Predigt zu Kolosser 2,3-10 von Sven Evers
2,3-10

Vorbemerkung:
Zwei Dinge möchte ich mit den folgenden Zeilen versuchen.
Zum einen möchte ich die Verse aus dem Kolosserbrief ihrem Geiste und nicht notwendigerweise der Reihenfolge der Buchstaben nach verstehen. Daher die ein oder andere Umstellung im Text.
Zum anderen möchte ich den Text gerne ein wenig „weihnachtlich“ einkleiden. Das Lied „Ich steh an Deiner Krippen hier“ schien mir dazu einen geeigneten Rahmen zu bieten. Die „Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“, die „Fülle der Gottheit“ – genau das beschreibt ja, so verstehe ich es, Paul Gerhard in seinem Lied.
Ob die Zusammenstellung beider Texte, ob ihre Auslegung oder allein schon ihre weihnachtliche Einkleidung gelungen ist, vermag ich selber nicht zu beurteilen – aber vielleicht hilft ja selbst das, was nicht gelungen ist, anderen einen gangbareren Weg zu finden.
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Ich steh an Deiner Krippen hier, o Jesu, Du mein Leben!
Meine ich das so? Daß ich hier stehe – klar, das meine ich so.
Aber Jesus, mein Leben?
Was ist denn mein Leben?
In den vergangen Tagen der Weihnachtsvorbereitungen.
Habe ich da gelebt?
Wurde ich da gelebt?
Im vergangen Jahr, das Wünsche brachte und Träume, aber auch Enttäuschungen und Scheitern. Abschiede und Neubeginn.

Nun stehe ich an Deiner Krippen hier. Du, Jesus, mein Leben.
Mein Leben. Ich muss es nur ergreifen.
Traue ich mich?
Alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis – hier in der Krippe.
Greife ich zu?
Hier vor der Krippe – oder greife ich anderswo zu?

Aber was, wenn ich zugreife und dann später – vielleicht zu spät? – feststelle, da nicht Leben war, was ich für Leben gehalten habe? Wenn ich mich täuschen lasse von so vielem, was mir immer wieder als Leben vorgegaukelt wird...

Es gibt ja so viele, die vorgeben zu wissen, was im Leben wichtig ist. „Glück ist planbar“ – ein Werbespruch einer Bank vor einiger Zeit. Gut, ich habe ein Bankkonto. Ich habe sogar einen Riester-Vertrag. Aber macht mich das glücklich? Ist Glück nicht ohnehin nur der Augenblick, der meist schon vorbei ist, bevor ich ihn überhaupt bewusst wahrnehme. Bist Du glücklich, während Du jetzt hier sitzt?

Es gibt ja so viele, die vorgeben zu wissen, was im Leben wichtig ist. Karriere, Zukunftsplanung, Gesundheit, Fitness, Schönheit, was weiß ich. Aber kaum habe ich mal erreicht, was man mir als Leben verspricht, da hat die Mode sich geändert, oder ich stelle fest, daß es doch nicht zu mir passt, mich mehr leben lassen von der Diktatur des „man“ als daß ich selber lebe...

Es gibt ja so viele, die vorgeben zu wissen, was im Leben wichtig ist. Ja, auch in der Kirche übrigens. Ich höre sie bildhaft vor mir, wenn man denn in Bildern hören kann, die Moralisten und die Alleswisser und die Heilsegoisten und die Sich-Selbst-für-Gott-Halter, die Gott-besser-als-er-selbst-Verstehe.

Doch andererseits: wenn um mich herum alles im Fluss ist; wenn heute dies und morgen jenes im Leben wichtig scheint, das Leben scheint – bräuchte es da nicht so etwas wie einen festen Anker, an dem ich mich halten kann inmitten der Stürme des Lebens und dem Wabern des Zeitgeistes?
Was ist mein einziger Trost im Leben und im Sterben? Was hält, wenn alles fällt? Was bleibt? Was könnte mich sagen lassen:

Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O daß mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, daß ich Dich möchte fassen.

