Predigt zu Klagelieder 3, 22-26.31-32 von Werner Klän
3,22

Predigt zu Klagelieder 3, 22-26.31-32 von Werner Klän

A.
An der Grenze, fast am Ende, kommt die Wende: Gottes Menschenfreundlichkeit bleibt. Zuvor aber geht es auf den Rand des Abgrunds zu; zuvor geht es durch die Nacht; zuvor ist Anlass zu Niedergeschlagenheit, und Verlassen scheint das Geschick zu sein, dem ihn unterliege.
Nie endende Einsamkeit könnte drohen; aussichtlose Ausweglosigkeit steht vor Augen; Dunkelheit scheint endlos ihn zu bedrängen; der Abgrund lauert vor mir und unter mir – gleich ist es aus mit mir; gleich ist alles aus.
Und doch nicht ganz das Ende, noch nicht völlig Schluss. Denn eins, denn Einer bleibt; ja eins, ja Einer bleibt mir, weiß der Beter: Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hören. So sprechen wir dem Beter nach und werden hineingenommen in den Raum der Güte Gottes:
 
Gott ist auf unserer Seite; das lässt
1.  uns hoffen, wo alles hoffnungslos scheint;
2.  das lässt uns Geduld üben, obwohl wir nicht weiter wissen und können;
3.  das gibt uns Gewissheit, weil ER am Ende die große Wende vollbringt.
 
B1
Gott ist auf unserer Seite; das lässt uns hoffen, wo alles hoffnungslos scheint.
Von dieser Grenzerfahrung redet Jeremia für das Volk Israel nach der Zerstörung Jerusalems, unsägliches Leid, unendliche Verluste im Hintergrund, der Wegbruch von allem, was wichtig und wertvoll war, der Fortfall von allem, was hoch und heilig gehalten wurde – der Tempel, die Stadt, der Thron, das Land, die Heimat allesamt Gottesgeschenke; dahin , zerstört, vergangen, vernichtet, vorbei!
Das gelobte Land, das Gott seinem Volk überlassen hatte; das Königtum das zu großer Blüte gekommen, dann aber verkommen war; das Heiligtum, den Gott seine Gegenwart zugesagt hatte – alles verspielt und verloren. Alles was Gott versprochen und wahr gemacht hatte; alles, was Gott gewählt und verwirklicht hatte in Israel – ausradiert, ausgelöscht. Das Ende aller Hoffnungen, das Ende aller Gotteszusagen, das Ende der Wege Gottes mit Israel vor Augen, bleibt nur ein Schluss: Auch damit hat Gott zu tun, auch hierbei ist Gott im Spiel. Hier waltete nicht blindwütiges Schicksal, hier widerfährt nicht einfach unverständliche Geschick, vielmehr: Der Untergang Israels ist auch Gottes Tat, Gott selbst hat bei diesem Geschehen die Hand im Spiel. Es sieht so aus, als nähme er zurück, was er versprochen hat; es fühlt sich so an, als habe ER verstoßen, den er doch erwählt hat; es scheint, als ob Gott allem ein Ende setzt, was ER doch selbst ins Werk gesetzt hatte. Gott widerruft, lässt nicht mehr gelten, was ER einst zugesagt hatte. Das muss das Ende sein, Israel und wir können es kaum anders wahrnehmen.
