Gott aufheben. Dreimal - Predigt zu Klgl 3,22-26.31-32 von Matthias Storck
Gott aufheben, dreimal
„Wie liegt die Stadt so wüst…“
Das sind erste Worte eines biblischen Gesangs, dessen Klang sich eingebrannt hat in die Geschichte, in das Gedächtnis der Jahrtausende. Die Katastrophe von 587 gibt seitdem den Ton an. Jerusalem brennt wie eine Wunde. Ein Teil der Bevölkerung kommt um, viele Überlebende werden versklavt und deportiert. Nach dem Wüten und Brennen schreien die Steine noch lange - aber nicht mehr zum Himmel. Der Tempel ist eine Ruine. Und Gott ist vorerst unter den Opfern.
Er muss geborgen werden. Aufgehoben aus dem Staub, aus der Asche der Verheißung. Denn Jerusalem brennt wie eine Wunde. Und mit ihm die vielen genannten und ungenannten verwüsteten Städte dieser Erde.
Um Gott im Text und in meiner Welt „bergen“ zu können, habe ich mir ein lebendiges Tätigkeitswort geliehen, dessen dreifache Bedeutung Beständigkeit verheißt: Aufheben.
Aufheben - Gott aufhelfen aus den Trümmern
Das Buch, dem der Predigttext entnommen ist, hat sich im Laufe der Zeit mit dem Namen des Propheten Jeremia verwoben und verbündet. Denn viele der bestürzenden Worte klingen wie aus seinem Leben gegriffen. Niemand sonst in der Bibel ist für seine Botschaft und seine Mahnungen so verfolgt, geschunden und gedemütigt worden wie dieser unglückliche Prophet.
Am Ende verliert sich auch seine Spur in den Trümmern. Aber sein Entsetzen und Schmerz sind noch da. Er fahndet nach Gott. Er durchsucht die Verheißungen. Er gräbt nach Gott in jedem Haufen Asche. In jeder Grube, unter jedem Stein, in jedem Rauch. Aber nichts spricht mehr. Was bleibt, ist ein stummes Geschrei.
„Meine Not ist übergroß, denn ich habe keine Bleibe mehr.“
Der Mann, der kein Obdach hat, wohnt auch nicht mehr in den Worten seines Glaubens. Weder in den Weissagungen noch in den Gewissheiten. Die ganze Welt erscheint ihm sprachlos, taub und öde.
Aber seine Worte haben einen Adressaten. Sie klagen an. Nicht die Eroberer, nicht die feindlichen Soldaten, nicht die Babylonier, auch nicht die Mächtigen, sondern Gott selbst. Er allein wird beschuldigt: Er hat, er hat, er hat. Und Gott wird erinnert: an seine unaufhörliche Güte, an seine verlässliche Treue, an seine haltbare Gnade.
Es scheint, als suche der geschundene Prophet nun nach rettenden Worten, für sich und für Gott.
Weil Gott ihm nicht antwortet, gibt er sich die Antworten selbst: Nachdem er den Himmel vergeblich nach Gott abgesucht hat, sucht er ihn auch nicht mehr zwischen den Trümmern.
Er sucht ihn längst in seinem eigenen, vom Schweigen Gottes entleerten Herzen.
Aufheben - Gott aufbewahren im Wort
Was für ein ergreifender Umweg!
Der Prophet besinnt sich auf die uralten Worte seines Glaubens. Aufgehoben, bewahrt und überliefert von den Alten. Gelernt, gestammelt und bewundert von den Jungen. Er klammert sich und Gott an die vertrauten, oft unverstandenen, aber bergenden Worte, die bis in die Kindheit reichen: Dies sang die Mutter, ein anderes betete der Vater. Eins für den Alltag, ein anderes zur Feier. „Ich habe lieb die Stätte deines Hauses“. Solche und ähnliche Worte hält er Gott hin, hält sie ihm vor. Gnade und Güte. Er will seinem Gott bis in die Worte nachlaufen, will sie schmecken und sehen und ihnen nachsinnen, bis sie wieder anfangen zu sprechen wie früher. Wort fügt er an Wort, erst fremd und ängstlich. Dann beherzt und ehrlich. Nach und nach suchen die Worte sich ihre Bleibe. Nur so könnte auch er wieder in den Verheißungen wohnen. Und dann wird er staunend und behutsam wahrnehmen, dass alle wahren Worte Gott zur Rede stellen: Sie werden zum Gebet.
