Liebe Leserin und lieber Leser,
liebe Schwestern und Brüder,
das ist eine doppelte Herausforderung, vor die wir gestellt werden: vor die Herausforderung des Tages und vor die Herausforderung des Bibeltextes.
Die Herausforderung des Tages liegt auf der Hand: Wir haben gestern, in den letzten Stunden des alten Jahres, vielleicht bewusst zurückgeschaut, haben die besonderen Erlebnisse und Begebenheiten wieder vor unser geistiges Auge gestellt:
Vielleicht eine erneute Erkrankung, die wir entdeckt haben, und die dann wieder – jetzt viel stärker – zu Chemotherapie und Angst und Unsicherheit geführt hat, aber auch die Erfahrung geschenkt hat, dass die Therapie angeschlagen hat und man nun als wieder gesunder Mensch voll Zuversicht in die Zukunft gehen kann. In meinem Fall hieß dieses Jahr, dass die periodischen Untersuchungen immer wieder negativ ausgegangen waren, dass das Evangelium „kein Rezidiv“ in den Arztbriefen steht.
Vielleicht ein überraschender Todesfall, durch den ganz plötzlich ein geliebter Mensch von unserer Seite gerissen worden ist. Und nun haben wir überhaupt erst ganz vorsichtig angefangen, ohne ihn unser Leben einzurichten und zu führen, sind noch ganz von der Trauer besetzt und werden auch im neuen Jahr von diesem Einschnitt geprägt bleiben!
Vielleicht haben wir die Einschulung eines Patenkindes mitgefeiert und so miterlebt, wie es in den neuen Bereich „Schule“ wechseln muss: Mit dem nun früheren Aufstehen, dem Fahren mit dem Bus in die nächste Stadt, denn der Kindergarten war ja nur wenige Schritte weg im eigenen Dorf gewesen. Schon auf diese Äußerlichkeiten heißt es jetzt, sich einzustellen, aber dann viel mehr auf die neuen Kameradinnen und Kameraden, aus deren Kreis hoffentlich einige zu neuen Freunden werden.
Oder vielleicht auch bewegende und begeisternde Reisen mit vielen Gesprächen und Treffen, die uns noch ganz ausfüllen. In meinem Fall waren es die Besuche in der Evang.-Luth. Kirche in Kasachstan, dann später in der Evang.-Luth. Kirche in Kirgistan und vorher schon eine Reisgruppenreise durch die Ukraine mit vor allem Besuchen in Gemeinden der Deutschen Evang.-Luth. Kirche in der Ukraine.
Solch Reichtum an Erfahrungen und Erlebnissen, auf die wir hoffentlich zurück sehen können!
Und heute nun der zaghafte Blick nach vorn, in die Zukunft, auf die Aufgaben und Termine, die wir schon kennen, auf das Viele, das noch ganz unbekannt ist und das wir überhaupt nicht erblicken, geschweige denn erkennen können…
Und da diese zweite Herausforderung: Dieser so ferne Text, diese biblische Aussage, die doch gar nichts mit uns zu tun hat! In ihm ist Josua angesprochen: „… sprach der Herr zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener“ (Vers 1). Wer könnte von sich sagen, Josua zu sein?
Es ist die Situation der Einwanderung des Volkes Israel in das Land Kanaan angesprochen: „… so mach dich nun auf und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben habe“ (Vers 2). Niemand von uns steht vor einer solchen Einwanderung!
Ja, es ist eine Landverheißung, eine Besitzverheißung für dieses Israel angesprochen, die uns den Atem raubt: „Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land … soll euer Gebiet sein“ (Vers 4). Von der Wüste, die im Südosten des heutigen Staates Jordanien beginnt, bis zum Libanon, vom Euphrat bis zur östlichen Mittelmeerküste.
Wie ginge das mit den Menschen in diesem riesigen Gebiet? Heute den Jordaniern, den Palästinensern, den Libanesen, den Syrern? Was ist das für eine Gebietsbeschreibung?