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Ein Mann im Namen des Paulus an die Gemeinde in Kolossä. Gut, in manchen Dingen ein arg moralisches Schreiben, das äußerliches Verhalten mit dem rechten Glauben zu verwechseln droht. Ein Schreiben, das gesellschaftliche Ungerechtigkeitsstrukturen eher zementiert als daß es sie in Frage stellt. Aber zugleich auch: Ein kämpferisches Schreiben.

8Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt und nicht auf Christus.

Der Streit der vielen Lebens-Versprechungen – schon damals also. Der Wettbewerb der Weltanschauungen – schon damals. Und schon damals wahrscheinlich schon viele Menschen, die suchend und fragend, tastend und zweifelnd, mal begeistert, mal enttäuscht das Leben suchten und das, was wirklich trägt – im Leben und im Tod sozusagen.

6Wie ihr nun Christus Jesus, den Herrn, angenommen habt, so lebt nun auch in ihm: 7verwurzelt in ihm und aufgebaut auf diesem Fundament, gefestigt im Glauben, so wie ihr unterrichtet worden seid, und voller Dankbarkeit. (Zürcher Übersetzung)

Wie gerne wäre ich das doch: fest verwurzelt. Was fest verwurzelt ist, das kann ja so leicht nichts ausreißen. Was fest verwurzelt ist, das kann sicher gegründet in den Himmel wachsen. Naja, in den Himmel vielleicht nicht gerade, aber es kann wachsen und blühen und selbst in Sturm und Hagel und Regen und Schnee geht es nicht unter. Es mag das ein oder andere Blatt ausreißen. Es mag der ein oder andere Ast abknicken. Es mag braun und unansehnlich werden. Aber es hat Kraft. Es wird wieder wachsen. Es wird wieder blühen.

Und nun spricht der Autor des Kolosserbriefes mich einfach so als jemanden an, der Christus angenommen hat. Woher weiß er das eigentlich? Woher weiß er, daß jene, die seine Worte damals gelesen haben, Christus angenommen haben? Er weiß es natürlich nicht. Aber er geht davon aus. Er stellt es nicht in Frage. Er spricht Gemeinde als Gemeinde Christi an. Er spricht den Zweifelnden als Glaubenden an; den Fragenden als Vertrauenden, den Verzagten als Hoffenden, den Fremden als Bruder oder Schwester in Christus. Ach, gingen wir doch auch in unserer Kirche so miteinander um. Unterstellten wir doch nicht immer wieder den anderen, sie glaubten nicht richtig, sie vertrautet nicht recht, sondern sähen wir ihn ihnen doch trotz aller Andersheit Schwestern und Brüder. Aber ich schweife ab....

Ich will es wagen, mich auch von den Worten des Kolosserbriefes ansprechen zu lassen. Ich will einfach mal leben „als ob“ ich Christus angenommen hätte, selbst, wenn ich mir da vielleicht manchmal gar nicht so sicher bin. Ich will einfach mal versuchen zu leben oder zumindest doch mein Leben zu sehen, als sei das so, wie es da steht: Ich Jesus Christus den Herrn angenommen. Möchte einfach mal versuchen so zu leben, wie wir es gesungen haben:

Ich komme, bring und schenke Dir, was Du mir hast gegeben. Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin und lass Dir’s wohlgefallen.

Wobei, der Autor des Kolosserbriefes ist schon realistisch: Mit einem einmaligen Annehmen ist es nicht getan. „Christus annehmen“ das heißt ja nicht: Einmal Ja und Amen sagen und dann ist alles gut. Das ist wohl immer wieder auch ein Kampf. Das ist wohl immer wieder auch die Frage, was denn das eigentlich bedeutet, in Christus zu leben, den ich angenommen habe. Das ist wohl immer wieder auch ein Streit zwischen dem Annehmen Christi und dem Annehmen all dessen, was im Leben sonst noch wichtig ist oder wichtig scheint und zumindest für wichtig gehalten wird.

Und schon wieder kommen mir Zweifel. Habe ich Christus angenommen? Natürlich: Ich bin Christ. Ich zahle Kirchensteuer. Ich verdiene sogar meinen Lebensunterhalt damit, daß ich von Jesus Christus erzählen darf.
Andererseits: Hängt denn, was Jesus Christus für mich tut, an meiner Annahme? Wäre dann nicht mein Leben doch wieder auf mich selbst gegründet? Wie kann, was Jesus für mich bedeutet, gegründet sein in meinem Glauben? Was, wenn ich eines Tages nach Unfall oder in Krankheit nicht mehr glauben kann, so wie ich heute glaube. Wenn mein Vertrauen nicht mehr rational ist oder verbalisierbar?

