Predigt zu Lukas 12, 42-48 von Stefan Kläs
12,42

Predigt zu Lukas 12, 42-48 von Stefan Kläs

Liebe Gemeinde!
  
  Der Monat November mit seinen ernsten Feiertagen, mit der Sitte des Friedhofsbesuchs und des Totengedenkens färbt die herbstlich goldene Stimmung dieser Tage trüb ein.
  Am heutigen Ewigkeitssonntag gedenken wir der Verstorbenen aus unserer Gemeinde. Unsere Gedanken sind bei denen, von denen wir Abschied nehmen mussten. Erinnerungen steigen auf, die uns mit Menschen verbinden, Erinnerungen an schwere Zeiten und traurige Momente, aber auch Erinnerungen an glückliche Augenblicke und schöne Zeiten. Beides gehört zum heutigen Tag. In diesem Gottesdienst treten wir mit all’ diesen Gedanken und mit dem manchmal schwer entwirrbaren Durcheinander von Gefühlen vor Gott.
  Der Ewigkeitssonntag erinnert uns aber auch daran, dass wir selbst einmal sterben müssen. Ein „Memento mori“, eine Erinnerung an unsere eigene Sterblichkeit ist dieser Tag. Und so brauchen wir beides: Trost angesichts des Todes lieber Menschen und Weisung für uns selbst, die wir noch leben.
  
  „Seid auch ihr bereit“, so lautet die Weisung Jesu an seine Jünger. Doch für wen sollen wir uns bereiten? Nicht einfach für den Tod. In der Gleichniserzählung aus dem Lukasevangelium wird unser „Memento mori“, die Erinnerung an unsere eigene Sterblichkeit, in eine neue Richtung gelenkt: „Der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr’s nicht meint“ (Lk 12,40). Damit gibt Jesus uns zugleich einen Schlüssel für das Gleichnis, das der Evangelist Lukas erzählt:
  
  42 Der Herr aber sprach: Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Leute setzt, damit er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht? 43 Selig ist der Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, das tun sieht. 44 Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über alle seine Güter setzen. 45 Wenn aber jener Knecht in seinem Herzen sagt: Mein Herr kommt noch lange nicht, und fängt an, die Knechte und Mägde zu schlagen, auch zu essen und zu trinken und sich voll zu saufen, 46 dann wird der Herr dieses Knechtes kommen an einem Tage, an dem er's nicht erwartet, und zu einer Stunde, die er nicht kennt, und wird ihn in Stücke hauen lassen und wird ihm sein Teil geben bei den Ungläubigen.47 Der Knecht aber, der den Willen seines Herrn kennt, hat aber nichts vorbereitet noch nach seinem Willen getan, der wird viel Schläge erleiden müssen. 48 Wer ihn aber nicht kennt und getan hat, was Schläge verdient, wird wenig Schläge erleiden. Denn wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern.
  
  „Seid auch bereit“, damit bereitet Jesus seine Jüngerinnen und Jünger nicht einfach auf den Tod vor, sondern auf das Kommen des Menschensohns. An einem Tag wie heute, da wir unserer Verstorbenen gedenken, da wir auch über unsere eigene Sterblichkeit nachdenken, irritiert mich Jesu Gleichniserzählung zunächst einmal. Denn es geht in ihr vordergründig weder um unsere Verstorbenen noch um unser eigenes Ende. Fast scheint es mir, als wolle da jemand unter der Hand das Thema wechseln. Doch ich will mich auf diesen Perspektivwechsel einlassen und folge der Spur des Menschensohns und frage: Was hilft uns der Menschensohn angesichts unserer Trauer und unserer Angst?
  
  Der Menschensohn, das ist Jesus Christus selbst. Jesus Christus, der gelebt hat und gestorben ist, den Gott von den Toten auferweckt hat und der nun in neuer Gestalt, im Geist, wirksam und mächtig unter uns ist.
  Der Menschensohn, das ist Jesus Christus selbst, der immer wieder in Erscheinung tritt, der uns zu seiner Gemeinde erwählt hat, der uns ruft und in die Welt sendet.
  Der Menschensohn, das ist Jesus Christus selbst, der am Ende der Zeit für alle Menschen sichtbar in Erscheinung tritt als derjenige, der dem Tod schon längst die Macht genommen hat.
  
  „Seid auch ihr bereit!“ Mit dieser Weisung reißt Jesus unseren Horizont auf. Unseren Horizont, der durch den Tod geliebter Menschen und durch unseren eigenen Tod verschlossen war. Es kommt der Menschensohn, nicht einfach nur das Ende. Wer den Menschensohn erwartet, der gewinnt einen neuen Blick auf die Zeit, die uns noch bleibt. Es ist Zeit, die wir im Vertrauen auf Gott und in der Nachfolge Jesu Christi leben und wirken dürfen.
  