Sie entspricht der Provinz Eber Nari, im Aramäischen des Persischen Großreiches: der Provinz Abar Nahara, zu Deutsch: „Jenseits des Stromes“. Hier wird aus dem Zentrum des Persischen Großreiches, von Mesopotamien aus oder von Persepolis aus auf das Land geschaut und die Satrapie hinter dem Euphrat, westlich des Euphrat bezeichnet.
Dieses ganze Gebiet soll Siedlungsterritorium der Juden werden? Das hat mit einer möglichen „historischen Stunde“ des Josua gar nichts zu tun. Von einer möglichen „historischen Stunde“ des Josua wissen wir nichts Sicheres. Aber es ist die Bezeichnung derjenigen Provinz des Großreiches aus dem Blick eines deportierten Juden in Mesopotamien, in der das Siedlungsgebiet der zurückkehrenden Juden sein wird, in der sich Juda und Jerusalem befinden! Im Gebiet „jenseits des Stromes“ werden die Rückkehrenden wieder heimisch werden. Aber das ganze Gebiet bekommen?
Und – was noch hinzukommt und nicht vergessen werden darf (!) – es geht um eine inhaltliche Verpflichtung, die wir deutlich sehen müssen: Die Verpflichtung auf die Thora, auf die Weisung, die die Grundlage für alle Zuversicht, Getrostheit und innere Stärke darstellt: „… dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken…“ (Vers 7). Ohne die Bindung an diese Weisung kann der unter der Figur des Josua angesprochene Jude keinerlei Optimismus entfalten!
Eine Schlüsselformulierung liegt in einem ganz unscheinbaren Wort in Vers 8: „Sinne über das Buch der Weisung bei Tag und bei Nacht.“ Die lutherische Übersetzung hat geschrieben: „… betrachte es Tag und Nacht“. Diese Formulierung begegnet uns auch in Psalm 1, Vers 2: „… und sinnt über seiner Weisung Tag und Nacht“. Das hebräische Wort meint aber gar nicht nur einen inneren, etwa lediglich einen intellektuellen Vorgang. Sondern es meint einen Vorgang der ganzen Person: Ein inneres Nachdenken und ein äußeres Bewegen des Oberkörpers vor und zurück, so einen Rhythmus produzierend, der den Inhalt des laut Gebeteten und Gelesenen wirklich in die betende und lesende Person eindringen lässt. So wie wir jüdische Schwestern und Brüder beten kennen – in der Synagoge oder vor der Westwand des Tempelfundaments in Jerusalem.
Dass Gott mit einem sei, dass der Gott Jahwe mit einem sei (!), kann nur die Person hoffen, die so betet, die die Tradition, die Inhalt solchen Betens ist, auf sich bezieht, die nicht nur wirklich dieser als jüdischer Beter stilisierter Josua an der Schwelle zu Kanaan ist, sondern die jede jüdische Person in dieser Tradition auf dem Weg ins gelobte Land ist, vor und bei der Alija, dem Heraufziehen nach Jerusalem! „… dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was in diesem Buch geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst es recht ausrichten“ (Vers 8). Wer also 2012 für sich Alija geplant hat, der und die darf Josua 1 als den eigenen Text zum ersten Tag des Jahres nehmen – allerdings nach unserer, der christlichen, der westlichen Zählung! Wissen wir doch, dass unsere jüdischen Schwestern und Brüder heute Neujahr gar nicht feiern.
Also hat dieses Bibelwort mit uns gar nichts zu tun? Kann es uns nichts helfen auf der Schwelle ins Jahr 2012? Denn auf dieser Schwelle stehen wir doch! Mit welcher Ermutigung sollen wir nun den ersten Schritt ins für uns neue und unbekannte Jahr tun?
Ich kann dieses biblische Wort nur auf mich beziehen, wenn ich all das weiß und beachte, was ich schon angedeutet habe! Das heißt, wenn ich wissentlich (!) den Text anders anwende, wenn ich ihn von seinem eigentlichen Zusammenhang bewusst (!) löse, wenn ich mir den Mut herausnehme, ihn auch mir gesagt sein zu lassen – mir, Rainer Stahl, an der Schwelle zum Jahr 2012, die ich in diesen Stunden überschreite –, und Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser – auch an der Schwelle zum Jahr 2012, die Sie entsprechend unserer Tradition auch überschreiten –.