Und vor allem: Was nehme ich da eigentlich an, wenn ich Jesus Christus als Herrn annehme? Heißt Jesus Christus annehmen, daß ich die Bibel für ein vom Himmel gefallenes Buch zu halten habe? Daß ich mir Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts zu eigen machen muß, die ja in der Regel gemeint sind, wenn Menschen heute von der „christlichen“ Moral sprechen? Muß ich mir das Weltbild des ersten nachchristlichen Jahrhunderts zu eigen machen und die Welt verstehen als einen einzigen großen Kampfplatz zwischen Engeln und Dämonen? Damit täte ich mich, das muß ich ganz ehrlich sagen, doch mehr als schwer.

Also lese ich noch ein wenig weiter im Kolosserbrief.
Ich habe Christus angenommen – ok, das will ich mal als Ausgangspunkt nehmen.
Ich soll nun in ihm leben – auch das nehme ich gerne an und frage ja nur, was denn das konkret bedeutet.
Dann ist die Rede von dem Fundament und dem Glauben, in dem ich gefestigt bin, so wie ich in ihm unterrichtet wurde.
Aha, das ist doch schon mal etwas. Es braucht also den Unterricht, es braucht die Lehre vom Glauben, wenn ich in ihm ein festes Fundament haben solle. Das versteht sich ja nicht von selbst! Wie viele Menschen basteln sich ihren Glauben selber zusammen. Wie viele Menschen sagen mir, sie läsen zwar nicht in der Bibel, aber hielten sich natürlich an die zehn Gebote. Manchmal, je nach Tagesform, frage ich dann nach dem ersten.... In der Regel endet so ein Gespräch dann mit der Einigung darauf, daß weder ich noch mein Gesprächspartner bisher jemanden umgebracht haben, was dann – jetzt allerdings nur von meinem Gesprächspartner – aus Indiz hinreichender christlicher Gesinnung akzeptiert wird.
Aber es ist wohl wahr: ich werde kaum den Gott des Alten und des Neuen Testaments anzunehmen und gar zum Fundament meines Lebens zu machen in der Lage sein, wenn ich nicht dort lese, wo mir dieser Gott des Alten und des Neuen Testaments. Ich werde ja schließlich auch kaum Englisch lernen, wenn ich mich standhaft weigere, englische Bücher zu lesen oder mit Engländern zu sprechen; und auch nicht Schwimmen lernen, wenn ich darauf bestehe, nicht nass zu werden...

Aber jetzt bin ich doch neugierig – was ist denn nun der gelehrte Glaube, der mir Fundament sein will und in dem ich dankbar durchs Leben gehen darf, selbst – ja, denn das muß doch schon sein – selbst, wenn mir bestimmt in vielen Situationen gar nicht nach danken zu Mute ist? Noch einmal schlage ich den Kolosserbrief auf:

3In Christus liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis (...) 9In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und in ihm, der das Haupt aller Macht und Gewalt ist, habt ihr teil an dieser Fülle. Mit Christus seid ihr begraben worden in der Taufe, und mit ihm seid ihr auch mitauferweckt worden durch den Glauben an die Kraft Gottes, der ihn von den Toten auferweckt hat. 13Euch, die ihr tot wart in euren Verfehlungen, im unbeschnittenen Zustand eures Fleisches, euch hat er zusammen mit ihm lebendig gemacht, indem er uns alle Verfehlungen vergeben hat. 14Zerrissen hat er den Schuldschein, der aufgrund der Vereinbarungen gegen uns sprach und uns belastete. Er hat ihn aus dem Weg geräumt, indem er ihn ans Kreuz heftete. 15Die Mächte und Gewalten hat er ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt, ja im Triumphzug hat er sie mit sich geführt.