  Für mich ist dieses Vertrauen eine Quelle, aus der ich Kraft schöpfe. Kraft für die zahlreichen Abschiede, von denen unser Leben durchdrungen ist. Kraft, mich den Abschieden im eigenen Leben bewusst zu stellen, um frei zu werden für Neues.
  Wir werden geboren, verbringen die Jahre der Kindheit und Jugend, werden erwachsen. Als erwachsene Frauen und Männer gestalten wir unser Leben, reifen, werden stark, erreichen den Höhepunkt unserer Lebensmöglichkeiten. Im Alter werden unsere Möglichkeiten weniger, bis wir sterbend diese Welt verlassen. Unser Leben ist geprägt von dauerndem Verlassen und Neubeginnen. Ständig müssen wir uns auf Veränderungen einlassen, müssen loslassen und uns neu orientieren. Und in jedem dieser kleinen Abschiede steckt eine Ahnung von dem großen Abschied, der uns allen einmal bevorsteht.
  
  Diese Abschiede bewusst wahrzunehmen, sie zu bejahen und zu gestalten, anstatt sie zu verdrängen, das kann sehr verschiedene Formen annehmen.
  Der vor 20 Jahren verstorbene schweizerische Schriftsteller Max Frisch hatte im Garten seines Ferienhauses im Tessin eine Bank. Auf dieser Bank saß eine von ihm selbst hergestellte Figur, einer Vogelscheuche nicht unähnlich. Diese Figur stellte den Tod dar. Von Zeit zu Zeit nahm Frisch auf dieser Bank Platz und trank mit dem Tod ein Glas Wein.
  Dem einen oder anderen mag das makaber vorkommen, aber es war für diesen Menschen eine Möglichkeit, bewusst zu leben im Angesicht der vielen kleinen und des einen großen Abschieds, die zu unserem Leben gehören.
  Wir brauchen wohl solche Rituale, mit denen wir Lebenskunst auch angesichts des Todes einüben. Es müssen ja nicht gleich derartig originelle Rituale sein wie das Glas Wein mit dem Tod. Vielen Menschen hilft es auch, heute ganz einfach die Gräber ihrer Verstorbenen zu besuchen, Blumen oder Lichter mitzunehmen und noch einmal an die vergangenen Zeiten zu denken.
  
  Dabei dürfen auch die „anderen“ Gefühle, die nicht nur friedvoll und dankbar sind, eine Rolle spielen. Gefühle wie Hass und Verzweiflung, Wut und Anklage oder auch Schuldgefühle. Wir dürfen sie zulassen, vor uns selbst und auch anderen Menschen, denen wir vertrauen. Manchen Menschen hilft es, diese Gefühle einmal auf einen Zettel aufzuschreiben, sie sich von der Seele zu schreiben. Vielleicht behalten sie diesen Zettel, vielleicht werfen sie ihn aber auch anschließend weg oder verbrennen ihn sogar. Das alles sind Möglichkeiten, mit dem Schmerz des Abschieds umzugehen.
  
  „Seid auch ihr bereit!“, so ruft Jesus uns auf, ruft uns zum Vertrauen auf Gott und in seine Nachfolge. Das Gleichnis verschweigt dabei nicht die harte Wahrheit, dass wir die Zeit, die uns bleibt, auch nutzlos verstreichen lassen können. Ja, denen die das tun, wird sogar Strafe angedroht. Diese Seite des Gleichnisses ist mir fremd. Und doch liegt vielleicht auch in diesem Fremden eine Wahrheit.
  Die Wahrheit, dass derjenige, der vor den Abschieden dieses Lebens immer nur flieht, sie immer nur verleugnet, sich selbst keinen Gefallen tut. Wer davonläuft, sich immer nur ablenkt, den treffen die Abschiede unvorbereitet und umso härter.
  
  „Seid auch ihr bereit!“ Vertraut dem Menschensohn, der kommt. Vertraut Gott, dem Schöpfer und Erlöser eures Lebens. Die Kraft dieser Hoffnung wird euch in den Abschieden dieses Leben tragen. Ob wir am Ende unseres Lebens dann Lob empfangen, wie der kluge Verwalter im Gleichnis, das weiß ich nicht. Vielleicht ist das aber gar nicht entscheidend, ob am Ende unseres Lebens eine lobenswerte Bilanz steht. Mir jedenfalls ist wichtiger, dass ich hoffen darf: Da kommt einer, den ich kenne, der mich bei meinem Namen gerufen hat, der mich in den Abschieden meines Lebens schon begleitet hat, der nimmt mich am Ende an.
  
  Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.