Wenn ich mir diesen Mut herausnehme, folge ich einem anonymen biblischen Autor, allerdings einem christlichen biblischen Autor: Der Verfasser des Hebräerbriefes lässt seinen Brief in Mahnungen ausklingen. Eine dieser Mahnungen lautet:
„Seid nicht geldgierig, und lasst euch genügen an dem, was da ist. Denn der Herr hat gesagt [Josua 1,5]: ‚Ich will dich nicht verlassen und nicht von dir weichen.’ So können auch wir getrost sagen [Psalm 118,6]: ‚Der Herr ist mein Helfer, ich will mich nicht fürchten, was kann mir ein Mensch tun?’“ (Brief an die Hebräer 13, Verse 5 und 6).
Hier wird das dem Josua gesagte Wort und Juden im Passageritus der Alija meinende Wort auf die alltägliche Bewährung von uns Christinnen und Christen übertragen. Und zugleich wird es in großartiger Weise auf unsere Jahreswechseltraditionen übertragen: Geht es uns doch immer wieder um das Thema „Geld“. In ihm bündeln und konzentrieren sich für uns innere Sicherheit und innerer Mut. Wenn wir Geld haben, dann fühlen wir uns gewappnet, vorbereitet auf die Herausforderungen, die kommen mögen. Aber der Verfasser des Hebräerbriefes widerspricht dieser Lebenshaltung: Nicht auf Geld sollen wir trauen. Sondern auf jenen Satz aus Josua 1 sollen wir trauen.
Wir sollen über ihn sinnen bei Tag und bei Nacht. Wir sollen ihn uns einüben und eintrichtern, damit wir uns an ihm festhalten. Wie im Original der Jude sich eintrichtert, sich einübt die Weisung und so Hoffnung haben kann – und nur unter dieser Bedingung Hoffnung haben kann, dass Gott auf seiner Seite sein wird. So soll die Christin sich, so soll der Christ sich, sollen Sie sich, soll ich mich einüben und mir eintrichtern diese Aussage, dass Gott uns nicht verlassen, nicht von uns weichen wird. Nicht Geld haben wir, aber diese Aussage, diesen Satz!
Und es wird vom Verfasser des Hebräerbriefes noch ein Satz aus den Psalmen hinzugefügt, jüdisch gesagt: kein Satz der „Weisung“, aber ein Satz der „Schriften“, ein Satz aus Psalm 118 in der Fassung der griechischen Bibel, der Septuaginta, dort also aus Psalm 117, Vers 6: „Jahwe / der Herr ist ein Helfer für mich…“ Im hebräischen Text von Psalm 118 steht der Begriff „ein Helfer“ gar nicht. Aber die Übersetzer ins Griechische haben diese Präzisierung hier vorgenommen. Sie kann und soll uns bestärken.
Darauf sollen wir uns verlassen! Nicht auf unser Geld!
Das ist es, was uns zum ersten Tag unseres neuen Jahres, des „Jahres des Herrn 2012“ – denn trotz aller säkularisierter Jahresbezeichnungen in unserer Zeit wie zum Beispiel „nach der Zeitrechnung“ oder „nach der Zeitwende“ bleibt es doch dabei, dass unsere kalendarische Ordnung und unsere Jahresbezeichnungen mit Christus und seinem Erscheinen zu tun haben, auf „den Herrn“ bezogen sind (!) –, das ist es, was uns zum ersten Tag des „Jahres des Herrn 2012“ gesagt wird. Diesen Satz mögen wir uns immer wieder vor Augen stellen, ihn rhythmisch beten, ihn mit unserem ganzen Körper aufnehmen, ihn über 2012 nicht vergessen, sondern vielmehr ihn zum inneren Besitz für uns machen:
„Der Herr ist mein Helfer!“
Er wird mich nicht verlassen.
Er wird nicht von mir weichen!