So betet er Gott seine Verheißungen Wort für Wort vor.
„Doch das will ich mir zu Herzen nehmen. Die Güte Gottes ist nicht am Ende, seine Umarmungen hören nicht auf.“
Während des verzweifelten Versuchs, den alten Worten neu auf die Spur zu kommen, sie zu wiederholen und zu beleben, fangen sie mitten im Text behutsam selber an zu beten. Um wirklich zur Sprache zurückzufinden, wird der „Beter“ auf Dauer den Worten ihre Sonntagskleider ausziehen müssen.
Not lehrt keinesfalls beten. Aber sie zeigt Grenzen. Denn selbst ein Dichter oder ein biblischer Prophet hat nichts als das dürftige Wort, die Schwebe und sein Herz, um das Ungeheuerliche auszudrücken.
So zwingt er den abwesenden Gott hinein in die Geschichte seines kleinen einzelnen Menschenlebens. Aber auch dabei belässt er es nicht. Er packt Gott beim Wort.
Indem er sich in vertraute Gebete flüchtet, flieht er vor dem Gott, an dem er irre geworden ist, zu dem Gott, dessen Herz er kennt.
Er sagt einen Satz, der alles auf den Kopf stellt.
„Alles, was ich habe, ist Gott, darum hoffe ich nur auf ihn.“
Von dem Gott, der sich eben noch in Schweigen hüllte, flieht er nun zu dem, den er in seinem eigenen Herzen - in die Fremde schickte. Er buchstabiert sich zurück zu dem Gott, der aus der Knechtschaft befreite, zu dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.
„Alles, was ich habe, ist Gott.“
Aufheben - Den mächtigen im ohnmächtigen Gott
- „vielleicht“
Hält dieser Gott das alles wirklich aus?
Um Gott auch über den letzten garstigsten Graben der Geschichte zu folgen, ist es nötig, dem ohnmächtigen Gott ins Angesicht zu sehen.
„Auch wenn nichts mehr zu hoffen ist, gebe ich die Hoffnung nicht auf.“
Dieser Überlebens-Weg, den der Psychiater Viktor Frankl in seinem bewegenden Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ immer wieder beschreibt, geht von einer nüchternen Tatsache aus: Mein Herz sieht weiter als mein Verstand. Mit dieser Feststellung und seinem trotzigen „Ja“ überlebte er das KZ. Alles, auch die sinnlosesten Strapazen, versieht er mit einem Sinn. Die Schinderei im Steinbruch, weil man sie überstehen kann, die Wassersuppe, weil sie wärmt, die Häftlingsnummer, weil sie beweist. Alles, was er erlebt und was ihm widerfährt, hat angesichts noch so großer Sinnlosigkeit einen Sinn.
Darüber hinaus hat er versucht, nicht nur Gott, sondern auch alle seine Lieben, deren Verbleib ungewiss war, in den Worten zu bergen. Er baute sich und ihnen Häuser aus Worten, in denen übrigens auch Gott geborgen wurde, manchmal mehr tot als lebendig.
Meist handelte es sich um Geschichten, in denen Gott zu sehen war, wenn auch nur vage oder von hinten. Das Stück Brot, und Gott war im Brot. Die Kelle Suppe. Die Schuhe. Ein Unterhemd. In allem hatte Gott „Ja“ gesagt.
Niemand kann sich das Unglück eines anderen so vorstellen, wie er selbst es sieht. Das ist die einzige Wahrheit.
Ein Mensch, der seinen Glauben und Gott in Schutt und Asche liegen sah, kann das Unbegreifliche nur auf eigene Hoffnung hin festhalten. Dafür gibt es ein Wort, das Wunder birgt: „Vielleicht“.
„Vielleicht gibt es ja Hoffnung.“
Viktor Frankl hat erzählt, wie seine Kameraden und er immer wieder ein solches „Vielleicht“ gegen allen Augenschein beschworen, um zu überleben: Die Spanne reichte von einem Stück Kartoffel in der Wassersuppe bis zur baldigen Befreiung des Lagers. Frankl selbst klammerte sich gegen alle Wahrscheinlichkeit an ein Wiedersehen mit seiner ebenfalls deportierten Frau Tilly, ohne je ein Lebenszeichen von ihr zu haben. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Aber das „Vielleicht“ ließ ihn überleben.
