Predigt zu Kolosser 2, 9a.12-15 von Hans Joachim Schliep
2,9

Predigt zu Kolosser 2, 9a.12-15 von Hans Joachim Schliep

Ich bin so knallvergnügt erwacht.
    Ich klatsche meine Hüften.
    Das Wasser lockt. Die Seife lacht.
    Es dürstet mich nach Lüften.
    
    Ein schmuckes Laken macht einen Knicks
    Und gratuliert mir zum Baden.
    Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs
    Betiteln mich »Euer Gnaden«.
    
    Aus meiner tiefsten Seele zieht
    Mit Nasenflügelbeben
    Ein ungeheurer Appetit
    Nach Frühstück und nach Leben.[1]
  Liebe Gemeinde, haben Sie heute schon gefrühstückt?
     Dann hoffe ich, es hat Ihnen geschmeckt und weiteren Appetit…nach Leben geweckt. Wie in Joachim Ringelnatz, den durch viele heitere und skurrile Verse bekannten Verfasser des eben zitierten Gedichts. Ringelnatz erblickt den Appetit…nach Leben, der ja schlechthin und naturgemäß zum Menschsein gehört, im vergnügten Erwachen, im erfrischenden Morgenbad, in blankgeputzten Schuhen, im Verlangen nach einem leckeren Frühstück. Danach fühlst du dich wie neugeboren! Leben!
     Um Leben geht es auch Ostern. Von Ostern kommen wir her, Ostern ist noch nahe dran. Ostern ist mehr als ein Frühlingsfest, die Osterfreude mehr als die Freude über die Wiederbelebung der Natur im Auf und Ab des ‚Stirb und werde’. Die Osterbotschaft verkündet ein Leben, das durch kein Sterben aufgehalten werden kann, ein Neues Sein, in dem wir das Ende, das auf uns wartet, am Anfang schon überstanden haben.
     Diesen Osterglauben hat die frühe Christenheit an der Taufe festgemacht und als eine Neugeburt beschrieben - und damit als leibliches, sinnenhaftes Geschehen. Das drückt der Name dieses Sonntags aus: quasi modo geniti infantes - wie die neugeborenen Kinder.[2]
     Auch der Predigttext für diesen Ersten Sonntag nach Ostern, im 2. Kapitel des Kolosserbriefs die Verse 12 bis 15, will in der Perspektive Leben in seiner ganzen Fülle gelesen werden. Besonders deutlich wird das, wenn ich Worte aus Vers 9 als Themenangabe voranstelle. Als Übersetzung wähle ich ausnahmsweise die von Jörg Zink, weil ich dann in der Predigt weniger erklären muss:
     9Denn die Fülle des Wesens Gottes wohnt ganz und gar in [Jesus Christus]… 12Wie er begraben wurde, so seid ihr gestorben und begraben. Dafür ist die Taufe, bei der ihr ins Wasser getaucht werdet, das Zeichen. Wie er aus dem Tod auferstanden ist, so seid ihr zu neuem Leben auferstanden dadurch, dass ihr an die Macht dessen glaubt, der ihn von den Toten erweckt hat. 13Eure Sünden waren das Grab, in das ihr euch selbst verschlossen habt. Er aber hat die Sünden weggeräumt, euer Grab geöffnet und euch mit ihm frei heraustreten lassen. 14Oder anders gesprochen: Ihr habt euch durch alles Böse, das ihr gemacht oder getan habt, ständig verschuldet. Immer länger wurde die Liste, in der verzeichnet war, was ihr Gott schuldig seid und was ihr zurückzuzahlen und wiedergutzumachen habt. Da hat Christus den Schuldschein genommen, ihn zerrissen und an das Kreuz geheftet, an dem er selbst gestorben ist. Damit ist gesagt: Das alles ist wiedergutgemacht. Das alles ist bezahlt. 15So hat er über den Tod gesiegt, über die Sünde und den Teufel, die über euch Macht hatten. Er hat sie unschädlich gemacht und bloßgestellt wie ein Feldherr, der nach dem Sieg seine Gefangenen im Triumphzug durch die Straßen führt.