Amen.
liebe Schwestern und Brüder,
das ist eine doppelte Herausforderung, vor die wir gestellt werden: vor die Herausforderung des Tages und vor die Herausforderung des Bibeltextes.
Die Herausforderung des Tages liegt auf der Hand: Wir haben gestern, in den letzten Stunden des alten Jahres, vielleicht bewusst zurückgeschaut, haben die besonderen Erlebnisse und Begebenheiten wieder vor unser geistiges Auge gestellt:
Vielleicht eine erneute Erkrankung, die wir entdeckt haben, und die dann wieder – jetzt viel stärker – zu Chemotherapie und Angst und Unsicherheit geführt hat, aber auch die Erfahrung geschenkt hat, dass die Therapie angeschlagen hat und man nun als wieder gesunder Mensch voll Zuversicht in die Zukunft gehen kann. In meinem Fall hieß dieses Jahr, dass die periodischen Untersuchungen immer wieder negativ ausgegangen waren, dass das Evangelium „kein Rezidiv“ in den Arztbriefen steht.
Vielleicht ein überraschender Todesfall, durch den ganz plötzlich ein geliebter Mensch von unserer Seite gerissen worden ist. Und nun haben wir überhaupt erst ganz vorsichtig angefangen, ohne ihn unser Leben einzurichten und zu führen, sind noch ganz von der Trauer besetzt und werden auch im neuen Jahr von diesem Einschnitt geprägt bleiben!
Vielleicht haben wir die Einschulung eines Patenkindes mitgefeiert und so miterlebt, wie es in den neuen Bereich „Schule“ wechseln muss: Mit dem nun früheren Aufstehen, dem Fahren mit dem Bus in die nächste Stadt, denn der Kindergarten war ja nur wenige Schritte weg im eigenen Dorf gewesen. Schon auf diese Äußerlichkeiten heißt es jetzt, sich einzustellen, aber dann viel mehr auf die neuen Kameradinnen und Kameraden, aus deren Kreis hoffentlich einige zu neuen Freunden werden.
Oder vielleicht auch bewegende und begeisternde Reisen mit vielen Gesprächen und Treffen, die uns noch ganz ausfüllen. In meinem Fall waren es die Besuche in der Evang.-Luth. Kirche in Kasachstan, dann später in der Evang.-Luth. Kirche in Kirgistan und vorher schon eine Reisgruppenreise durch die Ukraine mit vor allem Besuchen in Gemeinden der Deutschen Evang.-Luth. Kirche in der Ukraine.
Solch Reichtum an Erfahrungen und Erlebnissen, auf die wir hoffentlich zurück sehen können!
Und heute nun der zaghafte Blick nach vorn, in die Zukunft, auf die Aufgaben und Termine, die wir schon kennen, auf das Viele, das noch ganz unbekannt ist und das wir überhaupt nicht erblicken, geschweige denn erkennen können…
Und da diese zweite Herausforderung: Dieser so ferne Text, diese biblische Aussage, die doch gar nichts mit uns zu tun hat! In ihm ist Josua angesprochen: „… sprach der Herr zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener“ (Vers 1). Wer könnte von sich sagen, Josua zu sein?
Es ist die Situation der Einwanderung des Volkes Israel in das Land Kanaan angesprochen: „… so mach dich nun auf und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben habe“ (Vers 2). Niemand von uns steht vor einer solchen Einwanderung!
Ja, es ist eine Landverheißung, eine Besitzverheißung für dieses Israel angesprochen, die uns den Atem raubt: „Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land … soll euer Gebiet sein“ (Vers 4). Von der Wüste, die im Südosten des heutigen Staates Jordanien beginnt, bis zum Libanon, vom Euphrat bis zur östlichen Mittelmeerküste.
Wie ginge das mit den Menschen in diesem riesigen Gebiet? Heute den Jordaniern, den Palästinensern, den Libanesen, den Syrern? Was ist das für eine Gebietsbeschreibung?