Sein Herz sah weiter als sein Verstand.
Mehr Gewissheit war nie.
Und so steht dieses unscheinbare, gegen allen Augenschein gebetete, göttliche „Vielleicht“ für das Unzerstörbare unseres Glaubens.
Es reicht, um Berge zu versetzen. Es brachte vor aller Augen Mauern zu Fall, es öffnete Gefängnisse und stieß Gewaltige vom Thron. Hungrige wurden satt und Reiche blieben leer.
Es reicht. Zum wunderbaren Überleben für Gott - und allemal für mich.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt ist für eine Stadtgemeinde geschrieben, die sich nach der langen Pandemie-Abstinenz langsam wieder daran gewöhnt, Gottesdienste zu feiern. Eine gut gemischte Zuhörerschaft, die sicher, ebenso wie ich, bei Worten wie Gnade, Güte und Treue erst einmal ganz neu hinhören muss. Die Gemeinde ist besonders aufgeschlossen für einen solchen Text, weil es eine sehr rege und fruchtbare christlich-jüdische Zusammenarbeit gibt. Man darf im Blick auf die historischen Hintergründe einiges voraussetzen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Satz: Mein Herz sieht weiter als mein Verstand. Und das Buch des Wiener Psychiaters Viktor E. Frankl: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“, in dem er seine Überlebensstrategien im Konzentrationslager schildert.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Gott, mein Glaube und ich selbst in einem einzigen „Vielleicht“ überleben können.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Predigtcoach hat mich liebevoll und geduldig begleitet. Sie hat viele Formulierungen, auch den Predigtstil und sogar Gewohnheiten behutsam in Frage gestellt. Es war spannend, ihren Hinweisen zu folgen. So ist es eine vollkommen andere (für mich sehr aufregende) Predigt geworden.
Link zur Online-Bibel
19.09.2021 - 16. So. n. Trinitatis
„Sunshine Reggae“ – Predigt zu Klagelieder 3,22-26 31 32 von Wolfgang Grosse
I. Licht sehen
Letzten Montag. In der Frühe. Sanft dringt die Sonne durch den Nebel. Wunderbar licht liegen Wiesen und Felder hinterm Deich. Zarte Orangetöne durchfluten die Welt. Von den Bäumen fallen glitzernde Tropfen, tränengleich.
Der erste Hahnenschrei vom nahegelegenen Hof. In der Ferne antworten die Kühe lebensfroh. Es überwältigt mich. Selbst die Kamera - sonst immer schussbereit im Handschuhfach - bleibt unberührt. Es schweigen Angst und Klage.
Meine Augen suchen das Licht. In mir summt ein altes Lied von Laid Back - aus meiner Jugend - „Sunshine Reggae“:
Gimme gimme, gimme just a little smile That's all I ask of you Gimme gimme, gimme just a little smile We got a message for you Sunshine, sunshine reggae Don't worry, don't hurry, take it easy Sunshine, sunshine reggae Let the good vibes get a lot stronger.
Gib mir ein Lächeln, das ist alles, wonach ich frage. Gib mir ein Lächeln, wir haben eine Botschaft für dich. Sunshine Reggae, ärgere dich nicht, übereile nichts, nimm es leicht. Sunshine Reggae, lass die guten Schwingungen stärker werden.
Etwas verwirrt stehe ich da. Ein neuer, frischer Morgen. Es wird mir warm ums Herz.
Ich bin hinausgefahren. An die Wümme, einem kleinen Seitenarm der Weser. Still lag noch die Stadt. Allein die Zeitungsboten gingen ihren Weg. Verteilten Schwarz auf Weiß, was am Abend vorher geschehen war. Bundestagswahl.
Die große Erschütterung, als es Dunkel wurde. Aber das interessierte mich nicht. Die Prozentzahlen und Diagramme, die Analysen und Farbspiele.
Aus Abend und Morgen: ein neuer Tag! Gott ist treu. Und ich denke: Amen!
