Predigt zu Kolosser 2,12-15 von Rainer Stahl
2,12
Liebe Leserin, lieber Leser, liebe Schwestern und Brüder,
immer mehr empfinde ich es als zutiefst beeindruckend, dass die frühen christlichen Theologen die Wahrheit unseres Glaubens gerade mit einer Anspielung auf die Finanzwelt, auf die finanzielle Seite unseres Lebens zur Sprache gebracht haben: „Der Schuldbrief, der gegen uns gerichtet war, ist zerrissen!“ (Vers 14).
Der Verfasser des Kolosserbriefes geht also davon aus, dass es für jede und jeden von uns einen Zettel gibt, auf dem unsere Schuld, auf dem unser Soll, auf dem die finanziellen Forderungen gegen uns aufgelistet und summiert sind! Gegen jede und jeden ein Schuldschein, ein Forderungskatalog! Selbst angesichts des besten Lebens!
Ich weiß nicht, wie es Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, in Ihrem persönlichen Leben geht. Gehören Sie zu den Vielen, die tatsächlich Schulden haben? Und wenn ja, welche Schulden und wie viele haben Sie? In welchem Verhältnis stehen Ihre Schulden zu Ihren Einkünften, zu eventuellem Besitz und Eigentum? Und: Warum haben Sie Schulden?
Mir fällt eine längst vergangene Zeit in meinem Leben ein: die Zeit meines Studiums an der Sektion Theologie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Alle Kommilitoninnen und Kommilitonen erhielten ein Stipendium. Jede und jeder 190,00 Mark der DDR pro Monat. Wer gute Leistungen brachte, konnte noch ein Leistungsstipendium dazu bekommen – wenn ich mich recht erinnere, mit der ersten Stufe 25,00 Mark, mit der zweiten 50,00 Mark und mit der dritten 75,00 Mark der DDR mehr. Von einer bestimmten Zeit an bekam ich dieses höchste Leistungsstipendium, hatte also monatlich 265,00 Mark der DDR.
Manchmal kam es vor, dass in der letzten Woche des Monats ein oder zwei Kommilitonen zu mir kamen und mich baten, ihnen etwas Geld zu borgen – der eine 20,00 Mark, der andere 30,00 Mark. Am „Stip-Tag“ – das Stipendium wurde immer bar ausgezahlt, nie auf ein Konto überwiesen (!) – habe ich dann diese Schuld sofort eingetrieben, so dass ich also auch einmal zusammen 315,00 Mark der DDR hatte. Da war ich damals „reich“. Meine Mutter konnte mich nicht finanziell unterstützen. Ich musste allein hinkommen.
Aber auch über meinem Leben scheint ein Schuldschein zu stehen. Auch zu mir scheint der Brief unterwegs zu sein, der mir mitteilt, was ich alles schuldig geblieben bin, wann ich Erwartungen anderer enttäuscht habe, wann ich mich selber auf Kosten anderer gerettet habe, wann ich Gott vergessen und nur mich gesehen habe und meine eigenen Interessen!
Ich bin in jene wichtige soziale Arbeit nicht einbezogen und weiß deshalb nicht genau, wie sie im Einzelnen abläuft: die Schuldnerinnen- und Schuldnerberatung. Aber sie dürfte nach meiner Einschätzung vor allem zwei Facetten haben:
Sie muss zusammen mit der Person, die Schulden hat und Hilfe braucht, herausbekommen, wie die bestehenden Schulden beglichen werden können, welche bisher verborgenen finanziellen Ressourcen vielleicht doch noch existieren, von denen her die Schulden bezahlt werden können, und vor allem, welche Lebensdisziplin nötig ist, um einen Teil der laufenden Einkünfte auch wirklich für die Schuldentilgung zu nutzen.
Und sie muss herausbekommen, welche Schwerpunkte im Leben gesetzt werden müssen, gelernt werden müssen zu setzen, um nicht wieder schuldig zu werden (eine interessante Formulierung, die mir da aus der Feder geflossen ist!), d.h. um nicht wieder Schulden zu machen.
Auch da habe ich vor langer Zeit, in der elterlichen Familie einen Grundsatz gelernt, der einer völlig vergangenen Zeit entstammt, aber auch für heute erkennen hilft, was wichtig ist: „Es müssen zuerst bezahlt werden: die Miete, die eingekellerten Kartoffeln und die im anderen Keller gelagerten Kohlen.“ Moderner und allgemeiner gesagt: Zuerst sind die laufenden Kosten für Wohnung, Heizung, grundlegendes Essen und Trinken und für das Auto zu bezahlen, um zum Arbeitsplatz und wieder nach Hause zu kommen. Danach können wir sehen, was wir uns sonst noch leisten mögen.