Sie entspricht der Provinz Eber Nari, im Aramäischen des Persischen Großreiches: der Provinz Abar Nahara, zu Deutsch: „Jenseits des Stromes“. Hier wird aus dem Zentrum des Persischen Großreiches, von Mesopotamien aus oder von Persepolis aus auf das Land geschaut und die Satrapie hinter dem Euphrat, westlich des Euphrat bezeichnet.
Dieses ganze Gebiet soll Siedlungsterritorium der Juden werden? Das hat mit einer möglichen „historischen Stunde“ des Josua gar nichts zu tun. Von einer möglichen „historischen Stunde“ des Josua wissen wir nichts Sicheres. Aber es ist die Bezeichnung derjenigen Provinz des Großreiches aus dem Blick eines deportierten Juden in Mesopotamien, in der das Siedlungsgebiet der zurückkehrenden Juden sein wird, in der sich Juda und Jerusalem befinden! Im Gebiet „jenseits des Stromes“ werden die Rückkehrenden wieder heimisch werden. Aber das ganze Gebiet bekommen?
Und – was noch hinzukommt und nicht vergessen werden darf (!) – es geht um eine inhaltliche Verpflichtung, die wir deutlich sehen müssen: Die Verpflichtung auf die Thora, auf die Weisung, die die Grundlage für alle Zuversicht, Getrostheit und innere Stärke darstellt: „… dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken…“ (Vers 7). Ohne die Bindung an diese Weisung kann der unter der Figur des Josua angesprochene Jude keinerlei Optimismus entfalten!
Eine Schlüsselformulierung liegt in einem ganz unscheinbaren Wort in Vers 8: „Sinne über das Buch der Weisung bei Tag und bei Nacht.“ Die lutherische Übersetzung hat geschrieben: „… betrachte es Tag und Nacht“. Diese Formulierung begegnet uns auch in Psalm 1, Vers 2: „… und sinnt über seiner Weisung Tag und Nacht“. Das hebräische Wort meint aber gar nicht nur einen inneren, etwa lediglich einen intellektuellen Vorgang. Sondern es meint einen Vorgang der ganzen Person: Ein inneres Nachdenken und ein äußeres Bewegen des Oberkörpers vor und zurück, so einen Rhythmus produzierend, der den Inhalt des laut Gebeteten und Gelesenen wirklich in die betende und lesende Person eindringen lässt. So wie wir jüdische Schwestern und Brüder beten kennen – in der Synagoge oder vor der Westwand des Tempelfundaments in Jerusalem.
Dass Gott mit einem sei, dass der Gott Jahwe mit einem sei (!), kann nur die Person hoffen, die so betet, die die Tradition, die Inhalt solchen Betens ist, auf sich bezieht, die nicht nur wirklich dieser als jüdischer Beter stilisierter Josua an der Schwelle zu Kanaan ist, sondern die jede jüdische Person in dieser Tradition auf dem Weg ins gelobte Land ist, vor und bei der Alija, dem Heraufziehen nach Jerusalem! „… dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was in diesem Buch geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst es recht ausrichten“ (Vers 8). Wer also 2012 für sich Alija geplant hat, der und die darf Josua 1 als den eigenen Text zum ersten Tag des Jahres nehmen – allerdings nach unserer, der christlichen, der westlichen Zählung! Wissen wir doch, dass unsere jüdischen Schwestern und Brüder heute Neujahr gar nicht feiern.
Also hat dieses Bibelwort mit uns gar nichts zu tun? Kann es uns nichts helfen auf der Schwelle ins Jahr 2012? Denn auf dieser Schwelle stehen wir doch! Mit welcher Ermutigung sollen wir nun den ersten Schritt ins für uns neue und unbekannte Jahr tun?
Ich kann dieses biblische Wort nur auf mich beziehen, wenn ich all das weiß und beachte, was ich schon angedeutet habe! Das heißt, wenn ich wissentlich (!) den Text anders anwende, wenn ich ihn von seinem eigentlichen Zusammenhang bewusst (!) löse, wenn ich mir den Mut herausnehme, ihn auch mir gesagt sein zu lassen – mir, Rainer Stahl, an der Schwelle zum Jahr 2012, die ich in diesen Stunden überschreite –, und Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser – auch an der Schwelle zum Jahr 2012, die Sie entsprechend unserer Tradition auch überschreiten –.