     Soweit Kolosser 2 Verse 12 bis 15, mit Vers 9 als Leitvers. Es geht um die Fülle des Lebens aus der Fülle Gottes. Darum sind die Worte auch aus dem vollen Leben genommen. Am Schluss ist es das Bild von dem Feldherr[n], der…seine Gefangenen im Triumphzug durch die Straßen führt. Mir ist das zu militärisch. Das Bild von der Taufe zeigt mir den Herrschaftswechsel, um den es geht, anschaulich genug an: wie damals die Täuflinge ganz untergetaucht werden, als müssten sie im Wasser ihr Grab finden, und dann wieder hochgeholt werden, um das Licht der Sonne ganz neu zu erblicken. Ein lebensvolles Bild! Dem erquickenden Bad im Ringelnatz-Gedicht und damit einer unserer Alltagserfahrungen ganz nahe. Das schmucke Laken, das einen Knicks macht, erinnert zumindest entfernt an die weißen Gewänder, die die frühen Christinnen und Christen nach der Taufe am Ostermorgen anlegten und durch die sie sieben Tage lang das Neue Sein in Christus aller Welt sinnenfällig bezeugten.
     Das nächste Bild ist freilich eher düster: Eure Sünden waren das Grab, in das ihr euch selbst verschlossen habt. Aber auch das ist ein anschauliches, ja ein treffendes Bild. Sünde - Grab - selbst verschlossen. Diese Worte, nur etwas anders zueinander in Beziehung gesetzt, sagen, was Sünde ist: Selbstverschlossenheit. Nicht weil das Sinnenhafte der Liebe Sünde wäre, sind beide Gegensätze. Sondern weil das in Wahrheit Sünde ist, wenn ein Mensch sich so in sich selbst verschließt, dass er oder sie das wahre Lebenswort sich auszusprechen weigert: LIEBE - ICH LIEBE DICH. Wenn aber manche Menschen nichts mehr wünschen als eben diese Worte zu jemandem zu sprechen, es aber nicht können? Dann - jedenfalls meistens - haben andere Menschen sich ihnen gegenüber verweigert, verschlossen. Luther hat vom sündigen Menschen nicht in moralischen Begriffen gesprochen, sondern ihn als in sich ge- und verkrümmten Menschen bezeichnet, als in sich selbst gefesselt, gefangen, gleichsam bei lebendigem Leib begraben.
     Aber: Das Leitbild des Christseins, das christliche Menschenbild ist das des freien, weil befreiten Menschen! Nicht des Menschen, der nicht mehr schuldig werden könnte, aber des Menschen, der dennoch leben kann: frei nicht von, aber in und trotz Schuld. Weil er ein Mensch mit Jesus Christus ist, an dessen Seite, an dessen Hand er ins Leben hinaustritt: Er [Gott] aber hat…euer Grab geöffnet und euch mit ihm [Jesus Christus] frei heraustreten lassen. Christinnen und Christen wissen um die unmögliche Möglichkeit der Selbstverschlossenheit. Zugleich aber sind sie - sind wir - gewiss und getrost, nicht mehr im Grab der Selbstverschlossenheit verbarrikadiert, sondern von Jesus Christus ins Freie gerufen zu sein. Christsein heisst: Davon zu leben und das zu leben, dass er uns hat heraustreten lassen. So ist Christsein ek-statisch statt statisch, ein Außersichsein, ein Neues Sein mit allen Sinnen. Wen es - in diesem Sinn - dürstet…nach Lüften, ist im Leben mit Jesus Christus angekommen!
     An drei kleinen Buchstaben hängt alles: mit! Wer mit jemandem ist, ist weder ganz in sich verschlossen noch ganz allein. Wir sind mit Jesus Christus, weil er mit uns ist! Wie sehr, zeigt am Ende von Vers 14 das Bild vom Schuldschein, den Jesus Christus zerrissen und an das Kreuz geheftet hat, an dem er selbst gestorben ist. Dabei geht es wirklich ums Leben. Dazu jetzt drei Gedanken.
     Zunächst plädiere ich dafür, den Menschen zu verstehen als dasjenige Lebewesen, zu dem Schuld dazugehört. Eben das unterscheidet, soweit wir erkennen können, den Menschen vom Tier. Und eben das Schuldigwerden, dem niemand entkommt, lässt die andere Seite hervortreten, die uns Menschen kennzeichnet: Freiheit und Verantwortung. Jenseits von Sünde und Schuld gibt es weder Verantwortung noch Freiheit!