Dass Familien auf Pump Urlaub machen, zeigt, dass sie in einer existentiellen Falle sitzen – wechselseitig den eigenen Familienangehörigen gegenüber und den Menschen im Umfeld von Arbeit und Bekanntenkreis gegenüber. Hier sind Freiheit, ja: Befreiung nötig. Diese Befreiung, diese Freiheit schenkt unser Glaube!
Ähnlich wie bei der Schuldnerinnen- und Schuldnerberatung geht es auch beim Glauben darum, ein tragfähiges Fundament für das Leben zu bekommen, die richtige Grundhaltung, durch die wir das Notwendige und Mögliche zu unterscheiden lernen, Standbein und Spielbein zu differenzieren verstehen und innerlich bejahen, dass das Standbein und das Notwendige zuerst kommen müssen und dann erst das Mögliche und das Spielbein. Mit den Worten meines Vaters: Erst die Miete, die Kartoffeln, die Kohlen bezahlen und dann mit dem, was dann noch da ist, das Leben weiter gestalten. Es kommt also darauf an zu erkennen, was das in den Augen unseres Glaubens ist, worauf unser Glaube uns da hinweist, was er als die Mitte unseres Lebens bezeichnet. Dazu gibt unser Bibelabschnitt wichtige Hinweise!
Die alles entscheidende Aussage steht vor ihm, ist von den Verantwortlichen für die Abgrenzung der Predigtabschnitte gar nicht ausgewählt worden (warum wohl nicht?), sie müssen wir aber hören:
„Wie ihr nun den Herrn Christus Jesus angenommen habt, so lebt auch in ihm und seid in ihm verwurzelt und gegründet und in ihm im Glauben Festgemachte…“ (Verse 6 und 7 – mit der längsten Textvariante des griechischen Kolosserbrieftextes an dieser Stelle).
Oder anders herum:
Nur insofern wir im Glauben an Christus Festgemachte und in ihm Gegründete sowie unser Leben in Beziehung zu Christus Führende sind, haben wir ihn auch angenommen.
Von daher kann alles aufgedröselt werden. Von daher auch wissen wir, dass uns die Sollbescheinigung, der Schuldschein in Wahrheit nicht mehr erreichen! Sie sind postalisch doch nicht mehr auf dem Weg zu uns! Wir brauchen nicht sorgenvoll unseren Briefkasten oder unser outlook express zu öffnen. Die Sollbescheinigung, den Schuldbrief hat Christus für uns abgefangen!
Darf ich vielleicht überraschend assoziieren? Wie die Staatssicherheit der DDR manchen Brief abgefangen hat – dies aber in böser Absicht –, so hat Christus jene Briefe in guter Absicht abgefangen! Er hat erklärt, dass er die Schuld für uns bezahlt, das Soll für uns beglichen hat. Das macht unsere Freiheit aus. Das nimmt uns die Sorgen vor morgen. Denn:
„jesus christus
er nahm
den tod
in kauf
er gab
sein leben
in zahlung
er machte
unser soll
zum haben“
(Wilhelm Willms, Evangelisches Gesangbuch, S. 732).
Auf diese Weise erfahren wir, dass unser Leben grundlegend, fundamental von Freiheit gekennzeichnet ist. Die eigentliche Personmitte von jeder und jedem von uns ist in Freiheit gesetzt, nicht mehr in Versklavung, nicht gebunden sondern entbunden, gelöst. Von dieser Freiheit her können wir in den Zwängen unseres Lebens, auch in den finanziellen, als eigentlich Freie agieren.
Wie es die Verfasser der Barmer Theologischen Erklärung in einer für uns unvorstellbaren Terrorgesellschaft (!) gesagt haben: „Durch Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt…“
Wie es Joachim Gauck, für uns Pfarrerinnen und Pfarrer unser früherer Mitbruder im Amt der Kirche, ganz zurückhaltend schreibt: „Wenn ich für Freiheit als Verantwortung werbe, mache ich das so: Wir können das eigentlich alle. Denn wir alle haben ein natürliches Empfinden für eine Aufgabe oder kennen die Hingabe. Schon bevor wir politisch werden, lernen wir, dass es möglich ist, die Bezogenheit auf das eigene Selbst hintanzustellen. Wir sind geboren zur Lebensform der Bezogenheit. Wir erleben sie als eine zentrale Menschenmöglichkeit… – meist keinesfalls als erdrückende Last, sondern als glückhaftes Geschehen, als Teil unserer humanen Existenz.“
Und von daher können wir mutig mit Christi Hilfe unser Leben gestalten.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus, Jesus, unserem Herrn.
immer mehr empfinde ich es als zutiefst beeindruckend, dass die frühen christlichen Theologen die Wahrheit unseres Glaubens gerade mit einer Anspielung auf die Finanzwelt, auf die finanzielle Seite unseres Lebens zur Sprache gebracht haben: „Der Schuldbrief, der gegen uns gerichtet war, ist zerrissen!“ (Vers 14).