Wenn ich mir diesen Mut herausnehme, folge ich einem anonymen biblischen Autor, allerdings einem christlichen biblischen Autor: Der Verfasser des Hebräerbriefes lässt seinen Brief in Mahnungen ausklingen. Eine dieser Mahnungen lautet:
„Seid nicht geldgierig, und lasst euch genügen an dem, was da ist. Denn der Herr hat gesagt [Josua 1,5]: ‚Ich will dich nicht verlassen und nicht von dir weichen.’ So können auch wir getrost sagen [Psalm 118,6]: ‚Der Herr ist mein Helfer, ich will mich nicht fürchten, was kann mir ein Mensch tun?’“ (Brief an die Hebräer 13, Verse 5 und 6).
Hier wird das dem Josua gesagte Wort und Juden im Passageritus der Alija meinende Wort auf die alltägliche Bewährung von uns Christinnen und Christen übertragen. Und zugleich wird es in großartiger Weise auf unsere Jahreswechseltraditionen übertragen: Geht es uns doch immer wieder um das Thema „Geld“. In ihm bündeln und konzentrieren sich für uns innere Sicherheit und innerer Mut. Wenn wir Geld haben, dann fühlen wir uns gewappnet, vorbereitet auf die Herausforderungen, die kommen mögen. Aber der Verfasser des Hebräerbriefes widerspricht dieser Lebenshaltung: Nicht auf Geld sollen wir trauen. Sondern auf jenen Satz aus Josua 1 sollen wir trauen.
Wir sollen über ihn sinnen bei Tag und bei Nacht. Wir sollen ihn uns einüben und eintrichtern, damit wir uns an ihm festhalten. Wie im Original der Jude sich eintrichtert, sich einübt die Weisung und so Hoffnung haben kann – und nur unter dieser Bedingung Hoffnung haben kann, dass Gott auf seiner Seite sein wird. So soll die Christin sich, so soll der Christ sich, sollen Sie sich, soll ich mich einüben und mir eintrichtern diese Aussage, dass Gott uns nicht verlassen, nicht von uns weichen wird. Nicht Geld haben wir, aber diese Aussage, diesen Satz!
Und es wird vom Verfasser des Hebräerbriefes noch ein Satz aus den Psalmen hinzugefügt, jüdisch gesagt: kein Satz der „Weisung“, aber ein Satz der „Schriften“, ein Satz aus Psalm 118 in der Fassung der griechischen Bibel, der Septuaginta, dort also aus Psalm 117, Vers 6: „Jahwe / der Herr ist ein Helfer für mich…“ Im hebräischen Text von Psalm 118 steht der Begriff „ein Helfer“ gar nicht. Aber die Übersetzer ins Griechische haben diese Präzisierung hier vorgenommen. Sie kann und soll uns bestärken.
Darauf sollen wir uns verlassen! Nicht auf unser Geld!
Das ist es, was uns zum ersten Tag unseres neuen Jahres, des „Jahres des Herrn 2012“ – denn trotz aller säkularisierter Jahresbezeichnungen in unserer Zeit wie zum Beispiel „nach der Zeitrechnung“ oder „nach der Zeitwende“ bleibt es doch dabei, dass unsere kalendarische Ordnung und unsere Jahresbezeichnungen mit Christus und seinem Erscheinen zu tun haben, auf „den Herrn“ bezogen sind (!) –, das ist es, was uns zum ersten Tag des „Jahres des Herrn 2012“ gesagt wird. Diesen Satz mögen wir uns immer wieder vor Augen stellen, ihn rhythmisch beten, ihn mit unserem ganzen Körper aufnehmen, ihn über 2012 nicht vergessen, sondern vielmehr ihn zum inneren Besitz für uns machen:
„Der Herr ist mein Helfer!“
Er wird mich nicht verlassen.
Er wird nicht von mir weichen!
Amen.
Perikope