Liebe Gemeinde,
„der Nächste bitte“. Sie kennen diesen Satz, aus unendlich vielen Zusammenhängen, beim Arzt, an der Käsetheke am Schalter im Bahnhof, bei der netten Bankangestellten. Und dann gibt es immer wieder einen Moment des Zögerns. Wer ist denn nun der Nächste? Ich meine doch, ich. Oder ist die Dame vielleicht doch vor mir an der Reihe, ich will mich ja nicht vordrängen und mein Recht als Nächster wahrnehmen, wenn ich gar nicht dran bin. Und wenn ich mir sicher bin, dass ich der Nächste bin, dann werde ich das dem Yuppie da auch klar sagen, der schon die Ellbogen ausfährt, als hätte er die Vorfahrt gepachtet. Wer ist der Nächste, darum geht es auch in dem Gespräch Jesus mit dem Schriftgelehrten.
So ein Diskussionsgespräch ist im Judentum – damals wie heute – eine beliebte Sache. Solche Gespräche beginnen mit einer Frage und der Befragte muss dann aus der Schrift und der Tradition Argumente für und gegen finden und das Problem einer Lösung zuführen. Dabei geht es nicht nur um den Erkenntnisgewinn. Wichtig ist nicht zuletzt, wie man antwortet, schlagfertige, einleuchtende Beispiele sind das Salz in der Suppe eines solchen Gesprächs.
So kommt ein Schriftgelehrter zu Jesus als dem berühmten Wanderprediger, der für seine Kunstfertigkeit in solchen Gesprächen bekannt und beliebt ist. Die Frage, die er einleitend stellt, zeigt: Er selbst, der Schriftgelehrte, ist erfahren in der Führung von Streitgesprächen. „Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe.“ Schon die Formulierung der Frage ist voll von theologischen Anspielungen. In moderner Theologie würden wir vielleicht sagen: Die Rechtfertigungslehre ist vorausgesetzt, es ist klar, dass das ewige Leben und die Gnade nur ererbt, von Gott geschenkt wird. Dennoch bleibt die Frage offen – und sie ist in der evangelischen Theologie heute genau wie damals im Judentum eine der drängendsten Fragen und eine der schwierigsten Problemstellungen: Wie verhalten sich eine dogmatische korrekte Rechtfertigungslehre und die Ethik, die Lehre vom rechten Handeln, zueinander? Ein Streitgespräch auf höchstem theologischen Niveau also.
Jesus antwortet mit einer Gegenfrage. Er stellt damit klar, dass er die Reichweite der Frage verstanden hat und die Brisanz ernst nimmt. Ein solches Thema lässt sich nur behandeln, wenn die theologischen Grundlagen klar sind: Schrift und Bekenntnis. Deshalb die Rückfrage: Was sagt die Schrift dazu – und die Zusatzfrage: Was liest du?, genauer übersetzt: Was rezitierst du – wie jeder fromme Jude – jeden Morgen in deinem Glaubensbekenntnis, dem „Höre Israel“?
Der Schriftgelehrte weiß sich hier auf sicherem Grund: Er gibt die richtige Antwort. Gottesliebe und Nächstenliebe, ist doch klar. Jesus verwandelt gleichsam die Steilvorlage: Stimmt, damit ist deine Frage beantwortet, das musst du tun, dann wirst du leben. Ende der theologischen Diskussion.
Aber so lässt der Schriftgelehrte Jesus nicht gehen. Das war einfach. Wo im Konfirmandenunterricht noch der Katechismus gelernt wird, hätte diese Antwort jede und jeder Jugendliche geben können. Das ist Grundwissen. Jetzt wird es erst richtig spannend. Der Schriftgelehrte fragt weiter. Nebenbemerkung: Die Übersetzung im Luthertext „er rechtfertigte sich“ klingt für unsere Ohren ein bisschen wunderlich. Es ist nicht gemeint, dass er sich gleichsam entschuldigt oder – so wurde es auch manchmal gedeutet – seine eigenen Unzulänglichkeiten vertuschen will. Er will die Bedeutsamkeit des Themas weitertreiben: Wenn die Nächstenliebe ein Gesichtspunkt für das Ererben des ewigen Lebens, dann muss doch das doch konkret werden: „Wer ist mein Nächster?“ Was kann redlicherweise von mir erwartet werden, wofür bin ich zuständig und wofür – für wen – nicht. Warum der Schriftgelehrte genau diesen Aspekt herausgreift, erfahren wir nicht. Für das damalige Judentum war die Antwort eigentlich klar: Der Nächste ist jeder, der Mitglied des jüdischen Volkes ist und die anderen sind zwar Mitmenschen, aber sie sind eben nicht „Nächste“ im Sinne des Gesetzes. Vielleicht – wir diskutieren hier ja auf sehr hohem Niveau – spielt der Schriftgelehrte darauf an, dass Jesus den Begriff des „Nächsten“ weiter fasst als der damalige Mainstream. Er heilt den Knecht eines heidnischen Hauptmannes, hilft der Tochter einer phönizischen Frau, predigt neben der Nächsten- auch die Feindesliebe. Auch diese Frage ist also voller Hintergründigkeit.