Der Verfasser des Kolosserbriefes geht also davon aus, dass es für jede und jeden von uns einen Zettel gibt, auf dem unsere Schuld, auf dem unser Soll, auf dem die finanziellen Forderungen gegen uns aufgelistet und summiert sind! Gegen jede und jeden ein Schuldschein, ein Forderungskatalog! Selbst angesichts des besten Lebens!
Ich weiß nicht, wie es Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, in Ihrem persönlichen Leben geht. Gehören Sie zu den Vielen, die tatsächlich Schulden haben? Und wenn ja, welche Schulden und wie viele haben Sie? In welchem Verhältnis stehen Ihre Schulden zu Ihren Einkünften, zu eventuellem Besitz und Eigentum? Und: Warum haben Sie Schulden?
Mir fällt eine längst vergangene Zeit in meinem Leben ein: die Zeit meines Studiums an der Sektion Theologie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Alle Kommilitoninnen und Kommilitonen erhielten ein Stipendium. Jede und jeder 190,00 Mark der DDR pro Monat. Wer gute Leistungen brachte, konnte noch ein Leistungsstipendium dazu bekommen – wenn ich mich recht erinnere, mit der ersten Stufe 25,00 Mark, mit der zweiten 50,00 Mark und mit der dritten 75,00 Mark der DDR mehr. Von einer bestimmten Zeit an bekam ich dieses höchste Leistungsstipendium, hatte also monatlich 265,00 Mark der DDR.
Manchmal kam es vor, dass in der letzten Woche des Monats ein oder zwei Kommilitonen zu mir kamen und mich baten, ihnen etwas Geld zu borgen – der eine 20,00 Mark, der andere 30,00 Mark. Am „Stip-Tag“ – das Stipendium wurde immer bar ausgezahlt, nie auf ein Konto überwiesen (!) – habe ich dann diese Schuld sofort eingetrieben, so dass ich also auch einmal zusammen 315,00 Mark der DDR hatte. Da war ich damals „reich“. Meine Mutter konnte mich nicht finanziell unterstützen. Ich musste allein hinkommen.
Aber auch über meinem Leben scheint ein Schuldschein zu stehen. Auch zu mir scheint der Brief unterwegs zu sein, der mir mitteilt, was ich alles schuldig geblieben bin, wann ich Erwartungen anderer enttäuscht habe, wann ich mich selber auf Kosten anderer gerettet habe, wann ich Gott vergessen und nur mich gesehen habe und meine eigenen Interessen!
Ich bin in jene wichtige soziale Arbeit nicht einbezogen und weiß deshalb nicht genau, wie sie im Einzelnen abläuft: die Schuldnerinnen- und Schuldnerberatung. Aber sie dürfte nach meiner Einschätzung vor allem zwei Facetten haben:
Sie muss zusammen mit der Person, die Schulden hat und Hilfe braucht, herausbekommen, wie die bestehenden Schulden beglichen werden können, welche bisher verborgenen finanziellen Ressourcen vielleicht doch noch existieren, von denen her die Schulden bezahlt werden können, und vor allem, welche Lebensdisziplin nötig ist, um einen Teil der laufenden Einkünfte auch wirklich für die Schuldentilgung zu nutzen.
Und sie muss herausbekommen, welche Schwerpunkte im Leben gesetzt werden müssen, gelernt werden müssen zu setzen, um nicht wieder schuldig zu werden (eine interessante Formulierung, die mir da aus der Feder geflossen ist!), d.h. um nicht wieder Schulden zu machen.
Auch da habe ich vor langer Zeit, in der elterlichen Familie einen Grundsatz gelernt, der einer völlig vergangenen Zeit entstammt, aber auch für heute erkennen hilft, was wichtig ist: „Es müssen zuerst bezahlt werden: die Miete, die eingekellerten Kartoffeln und die im anderen Keller gelagerten Kohlen.“ Moderner und allgemeiner gesagt: Zuerst sind die laufenden Kosten für Wohnung, Heizung, grundlegendes Essen und Trinken und für das Auto zu bezahlen, um zum Arbeitsplatz und wieder nach Hause zu kommen. Danach können wir sehen, was wir uns sonst noch leisten mögen.
