Predigt zu Johannes 9, 1-7 von Karl Hardecker
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Predigt zu Johannes 9, 1-7 von Karl Hardecker

Liebe Gemeinde,
da freut sich also einer, der blind war. Er freut sich, weil er nun sieht. Erleichtert ist er von all dieser Schwere, die da war, die auf ihm gelastet hat. Da ist einem eine Last abgenommen, eine schwere zumal, eine Last, die nach Schuld und nach Ursache rief. Da kam einer und nahm ihm diese Last und sprach ihn frei. Du bist nicht blind, weil du schuldig bist. Du bist auch nicht blind, weil dein Vater schuldig geworden ist. Und Du  bist nicht blind, weil dein Großvater oder deine Großmutter oder sonst wer Schuld auf sich geladen hat. Das ist die frohe Botschaft!
Ist dies ein familienkritischer Text, liebe Gemeinde? Ja, wenn Familie ein System beschreibt, das für den Einzelnen beschwerend und ausweglos ist. Auf diesem Hintergrund enthält diese Geschichte ein gewaltiges emanzipatorisches Potential.
Die durch die Familienschrift der EKD entfachte Diskussion geht dort einen falschen Weg, wo sie Familie in einer ganz bestimmten Form der gesellschaftlichen Entwicklung als Gott gegeben begründen will. Schließlich kommt es immer auf die Qualität unserer Beziehungen an. Wo Kinder von Erwachsenen traumatisiert und tonnenschwer belastet in diese Welt entlassen werden, kann nicht die Familie die bestmögliche Form unseres Zusammenlebens sein. Wo Ehe und Familie Menschen unterdrückt und demütigt, kann sie nicht die lebensfördernde Kraft entfalten, in denen etwas vom Evangelium erfahrbar wird.
Diese Lebens fördernde Kraft bleibt auch auf der Strecke, wo Menschen nach der Ursache von Krankheit und Leid fragen und dabei einzelnen die Schuld zuweisen, wie in dieser Heilungsgeschichte.
Deshalb bringt Jesus in seinem Wort die Werke Gottes ins Spiel. Um die soll es gehen und nicht darum, wer Schuld hat an dieser Krankheit. Wie wir mit unseren Lasten umgehen, ist die Frage und die konstruktiv zu beantworten ist die Perspektive, die Jesus eröffnet.
Dieser Jesus stellt diesen Menschen vor sich ins Licht. Nun muss er nicht mehr die Schwere seiner Umgebung tragen, die uneingelösten Versprechen, die verbotenen und verborgenen Sehnsüchte, die Ängste, die unausgesprochen blieben und die Seele beschwerten.
Denn dieser Jesus kannte die Schriften und wusste, dass Gottes Wirken nicht darauf zielt, das Leben der Menschen noch mehr zu beschweren. Der las in den Schriften, dass, wenn Gott wirkt und in diese Welt kommt, dass dann die Lahmen springen und die Blinden sehen und die Aussätzigen rein sein sollen. Kein behindertes Kind mehr, das in Kellern und Verließen versteckt werden müsste vor Scham und vor der bangen Frage, wer schuld daran hat. Keine Frau mehr, die sich in ihr Haus zurückziehen müsste, um nicht von machtgierigen Männern in Bussen oder auf öffentlichen Plätzen vergewaltigt zu werden.
Damit aber alle sehen, was Jesus meint, spuckt er auf die Erde und macht einen Brei und streicht diesen dem Blinden auf seine Augen, damit der Schleier von Schuld und Schande endlich zerreißt. Und dann nichts wie zum Wasser am Teich Siloah. Und danach gibt es für den, der eben noch blind war, kein Halten mehr. Da ist einer erlöst und tanzt vor Freude. Da hat einer seine Schwere abgestreift wie einen Panzer, da hat einer sich gehäutet wie eine Schlange. Zurück bleibt eine Geschichte, in der Menschen anderen das Leben schwer machten, weil sie ihnen ihre Lasten auferlegt haben. Zurück bleibt eine Geschichte von Rassismus und Hexenverfolgung. Und die ist noch lange nicht zu Ende. Diese Geschichte von Unterdrückung und Befreiung geht weiter. Und dass der Rassismus noch lange nicht überwunden ist, zeigt das neueste Urteil in den USA und zeigen die Morde der NSU hier zu Lande. Beides sind Hinweise darauf, dass der Rassismus lebt und mit ihm Schuldzuweisungen, die so unberechtigt sind und skandalös wie die Schuldzuweisung an diesen, der eben noch blind war und nun geheilt ist.
Zurück bleiben aber auch einige, die sich wundern, die sich verdutzt anschauen und die sich sagen: Kann das denn sein, dass die Ursache fehlt für eine Krankheit und dass es keinen Schuldigen gibt, der für all dies Unglück und für all die Ungerechtigkeit dieser Welt gerade stehen muss?
Eigentlich kann das nicht sein, sagen sie, denn sonst fehlte ja die Antwort, denn sonst verstünden wir die Welt nicht mehr. Eigentlich kann das nicht sein, sagen diese und wenden sich von Jesus ab, denn sonst würde die Welt ja auf einmal ganz leicht, wo sie doch schwer ist und wo sie doch ein Gewicht hat, das uns fast erdrückt. Eigentlich kann das nicht sein, denn sonst hätte dieser Rabbi ja recht und die Welt verlöre ihre Schwere und gewönne ihre Schönheit zurück und am Ende hätte der Dichter noch recht, der wohl das Ähnliche meinte wie dieser Jesus, der den Blinden geheilt hat:
Fürchtet euch nicht zu leiden, die Schwere,
  gebt sie zurück an der Erde Gewicht;
  schwer sind die Berge, schwer sind die Meere.
Selbst die als Kinder ihr pflanztet, die Bäume
  wurden zu schwer längst; ihr trüget sie nicht.
  Aber die Lüfte…aber die Räume
(R.M. Rilke, Die Sonette an Orpheus, Erster Teil, IV)
Amen