Und jetzt greift Jesus zu dem sprachlichen Mittel, das er am besten beherrscht: Er erzählt eine Geschichte. Ein Mann – er hat keinen Namen, es ist also nicht eine wirkliche Begebenheit, sondern eine Beispielgeschichte, es könnte jeder und jede sein, die Geschichte spricht von dem, was typisch ist, was menschlich ist. Dieser Mann also geht hinab von Jerusalem nach Jericho, durch felsiges und unwegsames Steppenland. Wenn Sie einmal nach Israel und Palästina kommen und es die Umstände zulassen: Machen Sie sich auf diesen Weg, es lohnt sich, es ist nicht nur eine touristisch ansprechende Wanderung, sondern vor allem eine spirituelle Erfahrung. Diesen Weg gehen Menschen seit Jahrtausenden, es ist ein Weg, der viel mit Gottesbegegnung zu tun hat. Jedenfalls: Der arme Wanderer hat Pech und fällt unter die Räuber, die ihn halbtot liegen lassen. Wer wird ihm helfen? Ich erzähle die Geschichte jetzt nicht nach, wir kennen sie alle, und spekuliere auch nicht darüber, warum Priester und Levit nicht geholfen haben. Die Pointe ist doch die: Der Samariter, der Ausländer, der Fremdling, der eigentlich nach der reinen Lehre nicht als Nächster zu gelten hat, der unternimmt, was nötig ist und hilft. Er fragt nicht nach der theologisch korrekten Antwort, sondern handelt – und ich nehme an, dass der Verwundete hier auch nicht an Dogmatik gedacht hat, sondern froh war, dass und wie ihm geholfen wurde.
Damit hat Jesus die Fragestellung gleichsam umgekehrt: Es geht nicht darum, wer mein Nächster ist – darauf kann man korrekte Antworten geben, die einen wunderbar aus der Verantwortung entlassen, sondern es geht darum: Wie kann ich selbst zum Nächsten werden, wenn Not am Mann oder an der Frau ist? In moderner Theologie ausgedrückt. Die Dogmatik ist wichtig und nützlich, aber sie bleibt womöglich blutleer, wenn Handeln not tut. Das lässt sich am Text zeigen: Das Wort „tun“ kommt im griechischen Text vier mal vor, aber nur im Diskussionsgespräch, wo es sozusagen abstrakt bleibt, in der Geschichte selbst nicht ein einziges Mal, da wird nicht räsoniert, sondern tatkräftig gehandelt. Oder mit Erich Kästner, der auf die berühmte Frage, was das Gute sei, antwortet: Es gibt nichts Gutes – außer man tut es.
Ich finde, liebe Gemeinde, die Geschichte hat eine beängstigende Aktualität. Ein Nebenaspekt ist ja, dass Jesus eine Absage erteilt an die Auffassung, dass der „Nächste“ in einfachen Begrifflichkeiten zu fassen ist. Die Eigenschaft des oder der „Nächsten“ wird eben nicht dadurch definiert, dass ein Mensch die und die Bedingungen erfüllt, demselben Volk angehört, dieselbe Sprache spricht oder denselben Glauben teilt. „Nächster“ wird man durch die Liebe. Und die Beziehung der Liebe braucht zwei Richtungen: Der Nächste ist der Mensch, der voller Liebe und mit Barmherzigkeit das Nötige tut – und der oder die, der Hilfe braucht und sich das Liebeswerk annehmend gefallen lässt.
Die Geschichte müsste heute also so erzählt werden: Menschen gehen weg aus ihrer Heimat und fallen auf ihrem Weg, der ihnen schwer genug fällt, unter Räuber, Schleuser und ähnliche verbrecherische Gestalten. Sie bleiben halbtot und traumatisiert auf der Strecke. Es gibt genug Einrichtungen und Beauftragte, denen sie begegnen. Hilfe wird ihnen nicht zuteil. Das hat verschiedene Gründe: Der eine ist nicht zuständig, manch einer kann nicht, wieder andere wollen nicht. Nicht selten hört man auch die Aussage: Diese Menschen sind selbst schuld, wären sie nicht losgegangen, dann wären sie auch nicht da, wo sie jetzt sind, nicht in der Lage, unter der sie jetzt leiden. Wir haben genug zu tun mit unserer eigenen Not und können nicht die Probleme der ganzen Welt lösen. Und überhaupt: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung: Es gibt Asylgesetze, Sozialgesetzbücher und EU-Richtlinien. Die reine Lehre ist klar. Zum guten Glück gibt es aber auch heute die andere Seite. Menschen tun was nötig ist, ohne nach der Person, ihrer Herkunft und den Hintergründen zu fragen. Sie verbinden Wunden, geben aus dem eigenen Vorrat, was gebraucht wird, Kleidung, Spielsachen und andere Dinge. Öl und Wein, mit denen man im Altertum Wunden wusch, können hier auch übertragen gemeint sein: Gespräche und Zuwendung für die geplagten Seelen, bei der Behandlung von Traumata kann auch schlichtes Dasein ohne große Worte hilfreich sein. Der Wirt in der Erzählung steht dann dafür, dass der Einzelne beim Helfen den Einzelnen nicht alleine ist und sich überfordern muss. Es gibt Netzwerke, die verlässlich sind und tragfähig. Sie unterstützen den Helfenden und sorgen für professionelle Hilfe. Damit sind wir – die biblische Geschichte erzählt an Beispielen von Einzelmenschen – auch bei der gesellschaftlichen Dimension. Was tut die Gesellschaft, was die Kirche, was unsere Kirchengemeinde für die Menschen, die in Syrien und sonstwo unter die Räuber gefallen sind?
Was muss ich, was müssen wir tun, damit wir das ewige Leben ererben? Wer ist mein Nächster? Wer ist der Nächste dem, der unter die Räuber gefallen ist? Spannende theologische Fragen. Jesus antwortet nicht mit theologischen Begriffen, bleibt nicht bei zutreffenden Zitaten stehen, er erzählt eine Geschichte. Und er beendet das theologische wertvolle Gespräch mit den Worten: „Gehe hin und mache es ebenso.“
Amen