Dass Familien auf Pump Urlaub machen, zeigt, dass sie in einer existentiellen Falle sitzen – wechselseitig den eigenen Familienangehörigen gegenüber und den Menschen im Umfeld von Arbeit und Bekanntenkreis gegenüber. Hier sind Freiheit, ja: Befreiung nötig. Diese Befreiung, diese Freiheit schenkt unser Glaube!
Ähnlich wie bei der Schuldnerinnen- und Schuldnerberatung geht es auch beim Glauben darum, ein tragfähiges Fundament für das Leben zu bekommen, die richtige Grundhaltung, durch die wir das Notwendige und Mögliche zu unterscheiden lernen, Standbein und Spielbein zu differenzieren verstehen und innerlich bejahen, dass das Standbein und das Notwendige zuerst kommen müssen und dann erst das Mögliche und das Spielbein. Mit den Worten meines Vaters: Erst die Miete, die Kartoffeln, die Kohlen bezahlen und dann mit dem, was dann noch da ist, das Leben weiter gestalten. Es kommt also darauf an zu erkennen, was das in den Augen unseres Glaubens ist, worauf unser Glaube uns da hinweist, was er als die Mitte unseres Lebens bezeichnet. Dazu gibt unser Bibelabschnitt wichtige Hinweise!
Die alles entscheidende Aussage steht vor ihm, ist von den Verantwortlichen für die Abgrenzung der Predigtabschnitte gar nicht ausgewählt worden (warum wohl nicht?), sie müssen wir aber hören:
„Wie ihr nun den Herrn Christus Jesus angenommen habt, so lebt auch in ihm und seid in ihm verwurzelt und gegründet und in ihm im Glauben Festgemachte…“ (Verse 6 und 7 – mit der längsten Textvariante des griechischen Kolosserbrieftextes an dieser Stelle).
Oder anders herum:
Nur insofern wir im Glauben an Christus Festgemachte und in ihm Gegründete sowie unser Leben in Beziehung zu Christus Führende sind, haben wir ihn auch angenommen.
Von daher kann alles aufgedröselt werden. Von daher auch wissen wir, dass uns die Sollbescheinigung, der Schuldschein in Wahrheit nicht mehr erreichen! Sie sind postalisch doch nicht mehr auf dem Weg zu uns! Wir brauchen nicht sorgenvoll unseren Briefkasten oder unser outlook express zu öffnen. Die Sollbescheinigung, den Schuldbrief hat Christus für uns abgefangen!
Darf ich vielleicht überraschend assoziieren? Wie die Staatssicherheit der DDR manchen Brief abgefangen hat – dies aber in böser Absicht –, so hat Christus jene Briefe in guter Absicht abgefangen! Er hat erklärt, dass er die Schuld für uns bezahlt, das Soll für uns beglichen hat. Das macht unsere Freiheit aus. Das nimmt uns die Sorgen vor morgen. Denn:
„jesus christus
er nahm
den tod
in kauf
er gab
sein leben
in zahlung
er machte
unser soll
zum haben“
(Wilhelm Willms, Evangelisches Gesangbuch, S. 732).
Auf diese Weise erfahren wir, dass unser Leben grundlegend, fundamental von Freiheit gekennzeichnet ist. Die eigentliche Personmitte von jeder und jedem von uns ist in Freiheit gesetzt, nicht mehr in Versklavung, nicht gebunden sondern entbunden, gelöst. Von dieser Freiheit her können wir in den Zwängen unseres Lebens, auch in den finanziellen, als eigentlich Freie agieren.
Wie es die Verfasser der Barmer Theologischen Erklärung in einer für uns unvorstellbaren Terrorgesellschaft (!) gesagt haben: „Durch Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt…“
Wie es Joachim Gauck, für uns Pfarrerinnen und Pfarrer unser früherer Mitbruder im Amt der Kirche, ganz zurückhaltend schreibt: „Wenn ich für Freiheit als Verantwortung werbe, mache ich das so: Wir können das eigentlich alle. Denn wir alle haben ein natürliches Empfinden für eine Aufgabe oder kennen die Hingabe. Schon bevor wir politisch werden, lernen wir, dass es möglich ist, die Bezogenheit auf das eigene Selbst hintanzustellen. Wir sind geboren zur Lebensform der Bezogenheit. Wir erleben sie als eine zentrale Menschenmöglichkeit… – meist keinesfalls als erdrückende Last, sondern als glückhaftes Geschehen, als Teil unserer humanen Existenz.“
Und von daher können wir mutig mit Christi Hilfe unser Leben gestalten.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus, Jesus, unserem Herrn.
Perikope