II. Trauer
Das Volk sitzt da. Staubig ist die Straße. Gelähmt von den Ereignissen. Sie können den Blick nicht heben. Noch nicht einmal innerlich. Groß ist die Not. Zuviel war passiert. Damals vor gut 2500 Jahren in der Stadt Jerusalem. Der Tempel zerstört, die Mauern der Stadt geschliffen. Menschen, die arbeiten könnten, Handwerker und kluge Beamte: ins Exil deportiert. Den Kindern fehlen die Eltern, den Alten und Kranken die Versorger und allen die Hoffnung. Stumm hallt der Schrei durch die Gassen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Gott scheint abwesend.
III. Lichtgestalt(en)
Ein Mann geht durch die Straßen. Jeremia heißt er - vielleicht. Es gibt diese Menschen. Diese Besonderen. Erwählten. Berufenen. Heiligen. Jesus heißt ein Anderer. Er sieht die Not, die Trauer, die Hoffnungslosigkeit. Heimatlose Verzweiflung. Er sieht die Menschen an. Nimmt sie ernst. Von Angesicht zu Angesicht. „Wenn nicht zu Gott, wohin dann?“ fragt er sich. Obwohl er doch selbst so viele Fragen hat angesichts der Situation.
Aber:
Er will nicht stumm bleiben. Kann es nicht. Das ist nicht seine Aufgabe. Früh hatte er sich aufgemacht. Ist hinausgegangen. Alles hinter sich lassen. „Let’s have a Break.“ Ein Bruch.Manchmal ist das not-wendig. Wortwörtlich. Um Not zu wenden.
Draußen vor der Stadt hatte er gebetet. Der Blick auf die sanften Hügel. Die Wiesen und Felder. Er kniete nieder, sengte den Blick.
Er betete (nach dem Wochenpsalm 30 = EG 715):
Gott, wie sollen wir dich preisen? Tief ist der Schmerz. Ziehst du uns heraus? Wir schreien zu dir. Mache du uns gesund. Lobsingen wollen wir dir, wir, deine Heiligen, und deinen heiligen Namen preisen!
Aber dein Zorn? Selbst ein Augenblick scheint zu lang für uns. Du versprichst lebenslange Gnade. Wir haben geweint. Sind verzweifelt. Lass uns spüren, lass uns freuen: Jeder Morgen ist neu, und deine Treue ist ewig. Verwandle unsere Klage.
Dass wir tanzen. Dass graue Trauer sich lichtet, und Licht unser Herz durchströmt. Dass wir Dir singen und unsere Stimmen immer wieder das Dunkel vertreiben. Guter Gott, du bist treu. Danke. Jeremia.
Er sprach das Amen. Diesen Morgen.
Als er die Augen wieder öffnete, durchbrach die Sonne das Dunkel. Es schweigen Angst und Klage. Der Hahn krähte. Sunshine Reggae. Ein neuer, frischer Morgen. Ein warmes Herz.
Aus Abend und Morgen: ein neuer Tag! Gott ist treu. So geht er zurück in die Stadt.
IV. Hoffnung
Er geht durch die Straßen. Er sieht die Not, die Trauer, die Hoffnungslosigkeit. Er sieht die Menschen an. Nimmt sie ernst. Von Angesicht zu Angesicht. Er spricht sie an. Jeden Einzelnen. Leise. Sanft ist seine Stimme. Fast flüsternd, engelgleich:
Du, die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende.
Sondern sie ist alle Morgen neu, und seine Treue ist groß.
Der HERR ist mein Teil, auch dein, spricht meine Seele; darum will ich, darum sollst auch du auf ihn hoffen. Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.
Es ist ein köstlich Ding, geduldig zu sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.
Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. Die Menschen schauen auf. Schauen ihn an. Tief in seine Augen.
Sie sind verwirrt. Sie erheben den Blick. Sie fühlen die sanfte Berührung der Stimme. Fast zärtlich legt Jeremia gleichzeitig seine Hand auf den Arm. „Stehe auf. Erhebe dich. Und geh. Der Weg mag steinig sein.
Aber Gott ist treu. Er hilft. Gott erhöht.“ Und die Menschen stehen auf. Der gebeugte Rücken wird gerade. Der trübe Blick wird klar und entschlossen. Verzweiflung wird zu entschlossenem Kampf. Hoffnungslosigkeit zu mutigem Engagement.
Gott ist treu. Deshalb wollen wir kämpfen.
