in seinem Richterspruch beschlossen.

Wir hören gerne, dass Gott sich in seinem Sohn uns gnädig und freundlich zuwendet. Dazu sagen wir herzlich „Ja“. Aber dass sich derselbe zugleich als unser Richter auch von uns abwenden könnte - da protestiert das religiöse Denken, das sich Gott und Jesus so zurecht gestutzt hat, wie man sie gerne haben möchte. Das „Ja“ wird gehört, das aber auch mögliche „Nein“ wird überhört, verdrängt.

Wenn wir aber diese Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit aufheben, schaffen wir uns einen Abgott, der viel mit unseren Wünschen und begreiflichen Sehnsüchten zu tun hat, aber wenig mit der - eigentlich doch auch für uns noch verbindlichen - Überlieferung des Neuen Testaments. Das alles ist dann nicht heiß und nicht kalt, sondern lau. Wir nehmen den tröstenden Worten „Gnade“ und „Liebe“ ihre Kraft, wenn es nur das „Ja“ und nicht auch ein mögliches „Nein“ gibt.

Wenn es völlig gleichgültig wäre, ob wir Gutes oder Böses tun, weil am Ende sowieso nur ein „Ja“ herauskommen darf, so nähme das denen, die sich in ihrem Leben als Opfer erfahren und erlitten haben, jede Hoffnung auf so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit.

Dieses sind unbequeme, ungemütliche Gedanken: Dass das Leben nicht natürlicherweise, ja geradezu zwangsläufig gelingen muss, sondern auch verfehlt werden könnte. Oder dass es gelebte und dabei vergeudete Lebenszeit geben kann, wobei es nicht so sehr darum geht, etwas im Leben verpasst zu haben, sondern das Leben selbst versäumt, vertan zu haben. Und dass es nicht gleichgültig ist, wie wir uns verhalten in Worten und Taten, im Schweigen und Unterlassen, ob wir mit anderen oder auch uns selber gut oder böse umgehen.

Das aber geschieht – wir wissen es, wir erleiden es, wir dulden es, wir sehen dem ohnmächtig oder gleichgültig zu. Sollte es deshalb auch Gott, sollte es Christus gleichgültig sein?

Ich bin als Notfallseelsorger einer Frau begegnet, die das ganz offen für sich selbst so sagte: „Wissen Sie, ich habe mein Leben versoffen.“ Und sie erzählte mir auch von ihrem Vater, der seiner kleinen Tochter Zigaretten auf ihrer Brust ausgedrückt hat. Ich lese in der Zeitung vom Flüchtling aus Syrien, der erleben muss, dass auch sein Folterer in Assads Diensten und als Flüchtling Asyl beantragt hat. Wir alle sehen im Fernsehen die unerträglichen Provokationen der rechten verbalen und tätlich werdenden Brandstifter – 30 Schläger gegen 2 Flüchtlimge. Wie kommen wir darauf, dass es nicht darauf ankäme, was wir tun, was wir lassen?

Diese Gedanken, liebe Gemeinde, sind auch für mich selbst nicht angenehm und gemütlich, sondern erschreckend. Es kommt darauf an, was ich tue, wie ich rede, wo ich schweige, wo ich mich ängstlich oder gar feige oder auch nur bequem heraus halte. Ich werde, so sagt mir dieser Text, zu einer Zeit, die Gott allein bestimmt, wie jeder andere Mensch gefragt werden, gerichtet werden. Aber erst wenn ich mich auch in diesen unangenehmen Schattenseiten ernst nehme, gewinnen Worte wie „Gnade“, und „angenommen sein“ ihre tröstende und heilende Kraft zurück.

Wenn wir uns diesem Erschrecken stellen und es aushalten, dass es eben nicht egal ist, was wir in und mit unserem Leben machen, dann können wir auch das andere hören, was in diesen Worten Jesu steckt: Dass sie ein starker Ruf zum Leben sind!

Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.

Es geht dabei nicht um die Erregung von Furcht, sondern um das Leben, das volle, gelebte, erfüllte Leben. Es werden nicht Leben und endgültiger Tod, sondern Leben und Gericht gegenüber gestellt.

Wer Gutes getan hat, wer Böses getan hat: die Worte, die Johannes verwendet, sind mit Überlegung gewählt – beim „Gutes tun” ist das Wort „tun” dasselbe, mit dem Gottes schöpferisches Handeln beschrieben wird und beim „Böses tun”, wird für „Tun” ein ganz anderes Wort gebraucht, eines, das man mit geschäftigem Treiben übersetzen könnte, und das niemals in Verbindung mit Gott gebraucht wird. Auch das Böse, das da so geschäftig betrieben wird, ist eher etwas, was mit Gott nichts im Sinn hat, im Sinne von nichtig, wertlos, untauglich, gewöhnlich. Da ist die Unterscheidung, die Krisis des Gerichts.

Mit Gericht ist in der Bibel aber nicht Abrechnung und Verhängung von Strafe gemeint, sondern die Schaffung von Recht, die Behebung von Schaden und die Wiederherstellung des Heiles und des Gottesfriedens, des Schalom.

Das Ziel des Gerichtes ist das Leben. Darum ist der Sohn, darum ist Christus der Richter, darum hat Gott ihm das Gericht übertragen, weil er die Sünde aller, das Nicht-in-Gott-Getane aller Menschen in seinem Tod getragen und in seiner Auferstehung verwandelt und ins Leben geführt hat.

Amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen. Das Leben haben - darum geht es. Ein Ruf zum lebendigen, unverstellten, intensiven Leben. Aus dem Tod zum Leben durch gedrungen, zum Leben auferstanden - welch ein Leben-Wollen wird da spürbar, eine Sehnsucht, ein Wunsch nicht erstickt und erdrückt, eingeengt zu sein. Vielleicht reicht es, das irgendwann einmal erlebt zu haben: Das Leben, das sich in einem erfüllten Augenblick überwältigend ereignet: Im Erleben einer grandiosen Landschaft, beim Betrachten eines Bildes, im Hören, in der liebenden Begegnung mit einem Menschen, um dem Tod gegenüber solch erfüllten Erleben sein Gewicht vielleicht nicht zu nehmen, aber doch zu mindern.

Ein starker Ruf ins Leben sind diese Worte Jesu aber auch darum, weil die Zeit der Entscheidung nicht der Sankt-Nimmerleins-Tag ist, sondern das hier und jetzt. Was dermaleinst sein wird, entscheidet sich im Leben, also jetzt und hier, in unserem Umgang mit diesem Geschenk, das manchmal ja auch Last sein kann.

Auf drei Dinge kommt es dabei an: Ob wir es leben oder versäumen, ob wir verantwortungsvoll mit anderen und uns umgehen und ob wir uns im Leben und Sterben dem anvertrauen, der uns das alles gab als Gabe und Aufgabe: Gott, der uns in Christus vor diese alles entscheidende Frage stellt: Vertrauen wir ihm und hören ihn?

Amen

Konsultierte Literatur:

- Siegfried Schulz, NTD 4

- Yorick Spiegel z.St. in Assoziationen Bd. 1

- Günter Brakelmann z.St. in Textspuren Bd. 1

- Welt am Sonntag vom 1.11.2015