     Können Sie sich einen Menschen ohne Schuld vorstellen? Der brauchte kein Gewissen, wäre also gewissen-los. Der hätte, weil ihm Scheitern und Scham fremd blieben, ein kaltes Herz, wäre also gefühls-kalt. Der wäre am Ende zu keiner Wohltat fähig, weil er die Wohltat des vergebenden Wortes und der versöhnenden Hand niemals spürte. Der wäre gnadenlos, weil er keine Gnade bräuchte - und hätte sie umso mehr nötig. Der wäre lieb-los, trost-los, weil niemand ihm Liebe, Trost geben könnte, die er doch umso mehr bräuchte. Der wäre also um ganz wichtige Lebenserfahrungen ärmer. Nicht dass wir uns absichtlich in Schuld verstricken sollten, aber dass wir anerkennen, in Schuld verstrickt zu sein - das macht uns lebendig, erfahren, menschlich. 
     Damit - und das ist das Zweite - plädiere ich dafür, Sünde und Schuld auch wieder als Verhängnis zu begreifen. Nicht um uns zu entschuldigen, wir könnten ja nichts für die Folgen verfehlten Handelns und Lebens, sondern als das, in dem wir hängen und das uns anhängt. Dass wir das Mensch- und das Schuldigsein im Namen modernen, humanen Denkens möglichst strikt voneinander trennen, ist das Gegenteil von Humanität. Wo Schuld als Lebensdimension geleugnet wird, entfaltet sie erst recht ihre Macht. Und wie reagieren Menschen, wenn etwas Schlimmes geschehen ist? Oft sind dann ansonsten unbescholtene Bürger, medial verstärkt, schnell und unerbittlich, mit Gewaltdrohungen auf der Suche nach den Schuldigen, auch wenn die Beweisaufnahme gerade erst begonnen hat.
     Doch in diesem Zusammenhang ist mir etwas Anderes mindestens ebenso wichtig: Heutzutage besteht die Neigung, die Schuldfrage auf die Erfolgsfrage einzuschränken sowie alles Wohl und Wehe auf die Einzelperson zurückzuführen: Was habe ich falsch gemacht? Womit habe ich diesen Misserfolg verursacht? Bitte verstehen Sie mich recht: Die Frage nach der persönlichen Verantwortung ist unabweisbar, unverzichtbar. Wo Verantwortung aber allein am Erfolg, an sichtbaren Ergebnissen des Wohls und des Glücks gemessen wird, wird sie einem bloßen Kosten-Nutzen-Denken unterworfen. Das führt am Ende zur Verantwortungslosigkeit: Was kann ich dafür? Oder zur Selbstüberschätzung: Was ich alles vermag! Oder zur Selbstverachtung: Ich bin doch unfähig und unnütz! In alledem geht die Humanität vor die Hunde.
     Dagegen wird im Kolosserbrief von Mächten und Gewalten gesprochen, die kein Mensch beeinflussen kann, die zunächst einmal einfach da sind, die einzig Gott wirklich in Schach halten kann. Dass es ein Schuldverhängnis gibt, entlastet uns davon, alles auf uns selbst zurückführen zu müssen. Zugleich eröffnet es uns die Möglichkeit, unsere eigene Rolle, ohne uns vorab mildernde Umstände zuzubilligen, realitätsgerechter wahrzunehmen, um dann diejenige Schuld erkennen zu können, die nach menschlichem Einsichtsvermögen uns tatsächlich zukommt. Schuld ist ja immer Verhängnis und Tat zugleich.
     Das Dritte ist nun allerdings das Allerwichtigste, Entscheidende: der Schuldschein ist zerrissen, Jesus Christus hat ihn an das Kreuz geheftet, das ganze Konto unserer Taten und Untaten ist gelöscht. Jedenfalls spielt es für unser Ansehen bei Gott keine Rolle mehr. Die biblische Botschaft lässt Schuld erkennen, in der Kraft des Evangeliums wird sie aber auch vergeben. Diese wichtige Seite des Osterglaubens - des Gottvertrauens, dessen Quelle die Taufe ist - wird im Kolosserbrief besonders betont. In Worten unserer Tage: Inmitten der Schuldenkrise ist der Schuldenschnitt schon vollzogen!