Wann, Jeremia, wann, Jesus, wann geht die Nacht in den Morgen über? So fragten die Menschen damals. So fragen wir heute. Ich erinnere mich an eine rabbinische Geschichte. Ein Meister sitzt im Kreis seiner Schüler und stellt genau diese Frage: Wann geht die Nacht in den Morgen über?
Die Schüler sind ratlos. Dann gibt einer von ihnen eine fragende Antwort: „Wenn man die Äste eines Baumes erkennen kann?“ „Nein“, antwortet der Rabbi. Einer anderer Schüler versucht es: „Wenn man ein Schaf von einer Ziege unterscheiden kann?“ „Nein“, antwortet der Rabbi. Da bedrängen die Schüler den Rabbi um eine Antwort. Und er spricht: „Die Nacht geht in den Morgen über, wenn man in dem Gesicht eines Menschen seinen Bruder oder seine Schwester erkennt.“
V. Herbst
September 2017. der Fünfundzwanzigste. Ein Montagvormittag. Nach der Wahl. DER Wahl.
Wunden lecken. Allgemeines Entsetzen. Ich bin zurück in der lauten, und immer noch merkwürdig stillen Stadt. Der graue Nebel will sich nicht heben. Bremen liegt im Flusstal. Noch immer wird scheinbar auf Prozente und Farbbalken gestarrt.
Stumm. Wie konnte das passieren? Vielleicht ist es aber einfach auch nur der Flussnebel. Ich lege die mitgebrachten Brötchen für das gemeinsame Frühstück auf den Tisch. Unser Hausbäcker hat sein Bestes getan. Golden knusprig liegen sie da.
Meine Frau starrt mich an. „Wie kannst du nur nach dem gestrigen Abend? Ich habe Angst!“
Auf einmal steht Jeremia neben mir. Als ob er mir die Worte in den Mund legt antworte ich: „Die habe ich auch. Aber wir sind stark. Unsere Demokratie ist stark. 12 einhalb Prozent sind viel. Ja. 25 Prozent Nichtwähler sind viel. Ja. Viel zu viel.
Aber 87 Prozent der Wählerinnen und Wähler machen mir viel Mut und Hoffnung. Lass uns essen und genießen. Wir leben. Und wir leben gut. Gott segne diesen guten Morgen. Gott meint es gut mit uns. Gott ist treu.“
Meine Frau schaut mich an und sagt: „Deine Augen leuchten gerade wie ein Sonnenaufgang.“ Und sie gibt mir einen Kuss.
Amen.
[Ein möglicher Schluss mit Jesaja 58,7-12, falls Erntedank gefeiert wird …]
VI. Erntedank
In vielen Gemeinden in Deutschland wird dieses Wochenende Erntedank gefeiert. Die Altäre sind geschmückt. Ernte-Umzüge ziehen durch die Dörfer und Straßen. Das Wissen von Gottes Güte ist (noch) vorhanden. Uns geht es gut! Wir haben guten Grund zu Danken. Das täglich Brot … es ist nicht selbstverständlich. Vielleicht gerade deshalb, gerade nach dem letztem Wahlsonntag, und es wäre doch mal ein Wahlprogramm, ein bisher ungehörtes, „unerhörtes“ Parteiprogramm,
das ein anderer Prophet für diesen Sonntag „Erntedank“ herausgegeben hat:
Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.
Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.
Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen:
»Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«. Es könnten Jeremias Worte sein. Oder auch Jesajas. Oder meine. Oder deine? Gottes Güte leuchtet. Jeden Morgen neu. In den Gaben am Altar.
Brich dem Hungrigen dein Brot. Abendmahl. Wenn wir in wirklicher Gemeinschaft feiern.
Herbst. September 2017.
Gottes Güte hat entschieden: wir sind nicht gar aus. Gottes Barmherzigkeit hat kein Ende. Sie ist alle Morgen neu, und seine Treue ist unermesslich. Gott hält an uns fest, darum hoffen wir auf ihn. Denn Gott ist freundlich, weil wir nach ihm fragen. Es ist ein köstlich Ding sein, geduldig zu sein und auf Gottes Hilfe zu hoffen. Ja, Gott, wir sind ungeduldig, hoffen auf dich, Gott wissen, dass du hilfst. Denn du verstößt nicht ewig; sondern auch wenn wir grübeln und traurig sind: Du erbarmst dich immer wieder nach deiner großen Güte.
Amen.