Wenn fraglich ist, ob noch besteht, was Gott verhieß; wenn nicht mehr gilt, was Gott versprach, worauf wir uns verließen; dann bricht alle zusammen Aber der Prophet weiß: Gottes Volk hat sich gerade nicht auf Gott verlassen, sondern hat IHN verlassen und sieht sich darum von IHM verlassen. Keine einfache Einsicht: die Erfahrung meiner Gottverlassenheit spiegelt nur, dass ihn Gott vergessen habe, nicht an IHN denke, IHN vernachlässige, aus dem Blick verliere, nicht bestimmen lassen wie über mich und meinen Weg. Doch mitten in dieser Bedrohung, kurz vor dem Abgrund, ja noch mitten im Stürzen, da schier alles hoffnungslos scheint, schöpfen wir Hoffnung. Diese Lage wird sich wenden, Gott wir dem Ende ein Ende setzen, denn ER ist noch nicht am Ende seiner Wege mit uns: Vollständig werden wir nicht vernichtet werden, vollends will ER uns nicht den Garaus machen, völlig wird ER und nicht dem Verderben preisgeben. Warum? Weil ER Gott ist, weil IHN auszeichnet, was abgeht: Mitleidend ist er an unserer Seite; verlässlich ist ER an unserer Seite, wohlwollend ist ER uns zugewandt und freundlich uns zugetan. Darauf setzt die Hoffnung: denn so kennen wir unseren Gott, so hören wir von IHM, so wird ER uns verkündet und zeigt sich uns im Bild Jesu Christi. Und was im Jesus Christus wahr und wirklich ist, gibt Grund zur Hoffnung; an IHN halten wir uns, und ER hält uns, so dass die Hoffnung lebt.
B2
Gott ist auf unserer Seite; das lässt uns Geduld üben, wenn wir nicht weiterwissen und -können.
Wenn ich wahrnehmen muss, dass Gott mir tatsächlich seine liebende Zuwendung und heilvolle Gegenwart entzieht; da bin ich verlassen und fühle mich zu Recht verstoßen, abgeschnitten von einer gelungenen Beziehung zu Gott, ausgeschlossen von guter Gemeinschaft mit IHM. Solcher Ausschluss, solche Trennung aber ist lebensgefährlich, eine tödliche Bedrohung, wenn Gott sie zurückzieht, weil ich mich IHM und seinen Wünschen entzogen habe. – Das ist schwer zu ertragen, wenn ich den Gedanken nicht verdränge, dass alles davon abhängt, wie Gott zu mir steht. Das ist nicht auszuhalten, wenn ich das Gefühl dafür nicht verloren habe, dass „alles, was zählt“, Gott ist und wie ER sich zu mir stellt. – Das Erschreckende in unserer Zeit und Welt ist ja, dass wir außerhalb der Kirche mit vielen zu tun haben, die vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben“ (Krötke). Zu ihnen Zugang zu finden mit der Botschaft vom gerechten und doch liebenden Gott, ist eine der größten Herausforderungen für die Mission der Kirche in unseren Tagen. Wir müssen auch von unsrer Gottvergessenheit reden und unsere selbstverschuldete Gottverlassenheit eingestehen. Also wir erinnern uns daran, dass Gott für uns da sein will, auch wenn ER und fern scheint. Mit dieser Erinnerung im Sinn und dieser Hoffnung vor Augen, üben wir uns in Geduld.
Für mich ist das eine schwierigsten Übungen: Geduld. Denn so wie ich geboren bin, möchte ich immer alles gleich und sofort und möglichst noch mehr. Warten müssen, schon an der Supermarktkasse, ist eher eine Bestrafung. Durchhalten, bis sich die Lösung für eine schwierige Aufgabe in Arbeit und Leben zeigt – eine Zumutung! Aushalten, wenn nicht absehbar ist, wie ich aus einer schier ausweglosen Lage herauskomme – eine Katastrophe. Der alte Mensch in mir mag das nicht, will das nicht, erträgt das nicht, und ist dann missmutig, übellaunig, miesepetrig, auch forsch, abweisend, böse, wütend und praktiziert den Aufstand, weil er, der alte Adam, erfahren muss, dass er gerade jetzt nicht der „Bestimmer“ ist (wie die Kinder sagen) – und er möchte immer der „Bestimmer“ sein. Deswegen ist er schnell enttäuscht, leicht verletzlich und tödlich beleidigt, wenn es nicht nach seinen Wünschen geht.