Die Fülle der Gottheit in dem Menschen Jesus! Alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis! Sein Tod – ja, wir können selbst hier vor der Krippe nicht stehen, ohne die Geschichte des kleinen Kindes darin weiter zu denken – sein Tod nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang – umfangen von einem Leben, das Gott selber schenkt, das den Tod nicht mehr vor sich, sondern hinter sich hat. Ein neues Leben, das so anders ist als das, was wir Leben nennen, daß es ewiges Leben genannt zu werden verdient. Ein Leben, an dem wir im Hier und Jetzt schon Anteil haben können. In der Taufe gewissermaßen in den Tod Jesu hinein getauft, so daß wir – nicht erst irgendwann, sondern schon jetzt – Anteil haben können an dem neuen Leben des Auferweckten.

Wie sollte ich ein solches Leben nicht haben wollen!
Ein Leben, an dem ich jetzt schon Anteil haben darf, an der Zukunft, die Gott für unsere Welt bereitet.
Jetzt schon leben, als hätte ich den Tod hinter mir.

Ich lag in tiefster Todesnacht, Du warest meine Sonne, die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und Wonne. O Sonne, die das werte Licht des Glaubens in mir zugericht’, wie schön sind Deine Strahlen!

Jetzt schon ewiges Leben leben. Jetzt schon Reich Gottes leben: Mit dem Blick für die Armen und die Schwachen – weil ich gewiß sein darf, daß genau solch ein Handeln – es ist ja kein anderes als das Handeln Jesu – Zukunft hat, selbst, wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheinen mag.
Jetzt schon hoffen trotz allem, was im Leben und in der Welt immer wieder gegen die Hoffnung spricht.
Wie heißt es so schön in der Lima-Liturgie:

Mitten in Hunger und Krieg
feiern wir, was verheißen ist: Fülle und Frieden.
Mitten in Drangsal und Tyrannei
feiern wir, was verheißen ist: Hilfe und Freiheit.
Mitten in Zweifel und Verzweiflung
feiern wir, was verheißen ist: Glauben und Hoffnung.
Mitten in Furcht und Verrat
feiern wir, was verheißen ist: Freude und Treue.
Mitten in Hass und Tod
feiern wir was verheißen ist: Liebe und Leben.
Mitten in Sünde und Hinfälligkeit
feiern wir, was verheißen ist: Rettung und Neubeginn.
Mitten im Tod, der uns von allen Seiten umgibt,
feiern wir, was verheißen ist
durch den lebendigen Christus.

Ja, genau so leben – jetzt schon. Heute, morgen, jeden Tag. Trotz allem, was sonst beansprucht Leben zu sein. Trotz all dessen, was das Leben mir gibt und was es mir nimmt.
Weihnachtlich leben jeden Tag. Als stünde ich jeden Tag aufs Neue hier vor der Krippe.

Ob alles gut wird damit? Nein, ganz sicher nicht. Vielleicht erlebt sogar die Gottlosigkeit oder die Gottverlassenheit tiefer, wer auf Gott vertraut. Vielleicht zweifelt intensiver, wer glaubt. Vielleicht leidet intensiver, wer um die die Fülle des Lebens weiß.

Und doch möchte ich es wagen, jeden Augenblick im Vetrauen auf den Gott zu leben, der mir Leben in Fülle verspricht - verwurzelt in ihm und aufgebaut auf diesem Fundament, gefestigt im Glauben, so wie ich unterrichtet worden bin und immer wieder neu unterrichtet werde – aus den Schriften des Alten und des Neuen Testamentes, aus den Erzählungen und den Geschichte derer, die vor mir geglaubt haben, die mit mir glauben, die anders glauben als ich – und voller Dankbarkeit.
Dieses Leben, das hier in der Krippe vor mir liegt, das will ich ergreifen – trotz und angesichts allem, was ihm immer wieder entgegensteht oder entgegenzustehen scheint.
Was wäre das für ein Heiliger Abend, der nicht einfach nachher nach dem Gottesdienst zu Ende ginge, sondern weiter hinein in mein, in unser Leben...

Eins aber, hoff ich, wirst Du mir, mein Heiland, nicht versagen: daß ich Dich möge für und für in meinem Herzen tragen. So daß mich doch Dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein Dich und all Deine Freuden!

Amen.
 

Perikope
24.12.2013
2,3-10