     Ja, in der Bibel hat Schuld zunächst einmal etwas mit Schulden zu tun. Dabei lädt in erster Linie Schuld auf sich nicht, wer Schulden macht, sondern wer andere in Schulden hineintreibt und ihn niemals daraus entlässt. Zu den vielen Facetten von Schuld gehört, Menschen von sich abhängig zu machen, ihnen die Würde abzusprechen, in ihnen durch Zwangsvorschriften und Dauervorwürfe Schuldgefühle zu erzeugen, Opfer wie Täter und Täter wie Opfer zu behandeln - und dergleichen mehr. So entstehen gegenseitige Blockaden, Verschlossenheiten und Verstrickungen, aus denen nur das Gebet heraushelfen kann: …und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Diese Vaterunser-Bitte hat mit sehr irdischen Verschuldungen und Schulden zu tun. In den Mose-Büchern, z. B. 3. Mose 25, gibt es die Weisung, nach sieben bzw. sieben mal sieben Jahren einem verschuldeten Menschen alle Schulden zu erlassen. Niemand soll bis ans Lebensende in Schuldknechtschaft leben müssen. Alle, die - aus welchen Gründen auch immer - verschuldet sind, sollen einmal wieder freie Menschen sein. Das ist der soziale Hintergrund von Kolosser 2 Vers 14: dass Jesus Christus den Schuldschein…zerrissen und an das Kreuz geheftet hat.
     Das ist keinesfalls ein Freibrief dafür, sich hemmungslos zu verschulden, schon gar nicht auf Kosten anderer! Es zeigt aber, wie Schulden und Schuld den sicheren Tod bedeuten können - und dass es eine tiefe Schuld ist, jemanden in Schulden zu stürzen. Das geschähe auch in einer Welt ohne Vergebung, Versöhnung. Dann werden nämlich Menschen festgenagelt auf das, was einmal geschehen ist, begraben unter dem, was sie einmal getan haben. Die in Hannover geborene jüdische Philosophin Hannah Arendt hat sogar gesagt, menschengerechte Politik sei nur aufgrund von Vergebung und Versöhnung möglich. Dafür zitiert sie Jesus als Beispiel und spricht von Neugeburt.
     Eben darin erblicke ich die Pointe unseres heutigen Predigttextes: Keineswegs ist schon alles gut, aber Jesus Christus hat es längst schon wieder gutgemacht - und das heißt: uns neu zum Leben ermächtigt. So sind Vergebung, Versöhnung die Einübung in Auferstehung. Die Mächte und Gewalten, die wie Schuld und Tod uns unter sich begraben wollen - sie sind noch da, aber sie sind Jesus Christus untergeordnet, sie üben noch Macht aus, aber sie haben gegenüber der Liebe Gottes jedes Recht an uns verloren. Wer durch die Taufe zu Christus gehört, der bleibt in und mit ihm, auch in Schuld und Scheitern, in Scham und Schande. Für mich beginnt Auferstehung in Jesu Kreuzestod: Er ist das brutale Ende seiner kurzen Lebenszeit, aber kraft dieses Endes wird unser Herz, wird der Erdkreis erfüllt mit einer Liebe, die sich von keinem Tod unterkriegen lässt, die in alle Lebensräume hinein und über alle Lebenszeiten hinaus wirksam ist.
     Ein schier unglaublicher Glaube. Aber kann die Welt anders gerettet werden als aus dem Unglaublichen heraus? Es verleiht dem Appetit nach Frühstück und nach Leben tiefen Grund, einen endlichen in unserem kreatürlichen Begehren und einen ewigen in der unzerstörbaren Liebe Gottes. Amen.
  Kanzelsegen


  
  
    1) Joachim Ringelnatz: Morgenwonne, in: Ringelnatz in kleiner Auswahl, Berlin 19648, S. 86f
    2) 1. Petrus 2,2a
     
Perikope
Datum 15.04.2012
Bibelbuch: Kolosser
Kapitel / Verse: 2,9
Wochenlied: 102
Wochenspruch: 1 Petr 1,3