Predigt zu Klagelieder 3, 22-26.31-32 von Johannes Neukirch
3,21
Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,
  sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
  Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.
  Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.
  Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.
  Denn der HERR verstößt nicht ewig;
  sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
Liebe Gemeinde,
  vielleicht liegt es an diesen vielen Informationen, die die Pressestelle der Landeskirche täglich überschwemmen und von denen nicht allzu viele es wert sind, im Gedächtnis zu bleiben. Vielleicht liegt es daran, dass bei allen Worten und Textschnipseln, die mir zur Verfügung stehen, es dann trotzdem schwer sein kann, etwas Sinnvolles zu formulieren. Oder es liegt an der immer wieder spürbaren allgemeinen Hilflosigkeit, wenn es darum geht, etwas Treffendes zu sagen -  zu Fukushima, zum Terrorismus, zum Jahrestag von Nine Eleven, zu verhungernden Menschen in Afrika.
Jedenfalls ging mir in den letzten Wochen  immer wieder ein Vers aus einem Gedicht von Ingeborg Bachmann durch den Kopf:
  "Einen einzigen Satz haltbar zu machen,
  auszuhalten in dem Bimbam von Worten."
Ich bin kein großer Fan geschweige denn Kenner von Ingeborg Bachmann, ihre Texte sind oft radikal, sperrig, verrätselt, schwer interpretierbar. Aber für einen Literaturgottesdienst habe ich Texte von ihr gelesen, von dieser Dichterin, die ganz intensiv um Freiheit, Unabhängigkeit und Wahrheit ringt.
Der eben zitierte Vers ist aus dem Gedicht "Wahrlich".
Wahrlich
  Wem es nie ein Wort verschlagen hat,
  und ich sage es euch,
  wer bloß sich zu helfen weiß
  und mit den Worten -
dem ist nicht zu helfen.
  Über den kurzen Weg nicht
  und nicht über den langen.
Einen einzigen Satz haltbar zu machen,
  auszuhalten in dem Bimbam von Worten.
Es schreibt diesen Satz keiner,
  der nicht unterschreibt.
Der tägliche "Bimbam von Worten", an dem ich ja auch beteiligt bin. Die Produktion von Sätzen, die gefahrlos wieder vergessen werden können. Auch wenn sie vielleicht im Feuilleton einer großen Zeitung oder im Radio oder im Fernsehen und erst recht im Internet geschrieben und gesagt werden. Und ja, ich sitze auch schon mal in einer Kirchenbank und denke "Bimbam".
  Es ist schwer, einen einzigen Satz haltbar zu machen, einen Satz zu sagen, der gilt, der wahr ist, echt, unzerstörbar, der in der Flut der Worte besteht.
Ingeborg Bachmann fährt fort: "Es schreibt diesen Satz keiner, der nicht unterschreibt" - der also, so verstehe ich das, nicht mit seinem eigenen Leben und Tun dafür einsteht. Nur wer mit seiner ganzen Existenz hinter diesem Satz steht, kann  ihn haltbar werden lassen. Wir müssen für diesen Satz selbst einstehen und können ihn nicht aus der Distanz heraus sagen.
Samstag morgen, das Telefon klingelt. Ich kenne die jung klingende Anruferin nicht, sie will meine Frau sprechen. Die ist nicht da. "Sind Sie auch Pastor?" Ich bejahe. "Ah, gut. Ich muss gleich zu einer Nachbarin, die schwer krebskrank ist. Was soll ich sagen? Können Sie mir helfen, ich will nichts falsch machen". "Einen einzigen Satz haltbar zu machen, auszuhalten in dem Bimbam von Worten."
Ich schlage den Predigttext auf. Und finde ihn, den Satz, der schon viel ausgehalten halt und der weiter standhalten wird:  Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende.
Das ist kein Satz, der hofft, dass die Katastrophe ausbleibt. Die Klagelieder sind nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels geschrieben worden. Das Allerheiligste, das Ein und Alles des Volkes Israel lag in Schutt und Asche.
Der Satz, der danach gebetet wurde, heißt: Die Güte des Herrn ists, dass wir nicht gar aus sind. Meint: dass es noch nicht ganz zu Ende ist. Dieser Satz hält stand, er hat  seine Standfestigkeit über viele Jahrhunderte hinweg bewiesen. So wie die Klagelieder Jeremias über die Jahrhunderte hinweg gebetet wurden und noch gebetet werden und uns immer wieder unauslöschliche Hoffnung geben:
  Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,
  23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
  24 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.
  25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.
  26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.
  Denn der HERR verstößt nicht ewig;
  32 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
Die große Güte, liebe Gemeinde, sehen wir im Sohn Gottes, in Jesus Christus. Für ihn gilt, was Ingeborg Bachmann mit dem Satz "Es schreibt diesen Satz keiner, der nicht unterschreibt" gemeint hat: Denn Jesus hat seine Sätze persönlich mit seinem Leben unterschrieben. Sein Tod und seine Auferstehung, Gottes Lebens-Kraft machen seine Sätze haltbar! Denken wir nur an die Ich-bin-Sätze, ich nehme nur einen heraus:
Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.
Diese von Jesus unterschriebenen Sätze sind es, die uns Kraft geben. Und in diesen Tagen haben wir drei Beispiele dafür kennengelernt, wie es ist, die Kraft zu haben, persönlich für etwas einzustehen.
Ich denke unabhängig von Religion und Konfession an die drei Bürgerrechtlerinnen, den Friedensnobelpreis dieses Jahres bekommen haben. Ellen Johnson Sirleaf, die, so das Komitee, für "Frieden, Entwicklung und Frauenrechte" in Liberia kämpft, Tawakkul Karman, die eine führende Rolle beim Einsatz für Frauenrechte und Demokratie im Jemen spielt und Leymah Roberta Gbowee, die zum Bürgerkriegsende in Liberia beigetragen hat. Sie haben auf ihrem langen und harten Weg viel Schmerz und Leid auf sich genommen. Unter Einsatz ihres Lebens kämpfen sie für Menschenrechte, Menschenwürde, Frieden und Gerechtigkeit. Ich bewundere sie dafür!
Deshalb  möchte ich mich den Wünschen von Olav Fykse Tveit, dem Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen anschließen:
  Als Ökumenischer Rat der Kirchen wünschen wir diesen drei führenden Frauen das Beste und gratulieren ihnen zum Nobelpreis. Und wir sagen ihnen zu, dass wir andauernd für sie beten und sie unterstützen.
Amen.
 
 
Perikope