Darum bekomme ich im Leben von Gott immer wieder Aufgaben gestellt, mich in Geduld zu üben; die deutsche Sprache sagt das sehr klar und schön: Geduld will geübt sein, sie ist nicht da, sie stellt sich auch nicht plötzlich und auf einmal ein, sie fällt mir nicht einfach zu, sondern will geübt, trainiert, exerziert sein. Nach meiner Erfahrung arbeitet Gott sogar in der Weise der „Wiedervorlage“: Wenn meine Übung in Geduld nicht erfolgreich oder von anhaltenden Erfolg war – das ist sie nie – bekomme ich eine ähnliche, gleiche, manchmal dieselbe Geduldsprobe noch einmal aufgegeben. Geduldig sein, sagt der Beter, ist darum „ein köstlich Ding“ – wertvoll, kostbar, wichtig, hilfreich, segensreich. Denn ohne solche Geduld bliebe angesichts der vielen Hemmnisse und Hindernisse, Störungen und Behinderungen unseres Lebens nur: Verzweiflung. So aber ist die Aufgabe: das Handtuch werfen, den vergeblichen Kampf aufgeben, die Grenze, die mir gezogen, ist anzuerkennen; eingestehen, dass meine eigensinnigen Wege mich in einer Sackgasse haben enden lassen; das Ende meiner Möglichkeiten zugeben, und warten in Geduld, Zeit vergehen lassen in der Gewissheit, dass es mit Gottes liebevoller Zuwendung nie zu Ende geht; dass auf Gottes Verlässlichkeit immer Verlass ist.
B 3
Darum bekennen wir: Gott ist auf unserer Seite, weil ER am Ende die große Wende vollbringt.
Denn bei Gott hält sich durch, wenn uns alles entgleitet; bei Gott bleibt erhalten, wenn bei uns alles wegbricht; bei Gott hat Bestand, wenn bei uns alles zusammenzubrechen scheint: „Deine Treue ist groß“, weiß Jeremia zu Gott und von Gott zu sagen.
Wenn uns wo wir an unsere Grenzen gelangen, kann Gott uns darüber hinweghelfen. Wenn und wo wir ans Ende unserer Möglichkeiten kommen, kann Gott sie überwinden helfen. Denn Gott hält durch, trägt durch, hilft durch und rettet hierdurch, wo uns Schranken gesetzt sind: Wenn die Nachtgedanken uns kommen, scheint es, als wollte es nie Morgen werden. Da fällt uns nicht ein, dass ein neuer Tag uns neue Möglichkeiten von Gott her schenkt; aber der Beter weiß und ist gewiss: Gottes freundliche Zuneigung „ist alle Morgen neu“. Das Licht des neuen Tages weist uns auf Gottes Wohlwollen hin, der uns helle Stunden und wärmende Strahlen gönnt – auch innerlich, auch und gerade geistlich. Gewiss, es mag sein, dass wir uns von Gott verlassen, von IHM verstoßen und im Stich gelassen fühlen. Jeremia aber hat erlebt und erfahren und mancher unter uns auch: Solche Zustände nehmen ein Ende. Denn Gott selbst führt die große Wende herauf. Es mag schier endlos dauern, doch dann wird klar: Gott lässt uns nicht im Stich. Gott lässt uns nicht in der Ferne verderben, Gott lässt uns nicht im Elend stecken.
C
Für diese Wende steht ein Name: Jesus Christus, der sich unserer Nöte angenommen hat, wie keiner vor IHM und keiner nach IHM, Jesus Christus, der unser Geschick geteilt hat zur Gänze und bis zum letzten und bei uns ist und bei uns bleibt. Für diese Wende steht in deinem Leben ein Tag – der Tag deiner heiligen Taufe, an dem dir Gott versprochen hat: Ich bin dir gut. Für diese Wende steht heute ein Wort deines Gottes, der zu dir sagt und dir zusagt: Ich will dir wieder gut sein: Dir sind deine Sünden vergeben. Für diese Wende steht ein Vorgang, in dem dein Heiland dir schenkt, was ER eingesetzt hat zur Rettung der Welt: „Nimm hin und iss; das ist mein Leib, für dich gegeben in den Tod: nimm hin und trink, das ist mein Blut, für dich vergossen zur Vergebung aller deiner Sünden.“ Da wird es wahr, ganz wirklich wahr: Der HERR ist mein Teil. ER erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
Amen.